Schmidt liest Proust
Samstag, 30. Dezember 2006

Berlin - VI Die Entflohene - Seite 212-234

Ich fand immer, man müßte auf Partys Handouts verteilen, mit den wichtigsten Angaben über sich, damit man schneller herausfinden könnte, welche gemeinsamen Bekannten man hat, oder ob man vielleicht sogar verwandt ist. Gestern hatte ich eine Begegnung der dritten Art, es war wie bei Ionesco, wo zwei Fremde stückchenweise feststellen, daß sie aus derselben Stadt stammen, aus derselben Straße, aus demselben Haus, und schließlich sogar, daß sie Mann und Frau sind. Von jemandem, den ich noch nicht sehr lange kenne, und über dessen Leben ich nur aus ein paar erzählerischen Schnipseln etwas weiß, stellte sich durch Zufall heraus, daß ich sie in Wirklichkeit schon seit Jahren kenne, aber nicht persönlich, sondern nur als einen der Namen, die in dem Haus auf dem Dorf, in dem ich in meiner Kindheit und Jugend so oft wie möglich war, immer noch präsent waren, und wo sie als verloren galt, weil sie seit ihrer Flucht in den Westen nur noch einmal gekommen war. Aber ich hatte die Fotoalben studiert, die bis in die Zeit vor dem 1.Weltkrieg zurückreichten, und ich kannte jeden aus der Familie der Besitzer und aus dem riesigen Kreis von Freunden und Bekannten, die hierher zu Besuch oder in den Ferien kamen. Deshalb kannte ich auch Fotos meiner Bekannten aus den 60er Jahren, und nun stehe ich neben ihr und stelle fest, daß sie die Person von den Fotos ist. Ich hatte ihren Namen sogar in einer Erzählung über dieses Haus verwendet.

Seit es 1918 von der Mutter der Besitzerin gebaut worden war, hat dieses Haus etliche Menschen aus verschiedenen Generationen geprägt. Manche kamen zum ersten mal als Kind zum Aufpäppeln nach dem Krieg, manche über Wandervogelfreundschaften, und viele waren Lieblingsschüler des Hausherrn, der Latein- und Kunstlehrer war. Meine Bekannte ist dort in den 60er Jahren sehr oft gewesen und kannte also die Besitzerin, meine Wahloma, noch als relativ junge Frau. Sie weiß sogar Dinge von ihr, die ich nie erfahren habe. Meine Wahloma hat sich zu jedem, den sie auch noch so kurz gesehen hatte, irgendetwas markantes gemerkt, eine Anekdote oder einen Kinderspruch, der dann immer wieder einmal zitiert wurde, weil sie ein phänomenales Gedächtnis hatte und ganz im erzählen dieser verschiedenen Lebensgeschichten lebte. Sie spann an einer Art Epos über das Haus, das sie immer wieder aktualisierte, natürlich hätte sie nie etwas aufgeschrieben.

Meine Bekannte hat also auch meine Eltern vor meiner Geburt getroffen und könnte mir erzählen, wie sie damals waren, was mich etwas irritiert.

Warum wartet man auf solche zufälligen Begegnungen, statt sie zu forcieren und bewußt Menschen aufzusuchen, die zu Orten gehören, die einem wichtig waren? Herausfinden, wer in der Samariterstraße in unserem Haus gewohnt hat, als ich klein war, vielleicht lebt man in diesen Familien ja auch noch als Geist weiter? Oder nachprüfen, welche Frauen im selben Krankenhauszimmer wie meine Mutter entbunden haben, vielleicht erinnern sie sich noch, wie man geschrien hat, oder was damals geredet wurde? Oder nur die Mädchen besuchen, bei denen man nie den Mund aufgekriegt hat, und sich anhören, wie die Sache auf sie gewirkt hat? Vielleicht würden sie ihren Fehler ja jetzt einsehen? Man könnte eine kleine Monte-Christo-Phantasie ausspinnen.

Die Tante meiner Bekannten hat sich totgesoffen, ich hatte darüber in einem ihrer kleinen Texte gelesen, aber natürlich nicht gewußt, daß es sich um Tante M. handelte, die ich auch als Kind erlebt habe, und deren schwierige Art uns bedrückte, wenn sie anwesend war. Sie war Malerin ohne Talent gewesen und spätestens als sich ihre Tochter nach der Wende erhängt hatte, war sie immer kaputter geworden. Ich habe mal ein schlechtes Gedicht über diese Geschichte geschrieben "Die Leiche meiner Mutter", wobei der Witz die Zweideutigkeit des Satzes war, denn so hatte die Selbstmörderin ihren letzten Willen formuliert. Es ist sogar so, daß wir die Malerin einmal in den 70er Jahren im Zug von Weimar nach Berlin getroffen haben, ich war durch die Waggons gerannt, wie immer auf der Suche nach der Mitropa, da saß Tante M. da, die ich aus L. kannte. Sicher war meine Mutter nicht scharf darauf gewesen, ihr hier zu begegnen und sich dazusetzen zu müssen, aber als Kind durchschaut man die Verhältnisse zwischen den Erwachsenen nicht, für mich war es eine Bekannte, was ich freudig vermeldete. Meine Mutter weiß noch, daß M. damals aus Erfurt kam, wo ihre Schwester, also die Mutter meiner Bekannten, gestorben war. Was sich dort abgespielt hatte, habe ich in einem Text meiner Bekannten gelesen, ich bin also praktisch fast durchs Bild gelaufen. M. hatte mich damals "jedoch" sagen hören und sich gewundert, daß man als Kind so ein Wort benutzte, was mich stolz gemacht hatte.

Wenn man nur etwas kratzt, hat jeder ein Schicksal, hat meine Wahloma immer gesagt, und ihr Haus mit dem großen Garten hat so viele verschiedene Menschen so beeindruckt und angezogen, weil es wie eine Insel wirkte, an der diese menschlichen Dramen abprallten. Dabei hat es in dieser Beziehung auch dort an nichts gefehlt. Wir wußten, daß sie schlimm unter den Russen gelitten haben mußte, aber man fragte nicht danach. Und ihr Mann hat nie erzählt, wo genau er im zweiten Weltkrieg gedient hat, und was er dort machen mußte (außer Andeutungen, wie daß er oft auf Bäumen saß, war er Scharfschütze gewesen?) Daß er nicht darüber sprach, reichte als Hinweis ja schon aus. Das waren Dinge, die man ruhen ließ. Ich fand immer, man darf solche entscheidenden Dinge nicht aussparen, wenn man einen Menschen beschreibt, aber andererseits sind es ja Dinge, die sich der Mensch nicht ausgesucht hat, und vielleicht hat man das Recht, sich mit seinem Schicksal nicht zu identifizieren und nicht damit in Bezug gesetzt werden zu wollen, wie man auch unabhängig von seiner Familie verstanden werden will.

Im letzten Jahr ist meine Wahloma gestorben, eigentlich hatte ich in der Kirche sprechen sollen, aber das habe ich nicht gekonnt. Ich wollte wenigstens eine Art Nachruf schreiben, aber einerseits gab es zuviel zu sagen, andererseits wußte ich zu wenig, und das trage ich seitdem mit mir herum.

Ich hatte immer die Angst, meine Kinder würde, wenn ich sie nicht rechtzeitig bekäme, meine Wahloma und ihr Haus nicht mehr kennenlernen und dadurch würde ihnen etwas Unersetzliches fehlen. Vielleicht müßte man seine Kinder schon kurz nach der eigenen Geburt bekommen, dann könnten sie alles miterleben, was man erlebt, und man müßte es ihnen nicht später mühsam erklären.

Seite 212-234 Die Wandlung seines Ichs zeigt sich darin, daß er der Madame de Guermantes gegenüber zum ersten mal mit einem gewissen Vergnügen von seiner Trauer über Albertines Tod sprechen kann. Das Erlebte wird also langsam zum Text, denn er beginnt auch aller Welt von seinem Kummer zu schreiben und "fortan bedrückte er mich nicht mehr." Aber: "Das Verschwinden meines Leidens und alles dessen, was dazugehörte, ließ mich in einem gewissermaßen verarmten Zustand zurück..."

Die Frage ist, ob man sich alle seine Emotionen so vom Leib schreiben kann. Ich habe mir ja auch schon oft vorgenommen, über bestimmte Beziehungen nicht zu schreiben, um sie nicht in Text zu verwandeln, den man scheinbar beherrscht. Aber beim vorletzten mal war es ein großes Glück, wieder Herr der Angelegenheit zu werden, als ich darüber schreiben konnte. Ich hatte mich der Frau nie so nah gefühlt, wie in der Zeit dieser Arbeit, während sie zum ersten mal richtig eifersüchtig wurde und es dann ja auch zerbrochen ist. Die Arbeit hatte ich im letzten Januar begonnen, wie ein Mönch, nach Verbannung des Fernsehers aus meinem Leben. Ich hatte sozusagen alles auf den Text gesetzt und mich von ihr verabschieden müssen. Umso größer war der Schock, als der Text abgelehnt wurde. Inzwischen erscheint mir diese fast körperliche Krise wegen eines Textes schwer nachzuvollziehen, aber es war, als hätte jemand mit mir Schluß gemacht, ich war am Boden zerstört. Es ist auch nur verdrängt, irgendwen muß ich dafür noch foltern.

"Daß in mir eine alte Geneigtheit zu arbeiten, die verlorene Zeit aufzuholen, ein anderes, überhaupt erst das richtige Leben anzufangen, auch weiterhin bestand, schenkte mir die Illusion, ich sei noch immer genauso jung..." Das richtige Leben noch anzufangen, wann wird man zum ersten mal einsehen, daß man kein anderes Leben führen wird? Aber warum sollte man das je tun, solange man noch einen Tag hat?

Aufs neue gefällt er sich unter Weltleuten, die eigentlich uninteressant sind, und stattet sein Dasein aus "mit einer lebendigen, aber schmarotzerhaft wuchernden menschlichen Flora", die genau wie die vor seiner letzten sozialen Häutung ins Nichts zerfallen wird. Das neue Ich sollte einen anderen Namen tragen als das vorhergehende. Man tauscht es periodisch aus, aber man gibt nur darauf acht "wenn das alte Ich einen großen Kummer in sich eingeschlossen hatte, der einem Fremdkörper gleich uns Schmerzen bereitete und den wir nicht mehr wiederfinden, wenn wir entzückt feststellen, daß wir ein anderer geworden sind, ein anderer, für den das Leiden seines Vorgängers nur mehr das Leiden eines anderen ist, das man mitleidsvoll erwähnt, weil man es selbst nicht mehr verspürt." Man erinnert sich nur noch undeutlich an diese alten Leiden. "Nicht weil die anderen tot sind, läßt unsere Zuneigung zu ihnen nach, sondern weil wir selbst sterben."

Er tändelt ein wenig mit Andrée, im Grunde hat er sie lieber in seiner Nähe, als er eine wieder auferstandene Albertine hätte, "denn Andrée konnte mir mehr Dinge über Albertine sagen, als Albertine mir selbst mitgeteilt haben würde." Und das tut sie auch "während ich sie streichelte". Angeblich habe Albertine sich mit Morel zusammengetan, der ja gerne junge Mädchen verführt, um sie dann fallenzulassen. Er habe solche Mädchen dann an einen sicheren Ort gebracht, sie Albertine überlassen und zugesehen. Sie habe diese in ihren Augen fast schon kriminellen Gelüste nicht beherrschen können, aber Gewissensbisse empfunden und gehofft, durch eine Heirat mit Marcel gerettet zu werden. Selbst das Unglück kommt manchmal zu spät, so auch diese Eröffnung, die ihm jetzt nutzlos erscheint und nur Trostlosigkeit erzeugt. Wobei es immer noch eine unbewiesene Hypothese bleibt, daß Andrée überhaupt die Wahrheit sagt.

Unklares Inventar: - Echte Nattiers.

Verlorene Praxis: - Seine Reitstiefel ablegen und dicke Wollpantoffel anziehen.

  • Ängstlich-schüchterne Hoffnung auf ein Nachleben nach seinem Tode vermittels seiner Tochter setzen.
  • Sich als kleine Tänzerin nach dem Tod seines reichen Gönners Kapital, Liegenschaften und Automobile zunutze machen, aber das Monogramm des ehemaligen Besitzers entfernen lassen.

Selbständig lebensfähige Sentenz: - "Ich habe nichts übrig für die unnützen jungen Leute, diese Narrenzunft, die nur Wichtigtuer und Unruhestifter hervorbringt."

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