Schmidt liest Proust
Freitag, 8. Dezember 2006

Berlin - V Die Gefangene - Seite 320-341

Es war mir immer wichtig, von nichts abhängig zu sein, das hat sich mit der Zentralheizung geändert, aber auch die Rolle, die die "Chaussee der Enthusiasten" inzwischen für meine Psychohygiene spielt, ist beunruhigend. Gestern habe ich wieder jede Minute der Show genossen und versucht, mir das Gefühl für die kommende Woche zu merken, in der man wieder ein Einzelkämpfer sein und von Sorgen erdrückt würde. (Ich hätte nie gedacht, daß ich mal sonnabends freiwillig vier Stunden Latein machen würde, um mein seelisches Gleichgewicht zu pflegen. Wenn es die Römer nie gegeben hätte, und ich ihre Sprache nicht lernen könnte, müßte ich Tabletten nehmen.)

Als wir vor 7 Jahren mit der Show angefangen haben, war ich am Freitag danach immer völlig niedergeschlagen. Wenn es gut gewesen war, hatte man Angst, es nie wieder so hinzukriegen, und wenn nur 20 Zuschauer gekommen, und die Texte verpufft waren, fühlte man sich machtlos. Außerdem ging es am Freitag von vorne los, und man wußte nicht, ob einem wieder zwei Texte für die nächste Woche einfallen würden. Inzwischen weiß ich, daß einem immer etwas einfällt, auch wenn man natürlich die meiste Zeit nervös ist und darauf wartet. Meine Klagen über mein Leben sind ja eigentlich ein Mißverständnis, ich vergesse eben immer wieder, daß ich Glück von nichts anderem als vom Schreiben erwarten darf.

Heute bin ich traurig, wenn die Show vorbei ist, und die Zuschauer gehen. Für mich mit meiner behinderten Stimme ist es eine große Erleichterung, durch ein Mikrophon sprechen zu können, ich würde mir das auch im Alltag wünschen, wo ich immer wieder überhört werde. Wenn ich auf dem Alexanderplatz die Republik ausrufen würde, bekäme es niemand mit. Manchmal wird man gefragt, ob es einem nicht peinlich sei, auf der Bühne zu stehen und vorzulesen, dabei ist das eine der wenigen Sachen im Leben, die mir nicht peinlich sind. Es ist viel leichter, als im Café die Kellnerin heranzuwinken, jedenfalls wenn man dafür kein Mikrophon hat. (In "Curb your enthusiasm" stattet Larry David in seinem Restaurant jeden Tisch mit verschieden tönenden Klingeln aus, weil er auch immer nicht gesehen wird von den Kellnern.)

Im Winter wärmt einen auf der Bühne angenehm das Scheinwerferlicht, und man kommt ja sonst kaum noch unter Menschen, weshalb es schade ist, daß man sich nicht mit mehr von ihnen unterhalten kann. Es ist doch absurd, daß so viele Menschen kommen, um so wenigen zuzuhören, wo ich überzeugt bin, daß die Zuschauer viel interessanter sind als wir. Die Aufhebung der Trennung von Bühne und Zuschauerraum ist ja eine Utopie des Theaters, nur daß man das als Zuschauer gar nicht wünscht. Wir haben schon Zuschauer ausgelost und als Ehrengäste auf die Bühne gesetzt, wir haben Zuschauer interviewt, es gibt das Offene Mikrophon, wo man selbst etwas vorlesen kann, wir geben ein Gästebuch herum und gucken an der Kasse jedem ins Gesicht, um zu ergründen, was ihn zu uns treibt. Aber das wird mir irgendwann nicht mehr reichen, und dann werde ich die Zuschauer wirklich von zuhause abholen, wie wir es manchmal im Scherz ankündigen.

Wie lange wird es uns geben? Hoffentlich so lange, bis ich allein zurechtkomme. Aber das Denken in Zyklen ist so tief in einem verankert, daß man bei allem immer schon den Verfall wittert. In Wirklichkeit sind wir ja in meinen Augen immer besser geworden. Aber erfahrungsgemäß hat alles ein Ende, es gibt nun mal keine Sitcom, die nie aufhört. Es ist immer wieder dieselbe Geschichte, die uns die Kulturindustrie erzählt: Jemand fängt auf kleinen Bühnen an, macht sich in den "broke years" einen Namen, erarbeitet sich das Material, von dem er sein Leben lang zehren wird, später kommen größere Projekte, mit der Popularität wächst der Anpassungsdruck, die harten Fans haben sich längst schon verabschiedet. Schließlich zieht er sich zurück und produziert Nachwuchskünstler. Hoffnung macht einem da allein Johannes Heesters.

Seite 320-341 Die von Charlus für Madame Verdurin organisierte musikalische Soirée war für ihn ein Erfolg. Dabei entgeht ihm, daß die von ihm geladenen Gäste, von denen er sich die Verbreitung von Morels Ruhm als Solist erhofft, die Hausherrin, Madame Verdurin, bei der Begrüßung und beim Abschied ignorieren und stattdessen ausschließlich ihm Komplimente machen. Und dann kritisiert er auch noch die "Eiskaffeetassen" der Verdurins, wenn man die im Salon sehe, könnte man "sich vergessen und meinen, man habe sich im Raum getäuscht, sie sehen wie Nachttöpfe aus." Und die Gäste, die er eingeladen hat sind etwas enttäuscht über die Räumlichkeiten und halten sich "in Ermangelung von etwas Besserem an die Bilder von Elstir, vor denen sie in mühsam unterdrücktes, prustendes Lachen ausbrachen."

Charlus gesteht Madame Verdurin gerade noch "die Rolle eines Bindestrichs" bei der "Fusion zwischen Vinteuils Werk und seinem genialen Interpreten" zu. Unvorsichtig und berauscht von seiner gesellschaftlichen Position entfesselt er in Madame Verdurin ein Haßgefühl "das bei ihr nur eine spezielle auf die Gesellschaft im ganzen bezogene Form der Eifersucht war." Denn ihr geht es wie vielen "sie fand für ihren Kummer einzig Trost darin, das Glück der anderen zu zerstören." Schon ist sie entschlossen, Morel und Charlus auseinanderzubringen, indem sie den Geiger zwingt, zwischen Charlus und ihr zu wählen. Sie wird Morel warnen, daß Charlus' Homosexualität für seine Reputation eine ernste Gefahr darstellt (von Polizei ist die Rede). Sie hat eben Beziehungen nicht gern, die ihre Getreuen außerhalb des "kleinen Kreises" unterhalten. Sie hatte ja damals schon Brichot und seine Wäscherin auseinandergebracht, wofür dieser ihr auch noch dankbar ist, obwohl er in der Folge "beinahe völlig erblindet und, wie man behauptete, Morphinist geworden war."

Aus persönlichen Gründen stechen einem die über den Text hinweg immer wieder kolportierten Schicksale Eifersüchtiger besonders ins Herz. Z.B. die von Monsieur d'Argencourt "der sehr eifersüchtig, aber nicht auf der Höhe seiner Manneskraft war..." Er vernachlässigt seine Frau zugunsten einer Dame der Gesellschaft, und umgibt sich mit "ungefährlichen", also homosexuellen Männern, die diese Geliebte zerstreuen ohne ihm gefährlich zu werden. So wird aus dem einstigen Schwulenhasser ein Vorbild an Toleranz.

Wie kommt es eigentlich, daß der bereits vor etlichen Seiten verstorbene Cottard wieder bemüht wird? Ein General bricht auf "nachdem er noch Cottard um einen Rat gebeten" hat. Nur ein Pedant könnte das hier erwähnen.

Verlorene Praxis: - Seinen Fächer zerbrechen, wenn Wagner ausgepfiffen wird.

  • Wissen, daß jeder zufrieden ist, einen Augenblick länger mit einem zu sprechen.

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