Schmidt liest Proust
Freitag, 26. Januar 2007

Berlin - VII Die wiedergefundene Zeit - Seite 407-427

Eisiger Wind blies mir ins Gesicht, der Fahrradweg war glatt und verschneit, meine Bremsen sind abgefahren, und ich hatte die Nacht nach der Chaussee äußerst schlecht geschlafen und das Gefühl, mich beim Kontakt mit soviel Menschen erkältet zu haben. Außerdem trug ich eine Unterhose und eine Trainingshose unter der Jeanshose, zwei Pullover und drei Hemden und Wanderschuhe, was meinen Bewegungen etwas schwerfälliges gab. Ein Vorgeschmack darauf, wie ich eines Tages mit meinen Gelenken zu kämpfen haben und wieviel Willenskraft ich brauchen würde, um auch nur den Arm zu beugen. Es half aber nichts, ich war mit Falko Hennig zum Plakatieren für unsere Weltchronik-Premiere verabredet, wir mußten jede Möglichkeit nutzen, ein ökonomisches Fiasko zu vermeiden. Wegen der vielen Kleidungsschichten hatte ich Mühe, auf dem Klo zu pinkeln. In Outdoor-Läden gibt es ja ein spezielles Beutelchen, mit dem man sich in Schneestürmen erleichtern kann, ohne sich ausziehen zu müssen, daran werde ich beim nächsten mal denken müssen. Die Plakate wogen Zentner, das Klebeband versagte wegen der Kälte, der Wind zerrte das wertvolle Papier in den Schneematsch, und wir hatten keine Videokamera dabei, um diese Clownsnummer zu dokumentieren. Die Tour führte von der Lottumstraße bis zum Kino Babylon, unterwegs überklebten wir rücksichtslos alle fremden Plakate. Falko meinte, wir könnten die überall zu lesende Warnung, bei unbefugtem Kleben verklagt zu werden, ignorieren. Die Werbefirma, die die Flächen bereitstellte, würde es nicht wagen, uns zu verklagen, weil sie dann einen potentiellen Kunden verlieren würden.

Im Babylon trafen wir zufällig Judith Hermann, die dort mit ihrem Sohn zum Kinderkino ging, Berlin war ein Dorf. Sie fragte mich, was ich als nächstes lesen werde, ein Bekannter von ihr hätte nach Proust gar nichts mehr lesen können, und ich sagte, daß ich gerade eine Thomas-Mann-Biographie angefangen hätte, weil es immer so tröstlich sei, sich von Zeit zu Zeit mit dieser Familie zu befassen. Sie selbst fresse sich gerade durch Thomas Manns Romane und sei ganz benebelt, sagte sie, eine schöne Koinzidenz. Wie oft man sich anhören müsse, Thomas Mann sei langweilig, meinte ich. Ja, sagte sie, aber es sei doch auch wieder schön, wenn man ihn ganz für sich habe. Ich hatte mich im Dezember einmal mit ihr getroffen und befürchtet, alle im Café würden uns anstarren, weil sie so berühmt ist. Es nahm aber niemand Notiz von uns, und mir wurde bewußt, daß sie 100 mal berühmter sein kann als ich, sie ist damit immer noch 10000 mal unbekannter als irgendein Serienschauspieler von Pro7. Es ist ein grundlegender Irrtum von Autoren, zu denken, die Welt warte auf ihr nächstes Buch.

Auf dem Rückweg waren viele unserer Plakate schon vom Wind oder von der Konkurrenz zerfetzt worden, hier und da hing noch ein Rest, und man war stolz. Es hat Spaß gemacht, sein Geschick endlich wieder in die eigenen Hände zu nehmen. Wozu habe ich mir damals meine Gesundheit ruiniert, werde ich meinen Kindern einmal sagen, damit ihr mein Erbe mit Füßen tretet?

Auf dem Heimweg fuhr ich am Haus vorbei, in dem meine Tochter wohnt, das ist immer ein seltsames Gefühl. Trotz meiner Kopfschmerzen mußte ich Proust lesen und der Verdacht kam auf, daß das Buch einem je nach eigener Verfassung spannend oder langweilig vorkommt. Vielleicht bin ich unkonzentriert, aber ich habe den Eindruck, daß er auch 40 Seiten vor Schluß noch nicht zu erkennen gibt, es irgendwie eilig zu haben, den Schlußakkord zu setzen. Als hätte er noch weitere 1000 Seiten Platz, ergeht er sich in geschwätzigen Details. Und die zahlreichen Fußnoten fügen dem Text nichts wesentliches hinzu. Als ich endlich am Rechner saß, waren die Kopfschmerzen aber schnell vergessen. Daß man immer noch denkt, man müßte ein Glück jenseits des Schreibens finden, wo man doch schon privilegiert ist, wenn man wenigstens eins im Schreiben hat! Wenn ich nicht arbeite, vergesse ich aber immer, daß ich Autor bin, oder ich kann es mir nicht vorstellen. Solange ich nicht tippe, kann ich keinen Gedanken fassen.

Ich habe so lange Jahre herumgestochert und das, was aufzuschreiben gewesen wäre, nicht gesehen. Und jetzt, wo ich so schreibe, wie ich schreibe, müßte es doch kinderleicht für jeden sein, das einfach nachzumachen. Aber der eigene Stil ist auch ein Gefängnis, man will doch nicht festgelegt sein. Paul Klee ist ja sehr schön, aber er ist eben nur Paul Klee. So, wie man Frauen liebt, die nicht zu einem passen, bewundert man ja auch Bücher, bei denen jeder denken würde, man könne nichts damit anfangen und wünscht sich, genau solche zu schreiben.

Ich wünsche mir eine Zeit, in der ich wieder von der Dusche zum Schreibtisch haste, weil ich keine Zeit verlieren will, so eilig habe ich es, eine neue Sprache zu lernen. Eigentlich muß ich dafür nur in irgendein Land fahren, die Zeitung kaufen und den Gedanken verdrängen, daß das eine Flucht sein könnte, und daß ich nicht mein Leben lang neue Sachen beginnen kann, bevor die alten ausgearbeitet sind. Endlich einmal nach Griechenland, um die Distanz zwischen den Orten aus der Mythologie selbst zu erleben. Und auch noch Griechisch lernen? Das dürfte meine wenig ausgeprägte Begabung für frei über allen Sachthemen schwebenden Party-Smalltalk noch weiter unterminieren. Wer heute noch ein Fremdwort kennt, ist ja schon ein Paria. Alles lesen, alles wissen, alles sehen, ohne zu irgendetwas gezwungen zu sein. Mehr will ich doch gar nicht. (Oder vielleicht doch: ich würde gerne wenigstens versuchsweise mal im Mittelfeld spielen, weil man in der Innenverteidigung immer nur rumsteht und auf gegnerische Konter wartet, bei denen man dann schlecht aussieht.)

Seite 407-427 Ich sagte es schon, der Reiz langer Serien, die unerschöpflichen Möglichkeiten, im Lauf der Jahre jeden mit jedem zu verbändeln. Auf seine alten Tage ist nun der Herzog von Guermantes in Odette verliebt, die ja inzwischen Madame de Forcheville heißt. "Er war nur noch eine Ruine, aber eine großartige, oder eigentlich weniger noch als eine Ruine, eher das romantische Bild eines Felsens im Sturm. Auf allen Seiten von Wogen des Leidens, des Zorns über seine Leiden und der steigenden Flut des Todes, die ihn rings einzuschließen drohte, gepeitscht, bewahrte er auf seinem gleich einem Felsblock verwitterten Gesicht den Stil, den Schnitt, den ich immer bewundert hatte..." Warum diese Fixierung mancher Männer auf Frauen, die "nicht ihr Genre" sind? "Eine Frau, die 'unser Genre' ist, wird selten gefährlich, denn sie will von uns nichts, sie stellt uns zufrieden, verläßt uns schnell und nistet sich nicht in unserem Leben ein..."

Die Synthese der Wege nach Guermantes und nach Méséglise in der Tochter von Gilberte (Swann, Odette...) und Saint-Loup (Charlus, Herzogin von Guermantes...) Vier Seiten braucht Marcel inzwischen, um stichpunktartig seine Beziehung zu den einzelnen Figuren des Buchs, und wie er von der einen zur anderen gelangt ist, zu rekapitulieren. Das schlimme ist, daß ich das alles in einem halben Jahr vergessen haben werde.

Unklares Inventar: - Nacaratfarbene Seide.

  • Vertiko.

Verlorene Praxis: - Als Frau "Tanz und Vergnügen und alles übrige für das hergeben, was einem Mann Vergnügen macht oder ihm auch nur Sorgen erspart, wofern er einen wirklich liebt."

  • Weil man von allem Snobismus frei ist, einen unbekannten Literaten zum Gatten wählen und die Familie so wieder unter das Niveau hinabführen, aus dem sie emporgestiegen war.

Katalog kommunikativer Knackpunkte: - "Ich sah, wie auf dem Gesicht von Madame de Guermantes jene leichte Verzerrung entstand, die andeutet, daß man auf dem Wege der Überlegung etwas, was man soeben gehört hat, mit wenig angenehmen Gedanken in Beziehung setzt."

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