Schmidt liest Proust
Mittwoch, 20. Dezember 2006

Berlin - VI Die Entflohene - Seite 25-46

Niemand dankt es mir, daß ich die Welt durchschaue und deshalb nichts für sie tun könnte, ohne mir dabei lächerlich vorzukommen. Der Humoralpathologie zufolge habe ich zuviel schwarze Galle (melas cholé), vielleicht bräuchte ich aber auch nur mal wieder Sex. Andererseits ist man hinterher meistens traurig, also wozu der Aufwand? Melancholie ist ja auch kein Unfall, sondern die Konsequenz jeder ernsthaften intellektuellen Auseinandersetzung mit unserer Existenz. Eigentlich müßte man als Melancholiker in die Künstlersozialkasse aufgenommen werden. Aber wir haben diesen philosophischen Zustand zur "endogenen psychotischen Depression" degradiert, die "Mönchskrankheit" ist zur Volkskrankheit geworden. Es ist deprimierend zu erfahren, daß man als Melancholiker nichts besonderes mehr ist.

Beunruhigendes stand heute in der Zeitung: Grönland, also ein Land, das so dünn besiedelt ist, daß man ihm kaum mit einem Bombenkrieg drohen können wird, hat angekündigt, verstärkt den Narwal zu jagen. Im Mittelalter hat man Pulver vom Stoßzahn des Narwals (der sich diesem Tier durch die Oberlippe schraubt, bis zu 10 Kg wiegt und 3 Meter lang wird), als Mittel gegen die Melancholie verwendet. Man wußte nicht, wozu der Zahn dem Narwal diente, also lag es nahe anzunehmen, daß er für den Menschen gedacht war. In Renaissance-Schatzkammern wurde er deshalb aufbewahrt, wie auch ein anderes Gegenmittel, der Bezoarstein, eine kugelförmige Mineralisierung unverdauter Fasern im Magen von Wiederkäuern (so etwas hatten wir zuhause in unserem Museumsschrank, ich habe aber nie versucht, daran zu knabbern, mein Fehler, ich wäre eine Art Obelix der Seelenruhe geworden.) Vielleicht hilft gegen Melancholie ja alles, was hinreichend schwer zu beschaffen ist, wie z.B. ein Ticket für das Finale der Champions-League oder Sex mit dieser einen Schauspielerin, die so sexy ist? Solange man weder das, noch eine Dose Narwalzahnpulver auftreiben kann, bietet sich jede Form von fremdem Elend zur Aufheiterung an, z.B. Weltschmerz alternder Menschen in Tschechow-Stücken. Aber Tschechow ist auch nicht ungefährlich, denn, wenn ich ihn lese, befällt mich schnell der Verdacht, daß ich vielleicht nie so etwas Vollkommenes schreiben werde. Mein Talent als Autor reicht gerade dazu, zu erkennen, wieviel besser Tschechow war.

Seite 25-46 Wenn sich der Band so fortsetzt, dann hat er eines der für Außenstende quälendsten Themen zum Inhalt: die endlosen Gedankengänge und Deutungsversuche eines frisch Verlassenen. Die Sache ist gelaufen, will man ihm sagen, laß sie ziehen. Aber in der Phase der Verleugnung wird jede von Albertines Gesten noch einmal genau hin und hergewendet, jedes Wort nach versteckten Untertönen abgeklopft, die darauf deuten könnten, daß sie ihn gar nicht verlassen hat.

Man muß Schritte unternehmen, denn das tröstet, weil kurzzeitig wieder Hoffnung aufkommt. Saint-Loup wird herbeizitiert, der gute Freund. Er soll zu Albertines Tante fahren und ihr die Hochzeit ihrer Nichte mit Marcel in Aussicht stellen. Damit er weiß, von wem die Rede ist, bekommt er ein Foto der Frau gezeigt, die seinen Freund in solch einen erbärmlichen Zustand versetzt hat. "Da er in mir ein höheres Wesen sah, stellte er sich vor, daß ein Geschöpf. dem ich so ergeben war, etwas ganz Außergewöhnliches sein müsse." Da sieht man, wie wenig er von Marcels künstlerischer Programmatik verstanden hat, im Grunde ist die reale Gestalt der Frau ja für diesen so nebensächlich, daß man sich fragt, warum er sie nicht einfach wirklich per Zufall aus dem Telefonbuch ausgewählt hat, um ihr seine Liebe zu schenken, um die es ja eigentlich geht bei der Sache. Saint-Loup kann sich aber für Marcel nur eine Art schönheitsbedingtem Minnedienst vorstellen: "Ich bin ihr böse, daß sie dir Kummer macht, aber man kann sich ja denken, daß ein Wesen wie du, das künstlerisch bis in die Fingerspitzen ist und in allem die Schönheit so leidenschaftlich liebt, vorbestimmt sein muß, mehr als ein anderer zu leiden, wenn sie ihm in einer Frau entgegentritt."

Aber als Saint-Loup das Foto erblickt, ist er sogar noch schockierter, als wir gedacht hätten: "Sein Gesicht drückte eine Bestürzung aus, in der er fast töricht wirkte." Das ist der einzige Hinweis darauf, wie attraktiv Albertine wirklich ist, den wir bis jetzt erhalten haben. Denn bis jetzt kennen wir sie ja nur aus Marcels widersprüchlichen Schilderungen. (Es sei denn, der törichte Gesichtsausdruck bedeutet, daß Saint-Loup in ihr eine seiner Affären wiedererkannt hat, aber wir sind ja hier nicht bei GZSZ, will man hoffen.)

Heißt das, sie ist wirklich häßlich? Jedenfalls verliert das mit der Dauer einer Beziehung ja an Bedeutung: "Die Zeit lag fern, da ich in Balbec ganz klein damit angefangen hatte, angesichts von Albertine mit meinen visuellen Eindrücken Empfindungen des Geschmacks, des Geruchs, der Berührung zu verbinden." Und die zählen. Die Frau ist am Ende eines solchen Prozesses: "...nur der Entstehungskern einer unermeßlichen Konstruktion, die sich über der Ebene meines Herzens erhob."

"Lassen wir die hübschen Frauen den Männern, die über keine Phantasie verfügen!" Hier bietet sich ein doppelter Umkehrschluß an: 1. Sieht man jemanden mit einem überraschend unattraktiven Partner, kann man zu spekulieren beginnen, worin dessen sonstige Qualitäten liegen. Und 2. Sieht man jemanden mit einem überaus attraktiven Partner, kann man schließen, daß er ein oberflächlicher Mensch ohne Phantasie ist.

Nicht einmal die frisch eintreffende Liebeserklärung einer Nichte der Herzogin von Guermantes, des hübschesten jungen Mädchens von Paris, noch dazu einer Adligen, kann ihn aufheitern: "Sobald ich erwacht war und meinen Kummer an der Stelle, an der ich vor dem Einschlafen stehengeblieben war, wieder aufschlug gleich einem vorübergehend zugeklappten Buch, dessen Lektüre mich nun bis zum Abend begleiten würde..." 37 mal klappen wir noch zu...

Verlorene Praxis: - Damit prunken, einer Schönheit zu gebieten.

  • Der geliebten Frau bis zur Stunde, da sie einschläft, das Haar ordnen und wieder lösen.

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