Schmidt liest Proust
Dienstag, 26. Dezember 2006

Berlin - VI Die Entflohene - Seite 149-170

Die Eltern besuchen, seit Jahren mußte man dafür den ICE nehmen, jetzt reicht ein Fahrrad, zumindest für zwei Wochen. Wenn ich heute noch bei ihnen wohnen würde, würde ich wahrscheinlich nie ausziehen, alle Vorteile haben sich verflüchtigt, es bleibt nur die hohe Miete und das Alleinsein am Abend. Der Wechsel von Gesellschaft zum Alleinsein und umgekehrt ist so schwer, jedenfalls, wenn man keinen Fernseher mehr hat, der einen über die Tatsachen hinwegtäuscht. Natürlich ist es verboten, sich über Einsamkeit hinwegzutäuschen, selbst, wenn es einem dann besser geht. Nein, in meiner Welt müssen alle Wunden offengelegt werden, bis man entweder daran zugrunde geht, oder eine Lösung findet.

Wir haben unser altes Haus im Friedrichshain besucht, gegenüber vom Sargkonsum, der so hieß, weil nebenan ein Bestattungsinstitut war. Der kleine Friedhof hinter der Kirche ist jetzt ein Kinderspielplatz, die Toten aus der Nachkriegszeit hatten nur 30 Jahre Liegerecht. Es war anstrengend, und ich wollte eigentlich abends allein sein, nach einem Tag in Gesellschaft, aber sofort taucht wieder das Gespenst einer Junggesellenexistenz vor einem auf, und man fühlt sich wie der Mann der Menge von Poe. Sofort nach Prag fahren und sich drei Wochen in Tschechisch vertiefen? Oder gleich Japan? Aber ich muß erst diesen Text über Irland schreiben. Vielleicht würde ich mich sonst auch gar nicht so nach Gesellschaft sehnen, es sind doch immer unerledigte Aufgaben, die einen so unruhig machen. Nach einer alten Theorie von mir verliebt man sich ja auch nur, weil man sich in einer professionellen Krise befindet, die das emotionale Immunsystem schwächt.

Musik ist im Gegensatz zu Fernsehen in meiner Welt erlaubt, obwohl das inkonsequent ist. Dafür spielt mein CD-Player nur noch ungefähr jede dritte CD, alle anderen scheinen zu dick zu sein, etwas schleift, und er kann sie nicht mehr drehen. Sehr laut "des Visages des Figures" von Noir Désir gehört und nach Jahren eingesehen, daß Frankreich tatsächlich eine Rockgruppe von Rang hat. Dabei fiel mir ein, daß ich 2003, als ich in der Bretagne recherchieren war, überall in der Presse über Bertrand Cantat, den Sänger von Noir Désir, gelesen habe, der gerade seine Freundin umgebracht hatte. Die Geschichte war völlig unglaublich, aber leider wahr. Mit 33 hatte er das erste Kind bekommen, sechs Jahre später, 2002, ist seine Frau zum zweiten Mal schwanger, als er nach einem Konzert Marie Trintignant vorgestellt wird, der damals 40jährigen Schauspielerin. Sie verlieben sich sofort, und kurz darauf, nach der Geburt seiner Tochter, verläßt er Frau und Kinder und geht zu Marie nach Paris, während diese ebenfalls ihren Ehemann und vier zum Teil kleine Kinder verläßt. Ein Jahr später sind sie in Vilnius, wo sie mit ihrer Mutter dreht. Abends sind sie wohl beide ziemlich betrunken und angefixt, sie bekommt eine SMS von ihrem Noch-Ehemann, Cantat ist eifersüchtig, schlägt sie, und bekommt erst am Morgen mit, wie schwer er sie verletzt hat. Er scheitert mit einem Selbstmordversuch, sie stirbt im Krankenhaus an Gehirnverletzungen. Er kommt ins litauische Gefängnis und wird später zu acht Jahren verurteilt. Der Sänger der wichtigsten französischen Band der 90er, die gerade den wichtigsten französischen Musikpreis gewonnen hatte und eine Art nationales Gewissen war. Und nebenbei ein echter Künstler, wenn man nur hört, wie er die 2.Strophe von "Des armes" von Leo Ferré singt, das sie vertont haben, die Stimme wie eine Rasierklinge: "Des armes bleues vomme la terre des qu'il faut se garder au fond de l'âme dans les yeux, dans le coeur, dans les bras d'une femme qu'on garde au fond de soi comme on garde un mystère." Eine französische Bekannte von mir sagte damals, es sei eben eine große Liebe gewesen, als ob das alles erkläre. Aber wie kann man so eine Situation überleben, im Gefängnis zu sitzen, nachdem man als Idol einer Generation im Affekt seine Geliebte erschlagen hat? Und steckt solch eine Geschichte in jeder Liebe, kommt aber nur nicht bei allen zum Ausbruch? Wahrscheinlich sind die Zahlen von Eifersuchtsmorden überraschend hoch und man merkt nur auf, wenn es mal einen Prominenten betrifft.

Seite 149-170 Die Phase der schmerzhaften, unwillkürlichen Assoziationen, die ihn zu Albertine führen, hält immer noch an. Es reicht, daß ein Name in ihm auftaucht, und er ruft "bei mir schmerzliche Reaktionen hervor, die ich nicht mehr für möglich gehalten hatte, so wie bei Sterbenden, wenn schon das Hirn nicht mehr denkt, dennoch ein Glied noch zusammenzuckt, in das man die Nadel senkt." Manchmal reicht eine zwei Substantiven gemeinsame Silbe "...wie ein Elektriker sich mit dem geringfügigsten Körper begnügt, wofern er ein 'guter Leiter' ist – um den Kontakt zwischen Albertine und meinem Herzen herzustellen."

Dann die Träume, in einem plaudert er mit Albertine, während seine Großmutter im Hintergrund des Zimmers auf und ab geht. "Ein Teil ihres Kinns war zerfallen wie verwitterter Marmor..." (in seiner Vorstellung ist er ja am Tod beider schuld, an dem von Albertine, weil sie ohne ihn kein Pferd gehabt hätte.) Er schlägt einen der früher so geschätzten Romane von Bergotte auf, und "meine Augen netzten sich mit Tränen, als endlich das Glück der Verlobten gesichert war." Oder wenn er eine Karte Frankreichs sieht und vermeiden muß, darauf die Touraine anzusehen, Albertines letzten Aufenthaltsort. Der Gipfel dieser Gefühle wäre, wieder in Balbec im selben Bett zu liegen. Um sich abzulenken schlägt er die Zeitung auf, aber weit gefehlt, der Schmerz ist erfinderisch. Vom Wort "Karfreitag" kommt das Gedächtnis auf Golgatha, von dort auf "Calvus mons", und von dort zu Chaumont, wohin Albertine mit Andrée gefahren war, ohne daß Marcel etwas davon gewußt hatte! "Von einem gewissen Alter an sind unsere Erinnerungen derart durcheinandergewirrt, daß die Sache, die man im Sinne hat, oder das Buch, das man liest, ganz dahinter verschwindet. Überallhin hat man etwas von sich ausgestreut, alles ist ergiebig, alles birgt Gefahren in sich, und ebenso kostbare Entdeckungen wie in Pascals Pensées kann man in einer Seifenreklame machen."

Andrée ist zu Besuch und gesteht freimütig ihre Vorliebe für Frauen ein. Er will sie nach Albertine ausfragen, doch dabei "verengte sich immer mehr der Raum, den ich der Unschuld Albertines noch allenfalls zugestehen konnte...", und so gibt er bei seinen Nachfragen "das erstarrte Bild eines Tieres ab, um das ein Vogel mit lähmendem Blick langsam immer engere Kreise zieht, ohne es eilig zu haben, weil er ja sicher ist, wann immer er will, auf sein Opfer niederstoßen zu können...." Um seine Neugier zu befriedigen, möchte er ihr bei Liebkosungen zwischen ihr und Albertines Freundinnen zusehen dürfen, aber jetzt leugnet Andrée (jedenfalls ist er davon überzeugt), und behauptet, Albertine hätte ihre Neigungen nicht geteilt.

Wegen Albertine bleibt er in der Folge auf brünette Mädchen aus dem Kleinbürgertum fixiert. Einmal tut in einer Gegend der Stadt, in die sich Albertine häufig begeben hatte, zwei kleine Wäscherinnen auf. Die beiden liebkosen sich und er hört zum ersten mal einen urtümlichen Laut "der einer Empfindung Ausdruck gibt, die wir selbst nicht kennen." Und solch einen Laut hat der Arme von Albertine anscheinend nie gehört.

Verlorene Praxis: - Einen Zipfel des schweren Schleiers jener verdummenden Gewohnheit aufheben, "die uns unser ganzes Leben hindurch fast das gesamte Universum verbirgt."

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