Schmidt liest Proust
Sonntag, 3. Dezember 2006

Berlin - V Die Gefangene - Seite 215-236

An der Pinnwand des Sprachenzentrums hing die auf russisch verfaßte Anzeige eines Franzosen, der eine gute und anziehende russische Frau zur Gründung einer Familie sucht. Ob das wirklich die beste Idee ist, sei einmal dahingestellt, aber, wenn ich schon selber kein Glück in der Liebe habe, kann ich ja wenigstens für andere den postillon d'amour spielen, weshalb ich die Anzeige hier veröffentlichen möchte:

"Franzus (goworit po-nemjetzki), ischtschot dobruju, priwljkekatjelnuju ruskuju schenschtschinu dlja sosdanija semi. Tel.: 030-6155709"

So einfach kann es sein, zwei Menschen glücklich zu machen!

Seite 215-236 Wenn Albertine sich gefügiger zeigt, quält ihn wieder der Gedanke, sie an sich gebunden zu fühlen: "Es ist furchtbar, wenn man die Existenz einer anderen Person an sich geheftet sieht wie eine Bombe, die man festhalten muß und nicht fallen lassen darf, ohne damit ein Verbrechen zu begehen." Wollen wir hoffen, daß sie nicht heimlich in seinen Aufzeichnungen liest, die Stelle findet und selbst eine Bombe wirft.

Für die Leichtigkeit, mit der sie lügt, hat er inzwischen Beweise: "Was sie sagte, was sie gestand, trug so sehr den Charakter der Evidenz [..] daß sie dergestalt in die Zwischenräume ihres Daseins Episoden eines anderen Lebens säte..." Ist es Lüge, wenn man selbst daran glaubt?

Der Tod von Swann war zwar angekündigt, dann aber so nebenher vermeldet worden, daß man dachte, es würde noch ausführlicher darauf eingegangen, was dann nicht der Fall war. Man darf ja schon gespannt sein, welche der Figuren das Romanende überleben werden, Eltern, Gilberte, Saint-Loup, Charlus, Albertine, Marcel selbst? Von einem neuen Opfer wird nun berichtet, denn Bergotte ist verstorben, aber nicht einfach so, sondern, wie es sich für einen Künstler gehört, auf exzentrische Weise. Man stirbt ja nur dann richtig, wenn man mit seiner Todesart die bisherig gängigen Interpretationen seines Werks auf den Kopf stellt, wenn man mit der Todesgeste die bisherigen Bewunderer verunsichert und die Feinde zu Bewunderern macht.

Bergotte hat die letzten Jahre großenteils in seiner Wohnung verbracht und nur manchmal viel Geld für kleine Mädchen ausgegeben, weil die Liebe, oder wenigstens das etwas tiefer gehende Vergnügen, auch wenn sie von Enttäuschung gefolgt sind, seine schriftstellerische Tätigkeit vor der Stagnation bewahrt haben. Und die Rechnung geht ja auch ökonomisch auf: "Ich gebe mehr als Multimillionäre für kleine Mädchen aus, aber die Freuden und Enttäuschungen, die sie mir bereiten, ermöglichen mir, ein Buch zu schreiben, das mir Geld einbringt."

Aber er schlief nur noch schlecht, in seinen Alpträumen wischte ihm eine böse Frau das Gesicht mit einem feuchten Lappen ab, oder ein wütender Kutscher stürzte sich auf ihn, zerbiß ihm die Finger und sägte sie ab. "...einige Jahre relativer Besserung hatte er nur dem Umstand verdankt, daß er sich vollkommen auf seine Wohnung beschränkte."

Eine Leihgabe des Museums in Den Haag, das für eine Ausstellung Vermeers "Ansicht von Delft" zur Verfügung gestellt hat, lockt ihn schließlich doch noch einmal aus dem Haus. Ein Kritiker hatte auf dem Bild eine bemerkenswerte "kleine gelbe Mauerecke" erwähnt, die ihm selbst entgangen war. Vor dem Bild stehend bekommt er einen Schwächeanfall, muß sich setzen und rollt schließlich auf den Boden, wo die Museumsaufseher den plötzlich Verstorbenen umstehen.

Verlorene Praxis: - Bei seinem Gegenüber "einen raschen Rückfall in den Zustand der Ungebändigtheit" fürchten.

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