Schmidt liest Proust |
Donnerstag, 28. Dezember 2006
Berlin - VI Die Entflohene - Seite 191-212 jochenheißtschonwer, 28.12.06, 18:07
Daß mir auch immer andere leid tun, wenn ich von ihren Dramen lese, die nichts bedeuten, wenn man die Hintergründe gar nicht kennt. Klausjürgen Wussow, 30 Jahre älter als seine vierte Frau, er lebt wegen Altersschwäche im Altersheim, darf sie zu Weihnachten besuchen, bekommt dort einen Kreislaufkollaps und wird ins Krankenhaus gefahren. Sie will nicht, daß er wieder ganz zu ihr zieht. Sofort bin ich froh, daß ich nicht Schauspieler geworden bin, ein Beruf, der einen zu einem unsausgeglichenen Nervenbündel machen muß. Oder Uschi Obermaier, die mit ihrem Freund in London ist, und natürlich sofort von Mick Jagger aufgegabelt wird, der sie unter den Tisch küßt. Sie geht nur deshalb nicht mit, weil sie Angst hat, ihre Füße würden wegen der neuen Lederstiefel stinken. Weil Mick Jagger es nicht gewohnt ist, auf Widerstand zu stoßen, hakt er nach und bekommt sie natürlich doch noch. Gut, daß ich nicht Rockmusiker geworden bin, dann müßte ich unter dem Fluch leiden, alle Frauen haben zu können, was es unmöglich machen würde, mit einer glücklich zu sein. Und gut, daß ich nicht der Freund eines Groupies bin, und nicht die Macht habe, ihr die Lust auf Eroberungen zu nehmen, sie sammelt ja Prominente wie Hirschgeweihe. Wie gewinnt man die Seelenruhe, diesen Zug als Marotte zu verstehen, liebenswürdig-schrullig, wie jede andere Sammelleidenschaft? Ich muß momentan auch bei jedem Bild von Gogo-Tänzerinnen, Fernsehballett-Damen, Autoshow-Häschen, Ballerinen, Background-Girls, Katalog-Schönheiten an die armen Männer denken, die eine Frau lieben, deren Beruf darin besteht, begehrt zu werden (weshalb sie sie ja begehren.) Nimm die Floristin, oder das schüchterne Mädchen aus der Korrekturabteilung! Oder die Trockenbauerin! Laß die anderen ihre traurigen Exzesse feiern, sie haben nichts anderes und morgen sind sie schon verblüht. Sich fremde Eifersucht auch nur vorzustellen, reizt schon die eigene. Will man denn ein Wesen, das man so an sich gebunden hat, daß es nicht mehr wegläuft, selbst wenn es könnte? Infantile Verfügungsgewalt über die Mutter? Kann die Mutter das Kind vor solchen späteren Qualen bewahren, indem es ihm frühzeitig beibringt, mit Verzicht zu leben? Oder ich lese, daß die Brüder von Tschechow keinen starken Charakter hatten und halbkreative Alkoholiker geworden sind, sofort fühle ich mich angesprochen, dabei ist es ein Essay von Thomas Mann, er kann gar nicht mich meinen. Wer zwingt einen heute eigentlich noch, ein stilles, friedliches, angeregtes Leben von überschaubarem öffentlichen Nutzen einem aus täglicher Depression und Selbstüberforderung geborenen monströsen Werk zu opfern? Sich aus Einsicht, daß man auf dem Gebiet der Liebe und Eifersucht mit Selbsterkenntnis nicht weiterkommt, mit den heimischen Orchideen befassen? Eine Jugendmannschaft trainieren? Seen in Mecklenburg fotografieren? General werden? Ein Weltraumprogramm begründen? Wenn es gegen die Eifersucht helfen würde, den Inhalt dieses Blogs als SMS zu verschicken, ich hätte schon mit tippen begonnen, wenigstens hätte ich dann eine Perspektive. Aber solange man etwas nur tut, weil man sicher ist, daß es hilft, geht es einem noch nicht so schlecht, wie man behauptet. Seite 191-212 Nachdem er den Mut aufgebracht hat, seinen eigenen Artikel im Figaro zu lesen, möchte er gleich mehrere Exemplare davon kaufen lassen, um den Artikel in jedem davon noch einmal zu lesen. Er stellt sich die Leserinnen vor, in deren Schlafzimmer er gern eingedrungen wäre, und die zwar seine Gedanken aus der Zeitung nicht verstehen können (wovon er natürlich ausgeht), aber denen sie zumindest seinen Namen zugetragen hat. Vielleicht kann er auf diesem Weg später auch, wenn er sich aus der Gesellschaft zurückgezogen haben sollte, weiterhin die Aufmerksamkeit seiner Freunde fesseln. Er besucht Madame de Guermantes, um sie zu ihrer Meinung zum Artikel zu fragen und erfährt, daß das Fräulein, von dem er aufgrund einer Namensverwechslung einen Taglang geträumt hatte, in Wirklichkeit noch anders geheißen hatte, nämlich Mademoiselle de Forcheville, und daß sich hinter ihr seine Freundin Gilberte verbirgt, die er seit Jahren nicht gesehen hat! Er hat ihr nachgestellt, ohne sie wiedererkannt zu haben! Was für ein deprimierendes Zeugnis für die Monotonie des Begehrens. Nach Swanns Tod war sie von Odettes neuem Mann adoptiert worden, der sie von ihrem jüdischen Namen erlösen wollte (der sich im übrigen mit englischem w ausspricht, wie wir jetzt erfahren). Und Madame de Guermantes hatte ihre Politik überdacht und Gilberte (die sie, wie auch Odette, ja immer abgelehnt hatte) doch empfangen. Unklares Inventar: - Infusorien. Verlorene Praxis: - Einen Akt der Nächstenliebe vollziehen und eine Prostituierte von der Straße auflesen und sie aus dem Elend der Gosse ziehen.
Selbständig lebensfähige Sentenz: - "Wir besitzen von der Welt nur formlose, fragmentarische Vorstellungen, die wir durch willkürliche Ideenassoziationen vervollständigen, aus denen sich gefährliche Suggestionen ergeben." ... Link |
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