Schmidt liest Proust
Dienstag, 5. Dezember 2006

Berlin - V Die Gefangene - Seite 257-278

So! Nach und nach paßt sich der Körper meiner seelischen Misere an. Beim Fußball einen Moment nicht aufgepaßt und umgeknickt, jetzt ist mein linker Knöchel geschwollen, und ich humpele durch die Wohnung wie Jack Nicholson in "Shining". Und das, wo in den nächsten zwei Wochen zwei Großfeldspiele und ein Hallenturnier mit der Autorennationalmannschaft angestanden hätten, da fällt es schon schwer, dem Schicksal keine böse Absicht zu unterstellen. Ich weiß gar nicht, wie ich ohne Fußball und Joggen hinkommen soll, ich kann doch nichts anderes. Vielleicht sieht man mich demnächst auf dem rechten Bein durch den Humboldthain hüpfen (darf man bei den Paralympics eigentlich auch mitmachen, wenn die entsprechende Behinderung nur adaptiert ist?)

Jetzt sitze ich hier und warte auf die Heilung. Wenigstens kann man bei Zerrung, Verstauchung oder Muskelfaserriß ziemlich genau voraussagen, wie lange sie dauern. Und auch die Mittel sind erprobt: hochlegen, kühlen, ruhigstellen. Bei emotionalen Verletzungen sieht das anders aus. Mein Cousin, der in einer psychiatrischen Klinik arbeitet, sagte mir, daß sie viele Durchgangspatienten haben, die nur kurz bei ihnen bleiben, der längste Fall war jemand, den sie jetzt nach zwei Jahren entlassen haben. Sollte ich einfach zwei Jahre in eine Klinik gehen und danach von vorn anfangen?

Der Fuß hätte natürlich auch gebrochen sein können, oder eine Sehne gerissen, dann hätte ich nicht nur Schmerzen beim Auftreten, sondern die ganze Zeit. Deutschland könnte morgen in den Krieg ziehen, und ich würde einen Gestellungsbefehl bekommen. Meine Wohnung könnte brennen, ein Meteorit könnte meinen Computer treffen, bevor ich abgespeichert habe, der Fernsehturm könnte in Westberlin stehen. Ich könnte 20 statt sechs Lipome in den Armen haben und immer noch Jungfrau sein. Ich könnte kein Englisch und "Curb your enthusiasm" nicht sehen können. Ich könnte im Ruhrgebiet geboren sein, hinter einer Autobahnschallschutzmauer, als fünfter Sohn der Betreiber einer Bowling-Bahn.

Man müßte lernen, dankbar zu sein, ohne sich deshalb wie ein Esoteriker zu fühlen.

Seite 257-278 Liegt es daran, daß man anderes im Kopf hat? Der heutige Abschnitt war für mich einer der langweiligsten bisher. Man fühlt sich, wie bei einem Verwandtenbesuch, wo man endlos irgendwelche Geschichten anhören muß, während man in Gedanken ganz woanders ist, was man aber auch niemandem erklären könnte.

Interessant war immerhin, daß nun auch die Untergrundbahn zum ersten Mal erwähnt wurde.

Albertine hat wieder einmal gelogen, sie hatte ja zu den Verdurins gewollt, was ihr von Marcel ausgeredet worden war. Stattdessen ist er selbst dorthin unterwegs, um herauszufinden, warum Albertine dorthin gewollt hatte. Nun erfährt er, daß für heute bei den Verdurins die Tochter Vinteuils und ihre Freundin angekündigt sind, also die zwei jungen Mädchen, wegen denen er schon die ganze Zeit eifersüchtig war. Die Nachricht schockt ihn tatsächlich, "Sie werden ja ganz grün" sagt der Baron.

Nun hat er wieder einen neuen Zweifel an der Tugend Albertines in sich aufgenommen "Bei jedem neuen glaubt man, das Maß sei voll, man könne ihn nicht mehr ertragen, dann aber findet man trotz allem auch noch für ihn einen Platz. Man sagt sich: 'Ich werde mich schon einrichten, man muß ein System finden können, damit man nicht zu sehr leidet, es ist sicherlich gar nicht wahr.'" Trotzdem bleibt der erste Schmerz, auch wenn man versucht, nicht an die Sache zu glauben. Aber wir haben nunmal dieses Herz eingebaut bekommen, das auf alles übersensibel reagiert. "Von unserm Gehirn wollen wir gar nicht reden, denn unser Denken mag während dieser Anfälle zwar unendlich lange mit sich selbst debattieren, es hat keinen größeren Einfluß auf sie als unsere Aufmerksamkeit auf einen Zahnschmerz, der uns namenlos quält."

Die Freunde, die einen womöglich sogar bewundern, leiden, daß einen solche Nichtigkeiten ins Grab bringen: "Aber was können sie dabei tun? Wenn ein Dichter an einer infektiösen Lungenentzündung dahinsiecht, kann man sich dann vorstellen, daß seine Freunde den Pneumokokken erklären, dies sei ein hochbegabter Mann uns sie müßten ihn Heilung finden lassen?" Allerdings sollte man es vielleicht, nur weil es so verrückt klingt, ja doch nicht unversucht lassen, man weiß ja nie. Also, liebe Freunde, erklärt den Influenza-Viren bitte, welche Bedeutung ich für euch habe, und daß sie sich keinen Ruhm erwerben würden, wenn sie einen kranken Mann niedermetzeln.

Dieses elende Hin und Her der Gefühle: "Nachdem die im Trocadéro lauernde Gefahr gebannt war, hatte ich ein Gefühl vollkommenen Friedens verspürt, ich glaubte, ihn für immer wiedergewonnen zu haben." Das ist das eigenartige an diesen beiden Zuständen, daß sie immer absolut auftreten. Als Eifersüchtiger oder Liebeskranker kann man sich, obwohl man es besser weiß, nicht vorstellen, jemals wieder zu gesunden; erlebt man aber einmal einen Moment des Friedens, weil von ihr das richtige Wort kam (oder weil man es im Moment noch nicht so verdreht interpretiert, daß das gut gemeinte wie ein neuer Stachel wirkt) dann meint man, diesen Frieden jetzt sicher zu haben und schüttelt den Kopf, wie man bereit gewesen sein konnte, sein Leben hinzugeben, nur um sich eine Woche Leiden zu ersparen.

Es gibt wieder ein paar Tode aus unserer Roman-Bekanntschaft, einer geht auf Charlus' Konto. Durch Morel hat er kleine Gemeinheiten über die Gräfin Molé in die Zeitungen bringen lassen. "Die junge Frau starb darüber." Auch der Tod der Fürstin Scherbatow wird nebenher erwähnt, allerdings hatte sie die Unhöflichkeit, um sechs Uhr, also vor dem Salon bei den Verdurins zu sterben, weshalb ihr Ableben erst einmal ignoriert wird, um die Stimmung nicht zu gefährden.

Unklares Inventar: - Entrefilets.

Verlorene Praxis: - In jedem Restaurant vom Kellner zärtliche Briefchen von mindestens drei Damen gebracht bekommen.

Katalog kommunikativer Knackpunkte: - "'Aber sicherlich wird er wiederkommen, wir verlangen es einfach, er darf nicht fehlen', erklärte Monsieur de Charlus mit dem autoritativen und verständnislosen Egoismus der Liebenswürdigkeit."

Selbständig lebensfähige Sentenz: - "Da er im übrigen sehr klug war, lag ihm an der Unterhaltung eines ebenfalls klugen Menschen nicht viel..."

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