Schmidt liest Proust
Mittwoch, 27. Dezember 2006

Berlin - VI Die Entflohene - Seite 170-191

Ich bin immer beleidigt, aber auch stolz gewesen, von den durch meine Steuern mitfinanzierten deutschen Kulturinstitutionen so umfassend ignoriert zu werden. Ich konnte immer sagen, mich hat noch nie ein Goethe-Institut eingeladen (außer eins), und kein Literaturhaus (außer eins). Aber jetzt ist es passiert, ich soll im Mai nach Sofia. Es war einfach Glück, eine bulgarische Abgesandte war in Berlin unterwegs gewesen und über Umwege zur Chaussee gekommen, Stephan wollte sie gerade abwimmeln, weil er ihr englisch nicht verstand, da kam ich an die Kasse und konnte ihr auseinandersetzen, daß Bulgarien eine Art Seelenlandschaft für mich ist. Ich fand das schon etwas widerlich, so Eigenwerbung zu betreiben, aber ich sagte mir, daß ich zumindest keinen deutschen Autor kenne, der mit einer Einladung dorthin mehr anfangen könnte. Und jetzt steht die Reise fest, und ich habe sofort Angst vor meinen Gefühlen beim Wiedersehen bekommen. Vielleicht lehrt mich das, meine Mutter zu verstehen, die sich standhaft weigert, mit mir ihre ostpreußische Heimatstadt Insterburg zu besuchen.

Während meiner Reisen nach Bulgarien hatte ich immer den Traum, einmal offiziell zu kommen, sozusagen im Triumphzug. Ich ging ja immer zum Aushang des dortigen Goethe-Instituts und sah mir an, wen sie wieder eingeladen hatten. Ich war natürlich stolz darauf, privat hier zu sein, denn als Eingeladener macht man keine Erfahrungen. Aber trotzdem hat es mich gewurmt.

Meine letzte Reise liegt fast vier Jahre zurück, vorher war ich ein paar Jahre lang immer mindestens einen Monat dort gewesen und bin mit Steffka wohl 12000 Km in ihrem Auto durchs Land gefahren (eine Freundin, die ein Auto hat, aber nicht fahren kann erschien mir ideal.) Es war eine gemeine Situation für sie, weil sie nicht wußte, was ich wollte, ich wußte es ja auch nicht, nur daß ich Bulgarien nicht loslassen wollte und in ihr einen einzigartigen Schlüssel zu diesem ungehobenen Schatz besaß. In Biographien anderer Autoren registrierte ich, wenn jemand eine Rumänin geheiratet hatte und in Bukarest lebte, aber ich konnte mich nicht entscheiden, ich wollte auch noch in so viele andere Länder. Trotzdem paukte ich bulgarisch, bis ich die Telefongespräche verstand, die Steffka immer mit ihrer Mutter führte, und in denen sie sich auf ihre witzig-trotzige Art über mich beschwerte. Vor meiner ersten Fahrt hatte ich verzweifelt nach einem Bulgarisch-Wörterbuch gesucht, es gab damals nichts dergleichen zu kaufen, nur in einem Antiquariat ein sehr altes aus der DDR. Der Besitzer erinnerte sich bei der Gelegenheit, vor langen Jahren einmal eine bulgarische Freundin gehabt zu haben. Mir kam das wie ein Menetekel vor: eines Tages stehst du hier, und was du gerade erst im Begriff bist zu erleben, wird eine Ewigkeit her sein.

Inzwischen gucke ich routinemäßig in den Buchhandlungen, und es gibt neue Bulgarien-Führer und sogar das große zweibändige Wörterbuch, alles ist einfacher geworden, aber für mich zu spät. Ich freue mich über jeden bulgarischen Spieler in der Bundesliga und muß gleich ein bißchen für seinen Klub sein (wobei sich diese Sympathie mit anderen überschneidet, ich muß ja auch für die von ostdeutschen Trainern trainierten Mannschaften sein und für die, bei denen Bosnier mitspielen.) Jedesmal kam ich völlig aufgekratzt zurück aus dieser Welt, die mich in eigenartiger Weise an meine sozialistische Kindheit erinnerte, wobei man diese schon erlebt haben mußte, um sie in Bulgarien noch wiederzuentdecken, wo die Gegenwart ganz auf Coca Cola ausgerichtet ist. Aber man hatte dort noch nicht das Geld wie in Ostdeutschland, um die Spuren zu tilgen. Außerdem war da die Sprache, eine Schwester des Russischen, ähnlich und doch ganz anders, was wie bei Familienmitgliedern eine unendliche Faszination ausübt.

Wollte ich Steffka oder ihr Land? Was macht man, wenn man das Land weiterliebt, aber mit der Frau nicht glücklich wirdt? Ich hatte auch immer Angst vor dieser Piroschka-Romantik.

Die lange Trennung hatte mir nie etwas ausgemacht, ich muß sie sehr gequält haben, weil ich natürlich fast nie anrief. Und wenn, dann erzählte ich ihr, daß in einem Reiseführer aus den 50ern gestanden habe, man dürfe sich bei ihnen auf der Straße nicht küssen, was sie aufregte, weil ich die wertvolle Telefonzeit für solchen Unsinn verschwendete. Wir hatten bestimmt nicht den gleichen Humor.

In der U-Bahn bilde ich mir immer ein, Bulgarinnen zu erkennen, wo andere Russinnen sehen wollen. Im Kindergarten holt eine bulgarische Mutter jedes mal gleichzeitig ihr Kind ab, und ich habe mich noch nie getraut, ihr zu sagen, daß ich die Sprache mal ganz gut konnte ("Shyness is nice, but shyness can stop you from doing all the things in life that you'd like to") Bei der Rückkehr von der letzten Reise habe ich im Bus meine Tasche liegenlassen, mit einer mitgebrachten Scherzkakerlake, die aus einer Schachtel sprang (ich hätte den Dieb gerne dabei gesehen), und meiner ersten Digitalkamera. Ob es die Fotos noch irgendwo gibt? Sie sind ja in meinem Gedächtnis, denn wenn ich sie wiedersähe, würde ich mich daran erinnern, aber ich habe keine Möglichkeit, sie aus eigener Kraft hervorzuzaubern.

Bis auf ausufernde Notizen und ein paar satirische Texte habe ich nie etwas zu dieser Passion geschrieben. Wie soll man ein Land in Worte fassen? Zumal, wenn man es immer noch kaum kennt? Ich weiß nicht, ob ich im Mai in Sofia die ganze Zeit zittern werde, oder ob es ein großes Glück sein wird, endlich wieder dort gewesen zu sein. Die Verantwortung, was mich dort faszinierte, in einer meinen Gefühlen würdigen Weise zu kommunizieren, hat mich immer blockiert. Inzwischen hat das Land sich ja auch verändert, und meine Eindrücke liegen z.T. fast 10 Jahre zurück, damals fuhren noch viele Trabants und Wartburgs, die bei uns schon ausgestorben waren.

Und was ist mit Steffka? Die Unsicherheit, ob sie die richtige ist, und ob man einen Fehler macht, nicht zuzuschlagen, bzw. froh sein sollte, überhaupt jemanden wie sie zu bekommen. Aber sie ist auch kein leichter Mensch gewesen, man vergißt die Konflikte und behält die Art, wie sie einen unterhakte. Ich erinnere mich, bei meiner letzten Ankunft war ich in die Wohnung gekommen (ich habe ja immer noch ihren Schlüssel), und sie war übers Wochenende weggefahren. Ich fand alles, wie ich es im Jahr davor verlassen hatte, ihre Anwesenheit in den Dingen. Im Flur standen ihre schrecklichen bläulich-durchsichtigen Strandschuhe, die sie bei unserer letzten Fahrt zum Schwarzen Meer gekauft hatte, daneben ihre anderen Schuhe, die ich noch kannte. Der Anblick dieser Schuhe tat mir weh, weil sie soviel von dem Menschen zu enthalten schienen, der gar nicht hier war.

Wenn ich nicht irgendwann darüber schreibe, bin ich ein Verräter. "Wissend der ungeschriebne Text ist eine Wunde / Aus der das Blut geht das kein Nachruhm stillt", um mal wieder Heiner Müller zu zitieren.

Seite 170-191 Was eine neue Frau ihm alles bieten müßte! Nämlich genau dasselbe wie Albertine: einen trauten Schwesterkuß am Abend, ein zu starkes Parfüm, sie müßte im Spiel ihre Wimpern mit seinen vermischen, ihm Musik von Vinteuil vorspielen und mit ihm über Elstir und die Memoiren Saint-Simons reden. Denn die Erinnerung ist ohnmächtig, "etwas anderes, sogar Besseres zu verlangen als das, was wir besessen haben..." Eine neue Frau weckt in ihm nur das Verlangen nach Albertine, bzw. nicht einmal nach dieser, sondern nach der eigenen Vergangenheit.

Hoffnung kommt nur vom Vergessen, "das ein so gewaltiges Werkzeug der Anpassung an die Wirklichkeit ist..." (Vielleicht verliebe ich mich deshalb immer so heftig, weil ich mich von Anfang an an jedes Detail erinnere, und mich ja sogar dazu zwinge. Gestern gingen wir durch die Samariterstraße, und meine Familie wußte meinen Erinnerungen kaum etwas hinzuzufügen. Und ich würde so gerne noch mehr hervorziehen von der Zeit vor 30 Jahren, einem schattenhaften Bild nachgehen und etwas entdecken, das ich vergessen hatte. Aber je besser man sich an alles, was einem passiert, erinnert, umso mehr leidet man.)

Für ihn kommt aber eine bessere Zeit, in der alles, was mit Albertine in Beziehung stand in ihm "eine Neugierde erzeugte, in der mehr Zauber als Leiden lag." So ging es mir neulich auf dem Weg zum Morrissey-Konzert, weil ich mich vor ein paar Jahren schon darauf eingestellt hatte, die Straße mit den hohen Platanen (leider war es nicht die Bulgarische Straße) mit einem besonderen Zauber zu versehen, denn eine Frau war dorthin gezogen, ich sah mich schon monatelang diesen Weg zu ihr nehmen und dort in einem fremden Berlin übernachten. Es blieb bei einer Nacht, die schon die spätere Zurückweisung enthielt, worauf ich, wie so oft im Leben, mit einem langen Brief reagierte, der natürlich nichts bewegen konnte. Der Schmerz ist vergessen, oder an neuere Erlebnisse weiterdelegiert worden, aber die Gegend ist aufgewertet worden, weil sie für mich eine Geschichte hat. "...denn fast alle meine Erinnerungen an sie befanden sich jetzt in jenem zweiten chemischen Zustand, in welchem sie dem Herzen keine ängstliche Bedrängung mehr, sondern ein Gefühl der Annehmlichkeit bereiten." Was trotzdem bedeuten kann, daß man bei jeder Frau an der Biegung einer Allee stehenbleibt und sich denkt, in ihr eine andere wiederzuerkennen. Und was, wenn sie nicht tot wäre? Würden seine Erinnerungen dann auch jenen zweiten chemischen Zustand annehmen?

Drei Mädchen kommen ihm entgegen, eine davon wirft ihm einen Blick zu, der ihn entflammt. Nun hört er vom Hausmeister, es sei Mademoiselle d'Eporcheville, also das Mädchen, von dem Saint-Loup einmal erzählt hatte, daß sie Stundenhotels aufsuche, und von dem er deshalb geträumt hatte. Sofort sieht er sie als halb die seine an und sein Tag bekommt für ihn eine rasende Dynamik. Er kann sich gar nicht an ihr Gesicht erinnern, ist aber bereits verliebt. Er telegraphiert Saint-Loup, um zu erfahren, ob er sich nicht irrt. Die Antwort: er hat sich im Namen geirrt, das bewußte Fräulein hieß "De l'Orgeville" und ist zur Zeit in der Schweiz.

Etwas anderes erregendes geschieht, denn die Mutter bringt den "Figaro", in dem nun doch Marcels erste Publikation erschienen ist. Und schon ist die Zeitung ein "Wunderbrot", gleichzeitig eines und Zehntausende. Um zu testen, ob der ahnungslose Leser den Artikel überhaupt finden wird, entfaltet er zerstreut die Zeitung und nimmt sogar eine Miene an, als wolle er nur eilig den politischen Teil überfliegen. Nein, kein Zweifel, der Artikel ist zu lang um übersehen zu werden. Seine Gedanken werden also zu dieser Stunde ihren Glanz über soundso viele Leute ergießen, und wenn sie seinen Gedanken nicht folgen können, wird zumindest sein Name mehrfach genannt, was "ihre eigenen Gedanken mit einer Morgenröte tränken würde, die mich selbst mit mehr Kraft und triumphierender Freude erfüllte als jene in unzähliger Wiederholung allen einzelnen aufgehende, die zu gleicher Zeit rosenfingrig an jeglichem Fenster erschien." Aus eigener Erfahrung muß ich dazu sagen: morgen fault der Fisch drin.

Verlorene Praxis: - Wegen eines Bedürfnisses nach kundigeren Liebkosungen wieder nach der anderen Frau verlangen.

  • Als junges Mädchen den schönen Tag mit seiner Blüte schmücken.
  • In der lebhaften Erregung eines von Hoffnung glühenden Menschen eine Depesche aufgeben.
  • Als Mutter dem Sohn erfreuliche Post bringen, aber sein Zimmer verlassen, in dem Wissen, daß er sonst aus Eigenliebe das Vergnügen, das er empfindet, verbergen und dadurch weniger stark erleben würde.
  • Wie eine zähflüssige Substanz philosophische Ironie ausscheiden, mit der man die Wunde seiner verletzten Eigenliebe heilend überzieht.

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