Schmidt liest Proust
Freitag, 15. Dezember 2006

Berlin - V Die Gefangene - Seite 442-462

Die Kunstgeschichte läßt sich ja wie folgt zusammenfassen: Die Megalithkulturen stellen Steine in die Landschaft, die für Phallusse stehen. Dann bekommen die Steine Köpfe und stehen für Krieger. Dann werden Götter daraus. Dann gibt man sich mehr Mühe und macht den Menschen nach. Bilder bleiben nur erhalten, wenn sie auf Haushaltsgeschirr gemalt werden. Die Römer machen dann noch einmal alles nach, was die anderen schon gemacht haben. Dann beschränkt man sich darauf, vorwiegend Jesus und Maria zu malen. Die individuelle Sicht des Künstlers auf unsere Existenz drückt sich darin aus, welchen Winkel der Oberkörper des Jesuskinds zum Kopf der Maria einnimmt. Die Avantgarde amüsiert sich damit, auch Jesus' Hände leicht anzuwinkeln. Dann malt man wieder Götter, diesmal die antiken. Dann, in Holland, wird statt auf Geschirr zu malen, Geschirr gemalt. Dann kommen Bilder von Naturkatastrophen, Vulkanausbrüchen, Unwettern, Schiffsuntergängen, so eine Art Hollywood im Standbild. Und dann kommt das zwanzigste Jahrhundert, jeder, der eine Idee hat, walzt sie sein Leben lang aus, nur Picasso hat ungefähr fünf Ideen und walzt sie jeweils nur für zehn Jahre aus.

Heute ist die Kunst tot, was in den Galerien angeboten wird, läßt sich nicht mehr von Designermöbeln unterscheiden, die ja auch möglichst keinen Zweck erfüllen, sondern bei Partygästen Fragen aufwerfen sollen. Jede neue Bildsprache erinnert nur an einen Video-Clip, den man noch nicht gesehen hat. Yves Klein hat sein Leben lang Leinwände blau angemalt und behauptet, der Himmel sei sein Meisterwerk, weshalb er über jedes Flugzeug beleidigt war. Das ist natürlich sehr originell und richtig, aber ich halte seine Leistung trotzdem für begrenzt. Die meiste Kunst ist heute ornamental, und je abstoßendere Bilder man malt, umso besser eignen sie sich als Inspiration für die Werbeästhetik.

So dachte ich, bis ich vor zwei Jahren in der großen Sophie-Calle-Ausstellung war und Werke, wie "Countdown to unhappiness" sah. Dazu gehört allerdings immer eine Geschichte: Sophie Calle hatte ein dreimonatiges Stipendium für Japan bekommen. Weil sie gerade frisch verliebt war, wollte sie es nicht annehmen. Sie beschloß, einen möglichst langen Reiseweg zu wählen, um möglichst kurze Zeit in Japan zu verbringen, also nahm sie die transsibirische Eisenbahn. In der Ausstellung sieht man nun ihr Fototagebuch, in dem sie die 90 Tage rückwärts zählt, und jedes Bild ein Stempel schmückt: "90 days to unhappines", "89 days to unhappines", usw. Sie fotografiert die Landschaft, Abteilnachbarn, einmal hat sie auch einfach ein aufgeschlagenes Buch eingerahmt, ihre Reiselektüre von diesem Tag. Dazwischen liest man Briefe an ihren Geliebten. Man merkt, wie sie die Tage immer ungeduldiger zählt. Aber die Aktion heißt nicht umsonst "Countdown to unhappiness", denn einen Tag vor ihrem vereinbarten Treffen in New Dehli, schreibt ihr der Geliebte, daß er nicht kommen wird. Und im Hotel erhält sie einen Anruf, daß er sie verläßt. Deshalb war ihr Reisetagebuch, ohne daß sie es geahnt hätte, ein Countdown ins Unglück gewesen.

Aber sofort schließt sich die nächste Aktion an, der "Countup to happiness". Denn sie bleibt in New Dehli und fotografiert jeden Tag das verwunschene Telefon, über das sie von ihrem Unglück erfahren hat. Neben das tägliche Bild vom Telefon hängt sie einen täglich etwas abgewandelten Bericht über das Erlebnis dieses schmerzhaften Anrufs. Jeden Tag derselbe Bericht, ein bißchen anders, wie man sich solche Dinge eben ständig wiederholt. Dazu protokolliert sie jeden Tag, was ihr ein Fremder von der Straße als seinen größten Schmerz im Leben schildert. Sie zählt die Tage ihres Unglücklichseins, das langsam abnimmt. So, wie die Schrift ihrer Berichte immer blasser wird, bis am Ende nur eine graue Fläche bleibt, wenn sie es überwunden hat und abreisen kann.

Das gleiche hat jeder schon einmal erlebt, eine Reise angetreten zu haben, mit dem unguten Gefühl, daß die Beziehung es vielleicht nicht übersteht. Aber daraus so ein erlösendes Spiel zu machen, darauf ist man nicht gekommen.

Die Ausstellung hat das beste erreicht, was Kunst erreichen kann: daß man selber auch so etwas machen will. Und es gibt keine materiellen Grenzen, man braucht kein Geld, man muß nichts können, man muß nur Ideen haben. Auf dem Nachhauseweg überlegte ich, welche Aktionen ich machen könnte. Man könnte den Passagieren eines U-Bahnwagens ihre Lektüre abkaufen und sie ausstellen. Oder alle zu einer Lesung einladen, bei der sie die Lektüre des jeweils anderen vorlesen. Man könnte aus den Wohnungen seiner Freunde unbemerkt Gegenstände klauen, und daraus ein geheimes Schatzkabinett arrangieren. Man könnte beim Großelterndienst anrufen, und sich als Großvater für ein fremdes Kind verpflichten, denn dafür gibt es doch sicher kein Mindestalter, man ist so alt, wie man sich fühlt. usw.

Auf jeden Fall, dachte ich, muß ich allen, die ich kenne, diese Ausstellung empfehlen, damit sie auch etwas Schönes haben im Leben. In den nächsten Wochen tat ich genau das, mit dem Erfolg, daß niemand meiner Empfehlung folgte. Die Kunst hatte sich anscheinend nachhaltig diskreditiert. Oder meine Empfehlungen waren nichts wert. Ich sprach auch mit einem Bekannten, der selbst freischaffender Künstler war. Er fand Sophie Calle "ganz gut", weil sie die erste gewesen sei, die so etwas gemacht habe, und weil sie dabei geblieben sei. Aber es sei ihm suspekt, wenn sich jemand "so wichtig nehme", sein Privatleben so auszustellen. Ich weiß nicht, ich finde es eher ein Zeichen von sich-wichtig-nehmen, wenn man aus Schrott Objekte schweißt, sie an naive Gemeinden und Städte verkauft und auf diesem Weg öffentlichen Raum besetzt. Das ist doch viel arroganter, als sein Leben zu dokumentieren und jedem die Wahl zu lassen, ob er sich dafür interessieren will oder nicht.

Seite 442-462 "Jedesmal, wenn ich eine Tür gehen hörte, zuckte ich in ganz der Weise zusammen wie meine Großmutter in ihrer Agonie, sobald geläutet wurde." Denn er muß immer befürchten, Albertine könnte ihn verlassen haben. Ach, wäre die Großmutter doch noch am Leben...

Überraschenderweise ist plötzlich von ein paar Blättern zwischen seinen Papieren die Rede "in denen ich eine Erzählung über Swann und die Unmöglichkeit seines Verzichts auf Odette aufgezeichnet hatte." Die Arbeit, an die er sich nie begibt, scheint also nicht mehr ganz ergebnislos gewesen zu sein.

Ebenso überraschend, daß nach Cottard nun auch Elstir aufersteht, um die beiden bei der Innenausstattung einer eventuell zu kaufenden Jacht zu beraten. Man will ja kein Pedant sein, aber so ein gottgleicher Umgang mit dem Romanpersonal verwundert doch etwas.

Und als drittes ist zu bemerken, daß ein kompletter Gedanke aus einer Fußnote auf der gegenüberliegenden Seite im Text auftaucht, was die Fußnote überflüssig macht. Ich hoffe, es gibt darüber schon eine Doktorarbeit.

Etwas für meine Sammlung sinnlosen Wissens, also Wissens, das bei einem nicht mit anderem Wissen vernetzt ist: "Aber antikes Tafelsilber ist – da es in Frankreich zweimal eingeschmolzen wurde, zuerst nach dem Frieden von Utrecht, als der König selbst, dem seine großen Herren darin folgten, das seine opferte, dann 1789 – außerordentlich selten."

Um Albertine "ihre Gefangenschaft" schöner zu gestalten, werden Kleider besorgt, die ihn nun wieder an Venedig erinnern, wohin er ja angeblich ihretwegen nicht reisen kann. Dennoch war sie "nicht mehr die gleiche Albertine, weil sie nicht mehr wie in Balbec unaufhörlich auf ihrem Rad zur Flucht gerüstet schien..." und "weil der Wind des Meeres nicht mehr ihre Kleider schwellte." Jetzt war sie "zu einer beschwerlichen Sklavin geworden, von der ich mich am liebsten frei gemacht hätte."

Noch einmal ein bekanntes Phänomen auf den Punkt gebracht: "Ein Mann setzt alles als Posten in seine Rechnung ein, was er an rühmlichen Zügen aus sich herausstellen kann, um einer Frau zu gefallen; unaufhörlich wechselt er in seiner Kleidung ab, er wacht über seine Miene; die Betreffende aber hat für ihn nicht eine einzige der Aufmerksamkeiten, die er bei einer anderen erlangt, da er sie sich, wiewohl er sie betrügt und in unordentlicher Kleidung und ohne jedes Bemühen, ihr zu gefallen, vor ihr erscheint, auf immer verbunden hat." Meine Nachforschungen in letzter Zeit haben ergeben, daß dieses Prinzip von vielen abgelehnt wird, und daß es als Reife gilt, sich davon emanzipiert zu haben.

Albertine spielt ihm auf dem Pianola Stücke von Vinteuil vor, und er erklärt ihr im Gegenzug das Wesen großer Kunst: "...daß die großen Schriftsteller immer nur ein einziges Werk geschaffen oder vielmehr ein und dieselbe Schönheit, die sie der Welt bringen, gebrochen durch verschiedene Medien, uns vor Augen geführt haben." Wichtigstes Beispiel ist Dostojewski, aber am kurzen Streifzug durch die Brüder Karamasow befremdet mich, daß ich mich an fast nichts mehr erinnere, wozu habe ich das Buch dann überhaupt gelesen? Vielleicht ja nur damit sich mir der Ort, wo ich es gelesen habe, und die Situation, in der ich mich damals befand, so fest einprägen konnten. Ein winziges Zimmer in einem Haus auf dem Dorf, das vom Kachelofen schon fast ausgefüllt wurde, ein Bett, in dem ich als Kind gelegen habe, ewig währendes Winterdunkel, ein alter Wartburg, mit dem ich nur am Wochenende zurück nach Berlin fuhr, so daß meine Freundin sich leichter ihre Zeit zwischen mir und ihrem aktuellen Verehrer einteilen konnte. Das gute war, daß ich nicht an Eifersucht litt, mir wurde eher eine Entscheidung abgenommen. Vielleicht sollte man immer nur Beziehungen mit Menschen führen, die man nicht richtig liebt, dann leidet man weniger unter diesen ja anscheinend unvermeidlichen Dreiecksdramen.

Schließlich wird das Glück über den Geruch nach altem Holz auf den Champs-Elysées erwähnt, und ich frage mich, ob mein Kollege, der neulich auf der Kastanienallee neben mir stehenblieb, um den Geruch nach frischem Holz vor einem Obstgeschäft einzuatmen, diese Geste direkt von Proust übernommen hat.

Unklares Inventar: - Die Silberschmiedemanufaktur von Pont-aux-choux.

  • Theaterdekorationen von Sert, Bakst und Benoist.
  • Dogaresse.

Verlorene Praxis: - Werke über die Silberschmiedekunst und die Echtheitszeichen der alten Ziseleure studieren.

  • Nie so gut aussehen, wie wenn man schwarzen Samt mit Diamanten trägt.
  • Über seine Miene wachen.

Erstaunliche Behauptung: - "Ich bin kein Romancier."

Selbständig lebensfähige Sentenz: - "...wobei ich nicht weiß, ob ich mich nun an seine Häßlichkeit gewöhnt oder seine Schönheit entdeckt hatte."

  • "Komm, kleines Mädchen, ich muß dich erst küssen, weil du dich noch so gut an meine Worte erinnerst; du darfst dann wieder zurück an dein Pianola."

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