Schmidt liest Proust
Sonntag, 10. Dezember 2006

Berlin - V Die Gefangene - Seite 341-362

Dann steht man auf einer Party direkt neben der Anlage und kämpft mit seiner Stimme gegen die eines absurden Rocksängers an, um jemandem, den das gar nicht interessiert, zu erklären, worüber man schreibt. Immerhin ein Gespräch, eben hatte man sich noch zwischen den Grüppchen hin und herbewegt, wie ein freies Elektron im Metallgitter und sich gefragt, ob es nicht doch besser wäre, heute allein zu sein. In solchen Momenten leidet man darunter, nichts aufschreiben zu können, weil das eigenartig wirken würde. Man müßte, wie die Russen ihre Zigaretten in der Hosentasche drehen, mit den Händen in den Taschen heimlich Notizen machen können.

Eine alte Liebe, wegen der ich hier bin, trifft nach einer Ewigkeit ein, sie hat allerdings jetzt ihr eigenes Sozialleben und man genießt nicht mehr das Privileg, auf Partys als erster begrüßt zu werden. Es kann auch passieren, daß sie mitten im Gespräch die Gläser füllen geht und dann nicht wieder erscheint. Dann findet man sie draußen im Garten im Gespräch mit irgendeinem ihrer Bekannten, und sie zeigt mit dem Finger irgendwohin, wo sie das Glas für einen hingestellt habe.

Es war wie früher mit ihr, man konnte nichts sagen, ohne daß es gewertet wurde, sie hält sich für den einzig wahren Smiths-Fan und macht ein verächtliches Gesicht über Morrisseys Soloplatten. Zu dessen Konzert, für das ich mir Karten besorgt habe, würde sie nie gehen. Früher habe ich mich über diese apodiktischen Urteile immer furchtbar geärgert, zumal, wenn sie Dinge betrafen, die mir wichtig waren. Man muß einfach nicht immer sagen, was man denkt, wenn es den anderen verletzen könnte. Heute kann es mir egal sein, aber es macht einen trotzdem traurig, wenn man sich gefreut hatte, sich nach Monaten wiederzusehen.

Seit Dienstag hatte ich auf einen Anruf gewartet, und es schon damit versucht, das Telefon stundenweise auszuschalten, um wenigstens nicht in jeder Sekunde auf ein Klingeln zu hoffen. Und so stehe ich, die Hand am Telefon, in einem Mädchen-Kinderzimmer mit Pferdebüchern und bunten Mädchengegenständen und erzähle einer Verflossenen eine halbe Stunde, wie es mir geht (und das noch ohne den geschwollenen Knöchel zu erwähnen), worauf es heißt, ich würde nur von mir reden, womit sich meint: das war nie anders. Das sagen mir manche, und es ist etwas dran, aber zum Teil ist es auch ein Mißverständnis. Immerhin nehme ich mir die Kritik immer sehr zu Herzen, auch wenn ich Rückfälle erlebe. Aber ich bin eben so aufgewachsen, in unserer Familie wurde man nie gefragt, wie es einem ging, wer etwas sagen wollte, sagte es einfach, wozu die Umstände? Ein Teil meines Lebens, der jetzt in Berlin wohnt und es nicht schafft, einen Moment lang einfach Verständnis zu haben für einen Angeschlagenen.

Draußen stehe ich in der Rykestraße, enttäuscht, weil es mal wieder nichts gebracht hat, meine Wohnung am Wochenende zu verlassen. Ich erinnere mich, 87 oder 88 zum ersten mal hier gestanden zu haben, eine meiner aus der ferne Angebeteten hatte eine Party in der Wohnung ihrer großen Schwester. Die Gegend war für mich ein einziges Versprechen, ich wohnte ja im Neubauviertel und sah zum ersten Mal eine Wohnung im Prenzlauer Berg. Die Dielen (wir hatten Plastelinoleum mit Holzmaserung) waren weiß gestrichen, es gab ja nur zwei Dielenfarben in der DDR: Schweineblut und (seltener) Weiß. Daß einer der verrückten Nachbarn nachts an der Tür des Mädchens zu scharren pflegte, konnte mich nicht abschrecken, für mich war klar, daß ich so wohnen wollte.

Ich trank damals roten und weißen Sekt, ohne die Wirkung zu kennen. Mir wurde schlecht, ich ging auf die Straße, weil man immer nachts rausgehen wollte, auf Dächer steigen oder allein an bemerkenswerten Punkten der Stadt stehen, um Klarheiten zu gewinnen. Ich setzte mich in den Torbogen der Synagoge, die einen ja immer anzog, weil die jüdische Gemeinde wie so ein Biotop in der DDR wirkte, man wäre gerne selber Jude gewesen, um auch so interessante Bekannte zu haben. Von der Kälte wachte ich wieder auf und ging, da ich natürlich keine Klarheiten gewonnen hatte, wieder zurück in die Wohnung. Die Zukunft war eine einzige Drohung. Am nächsten Morgen (es war Sonntag) mußte ich um 6 aufstehen, weil meine Schule irgendwo im Süden von Berlin eines dieser vormilitärischen Manöver machte, zu denen man erscheinen mußte. Die Lehrerin registrierte mißbilligend, daß ich die grüne ZV-Uniform, die aussah wie Gefängniskleidung, erst vor Ort anzog und nicht schon in der S-Bahn getragen hatte. Leider waren die Gewehre nur aus Holz.

Die von ferne Angebetete soll übrigens gar nicht so uninteressiert gewesen sein, habe ich vor kurzem erfahren. Schade, daß einen die guten Nachrichten immer erst mit 20 Jahren Verspätung erreichen.

Den Vorwurf, ein Egozentriker zu sein, auf der Seele, enttäuscht über die Grobheit einer Ex (ein Teil meines Lebens bleibt doch ein Teil meines Lebens), stand ich auf der Rykestraße (deren heutige, durchrenovierte Erscheinung für mich nur zu ertragen ist, weil ich sie noch vor mir sehe, wie sie früher war), neben dem Elefanten, den meine Tochter so gerne hat, schob das Fahrrad an den beiden nackten Männerskulpturen vorbei ("Ein Papa! Ein Papa!" ruft sie dort immer, und ich werde rot), und bin emotional auf dem Niveau eines 17jährigen, nur daß ich mir den Alkohol inzwischen besser einteilen kann und deshalb immer nüchtern bin. Außerdem ist die Synagoge jetzt nachts bewacht.

Seite 341-362 Noch einmal Betrachtungen über die identitätsstiftende Macht unseres Gedächtnisses. Jener Teil der Welt, der "Zuflucht in unserer Seele" findet, "die durch ihn einen Wertzuwachs erhält", also Gegenstände, Menschen, Häuser, die sich mit unserer Seele vermischen, wo sich alles "in jenen durchscheinenden Alabaster unserer Erinnerungen verwandelt, dessen Farbton wir nicht vermitteln können, da nur wir ihn sehen..." Und sieht man etwas wieder, sieht man eben mindestens zwei Rykestraßen und fragt sich, was realer ist, das, was man sieht, oder das, was man in sich trägt. "...wir selbst aber vermögen diese Dinge in uns nicht ohne eine gewisse Ergriffenheit zu betrachten, wenn wir daran denken, daß ganz und gar von der Existenz unsres Bewußtseins das Weiterleben – noch für eine gewisse Zeit – des Widerscheins längst erloschener Lampen und des Duftes von Weißbuchenhecken abhängig ist, die nie mehr blühen werden." Schon deshalb muß man jeden Menschen achten, weil er der Lebensraum solcher nur noch in ihm lebendigen Wahrnehmungen ist.

Professor Brichot gedenkt auf diese Art des alten Salons der Verdurins, vor ihrem Umzug in die neue Wohnung. Seine Erinnerung an diesen alten Salon setzt dem neuen "in den Augen des Professors eine Schönheit hinzu, die er für einen Spätergekommenen aus sich selbst nicht zu entfalten vermochte." Er sieht ja auch genau, welche Möbelstücke schon damals dabei waren, so daß der neue Salon für ihn durchsetzt ist von Teilen des alten. (So geht mein Vater durch meine Wohnung und interessiert sich eigentlich nur für die Sachen, die noch von ihnen stammen. Aber ich werde einmal genauso sein, das ist mir schon klar.)

Der Abend neigt sich dem Ende zu, der Baron möchte die Unterhaltung aber noch in die Länge ziehen, er gehört zu den Menschen, die, da sie "ihrer Intelligenz keine andere Betätigungsmöglichkeit eröffnen als die der Konversation, das heißt eine nur sehr unvollkommene Betätigung, auch nach in Gesellschaft verbrachten Stunden unbefriedigt bleiben und sich immer begieriger an den erschöpften Zuhörer heften..." Bis der die Gläser füllen geht...

Als Charlus Marcel einen Mantel umlegen will, damit er nicht friert, streift er wieder unter Entschuldigungen Marcels Kinn (das Kinn scheint für ihn ohnehin ein ungeheuer verlockendes Körperteil zu sein) und erzählt, wie er Brichots Vorlesung an der Sorbonne besucht hat: "...ich stoße da auf eine emsige, nachdenkliche Jugend, junge Bürgersöhne, die klüger und gebildeter sind, als es in einem anderen Milieu meine Kameraden waren." So emsig ist die Jugend dort nicht mehr, aber es tut trotzdem gut, sich ab und an noch einmal unter sie zu begeben.

Um mit Albertine wenigstens so lange zusammenzusein, bis er seine Ruhe wiedergefunden hat, faßt Marcel den Plan, jeder Idee mit ihm zu brechen bei ihr zuvorzukommen und selbst so tun, als wolle er mit ihr zu brechen. Die Frage ist nur, warum sie das davon abhalten soll, mit ihm zu brechen?

Fast drängt sich eine neue Rubrik "Verstorben" auf, denn jetzt ist plötzlich auch Elstir tot und wenige Seiten später erfahren wir dasselbe über Madame de Villeparisis. Jeweils ohne jede erzählerische Ausbeute, es sei denn den Effekt der schockierenden Beiläufigkeit, mit der vermeldet wird, daß so alte Bekannte uns plötzlich verlassen haben sollen.

Unklares Inventar: - Die Philosophen von Couture.

  • Leute "von de Art eines Vaquerie oder Meurice".
  • Der von Leverrier entdeckte Planet.

Verlorene Praxis: - Ein Fis spielen, bei dem Enesco, Capet und Thibaut vor Neid erblassen.

  • Bezaubernde, immer wiederkehrende Rückfälle in Einfachheit und Ergebenheit zwischen seine rauschhaften Anfälle von Größen- und Verfolgungswahn schieben.

Erstaunliche Behauptung: - "Ich hatte von meiner Großmutter die Eigenschaft geerbt, in einem Maße, das leicht zu Mangel an Würde hätte führen können, frei von Eigenliebe zu sein."

Katalog kommunikativer Knackpunkte: - Er ließ sich am Flügel nieder "mit lächelndem Brauenrunzeln, einem in die Ferne schweifenden Blick und leichtem Verziehen des Mundes (was alles zusammen er für 'die' Künstlermiene hielt)."

  • "Sowie Brichot angefangen hatte, über den guten oder schlechten Ruf von Männern zu sprechen, hatte Monsieur de Charlus auf seinem Antlitz jene besondere Art von Ungeduld gezeigt, die man bei einem Experten auf medizinischem oder militärischem Gebiet konstatiert, sobald Laien, die nichts davon verstehen, törichte Meinungen über gewisse therapeutische oder strategische Einzelheiten zu äußern sich unterfangen."

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