Schmidt liest Proust |
Montag, 25. Dezember 2006
Berlin - VI Die Entflohene - Seite 129-149 jochenheißtschonwer, 25.12.06, 23:13
Um das Gehirn zu überlisten morgens ein bißchen Latein. Bei römischen Triumphzügen stand auf dem Wagen des gefeierten Feldherrn ein Sklave hinter ihm, der ihm zurief: "Respice post te, hominem te esse memento!" ("Schau dich um und denke daran, daß du ein Mensch bist!" - mit ACI und Imperativ II, nicht schlecht für einen Sklaven...) Das wäre eigentlich mein Traumjob - für den ich mich auch besonders eignen würde-, hinter gefeierten Persönlichkeiten aus dem Kultur- und Geistesleben hergehen und ihnen immer wieder diesen Satz ins Ohr flüstern. Ich weiß, daß ich damit Heiner Müller Schande mache, der das Prinzip Rom angeblich verachtet hat, aber ich mag die Römer, weil man bei ihnen immer wieder auf solche witzigen Institutionen stößt (abgesehen von ihrem sympathischen Sinn für Bequemlichkeit...) Dann meine "Kleine Meise"-Aufnahme gehört und der gefährlichen Rührung über mich selbst gefrönt. Sie habe das immer gehört, wenn es ihr schlecht ging, als sie mich noch nicht persönlich kannte. Leider war ich dann nicht der, von dem sie geträumt hatte. Es ist ein eigenartiges Rollenspiel, wenn man darin die Rolle eines Vierjährigen einnehmen soll. In der Gethsemane-Kirche, wo ich seit Oktober '89 nicht mehr war. Der Organist machte wieder Tempo, sie mögen es nicht, wenn man in den Liedern schwelgen will. Wahrscheinlich führt so ein Organist einen lebenslangen, einsamen Kampf gegen die schrecklich singende Gemeinde. Immerhin haben sie den Mut gehabt, auf "Stille Nacht" zu verzichten, dieses "Katzeklo" der Weihnachtszeit. Unangenehm, daß dauernd von Liebe die Rede war. "...geliebte Menschen können nicht anders als glücklich sein, denn Gott liebt uns." Immerhin nachgedacht über Gottes Versuch, durch seinen Sohn und dessen Leiden zum Menschen zu werden. Das hätte man sich nicht besser ausdenken können. Seitdem denken Künstler, ihr unglücklich sein würde sie den Menschen näher bringen. Darf man aus einer evangelischen in eine katholische Kirche simsen? Mir fiel wieder ein, daß wir als Konfirmanden immer während des Gottesdienstes die schwenkbaren Jackenhaken von den Kirchenbänken abgeschraubt haben und sie den Mädchen zeigten, die sich entsetzt die Hand vor den Mund hielten. Wir schraubten sie natürlich wieder an, wir waren ja Christen. Am Ausgang führen wir einen theologischen Disput, weil angesagt worden war, daß man nur den offiziellen Kollektesammlern Geld geben solle, es hatte wohl schon Betrüger gegeben. Aber wo ist der Unterschied? Als Christ müßte man doch auch einem Betrüger mit Freuden spenden, gerade ihm! Wir feiern in einer Wohnung deren Vormieterin ausgezogen ist, weil ihr Ex-Freund in derselben Straße wohnte, und ihr das zu nah war. Vielleicht nochmal Quartett lesen: "Wir sollten unseren Part von Tigern spielen lassen." Angeblich hat Müller das Stück in einer Villa bei Rom zuende geschrieben, während in den unteren Räumen seine Frau mit einem Mann wohnte, der heftig in sie verliebt war. Vielleicht geht es mir noch zu gut für die wirklich großen Texte. Unter welchen Bedingungen dann wohl "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel" geschrieben wurde? Die hübsche Hauptdarstellerin, schon als Kind bekam man demonstriert, daß die Deutschen höchstens die Könige stellen, immer, wenn sie eine schöne Frau brauchten, wurde die Schauspielerin aus Osteuropa importiert. Sie sieht aus wie Emanuelle Béart und zieht immer so die Oberlippe hoch wie Billy Idol, aber eher aus Schüchternheit. Es war eigentlich nie anders im Leben, die Hübschen sortieren sich am Ende zu den Hübschen. Beim tschechischen Schauspieler, der in allen tschechischen Kinderfilmen dabei war, die Stimme von Kurt Böwe erkannt. Einmal habe ich diesen Schauspieler in einem Kinderfilm gesehen, der gar nicht komisch war, das war sehr enttäuschend, er spielte im 2.Welkrieg. Ein Paket Feldpost war in einen Fluß gefallen und die Kinder lasen sich lachend die Liebesgrüße der armen Soldaten vor, die nie ankommen würden. Weil das Sofa so eng war neben meiner Mutter gesessen und über den Begriff "menschliche Wärme" nachgedacht, und warum sie sich anders anfühlt als Ofenwärme. In der Altenpflege lernt man, daß alten Menschen Berührungen fehlen, die irgendwann aus ihrem Leben verschwinden, ohne daß es jemand bemerkt. Ob ich mir eine Altenpflegerin engagieren sollte? Oder gibt es dafür ein Mindestalter? Aber man ist doch so alt, wie man sich fühlt. Seite 129-149 "Ich versuchte an nichts zu denken, ich griff nach einer Zeitung. Aber die Lektüre dieser Artikel, welche von Leuten verfaßt waren, die niemals echten Schmerz erlebt hatten, was mir unerträglich." Ich bin immer begeistert über üble Nachrede gegen Journalisten, aber ich neige inzwischen doch eher zu der Annahme, daß jeder Mensch echten Schmerz erlebt hat, selbst Rolf Eden, selbst Journalisten. "Im übrigen konnte ich gewöhnlich diese Zeitungen gar nicht einmal lesen, denn die einfache Bewegung des Entfaltens erinnerte mich zugleich daran, daß ich eine ähnliche oft vollzogen hatte, als Albertine noch lebte, und daß sie nicht mehr am Leben war; ich ließ das Blatt sinken und hatte nicht mehr die Kraft es vollends durchzusehen." Ein andermal knotet er sich einen Seidenschal hinten am Hals statt vorne zusammen, was ihn an eine ganze vergessene Spazierfahrt mit Albertine erinnert, wo sie ihm das Tuch so zugeknotet hatte. Ich warte noch darauf, daß er sagt: "Es wurde mir immer schwerer, meine Lungen mit Luft zu füllen, denn das einfache Einatmen der Luft erinnerte mich zugleich daran, daß ich oft geatmet hatte, als Albertine noch lebte, und daß sie nicht mehr am Leben war; ich schloß den Mund, hatte nicht mehr die Kraft ihn zu öffnen und erstickte." Aimé war ja nach Balbec entsandt worden, um Erkundigungen über Albertines mutmaßliche Ausschweifungen in einer Badeanstalt einzuziehen, über die Marcel genaueres wissen will, seit ihm wieder eingefallen ist, daß Albertine bei der Erwähnung ihres Bademantels einmal errötet war. Aimé hatte herausgefunden, daß Albertine sich tatsächlich lange mit Frauen in der Umkleidekabine aufgehalten hat, und nach den Worten der Zeugin hatten sie "dort nicht den Rosenkranz gebetet." Jetzt ist Aimé im Marcels Auftrag in der Touraine, an Albertines letztem Aufenthaltsort, und erfährt von einer kleinen Wäscherin, Albertine habe ihr immer "auf eine ganz besondere Art den Arm gedrückt." Sie habe sich nach dem Baden mit den Wäschermädeln am Ufer im Gras getrocknet, sie "streichelten, kitzelten sich gegenseitig und spielten miteinander." Die Wäscherin bietet Aimé an, mit ihm dasselbe wie mit Mademoiselle Albertine zu machen, und dieser professionelle Ermittler schreckt auch davor nicht zurück, er bringt jedes Opfer, um seinem Auftraggeber die gewünschten Informationen zu liefern. So bekommt er das Mal auf dem Arm der kleinen Wäscherin zu sehen, wo Albertine sie gebissen hat, und er kommt nach eigener Begutachtung ihrer Fähigkeiten zu dem Schluß "diese Kleine ist wirklich geschickt." Wenn Marcel Albertines Geist nun in einer spiritistischen Sitzung noch einmal sprechen könnte, würde er ihr sagen, er habe die Stelle gesehen, wo sie die Wäscherin gebissen habe. Was für eine Verschwendung von Sendezeit! Man spricht einen Verstorbenen noch einmal und macht ihm Vorhaltungen, aber so sind wir Männer. Er geht jetzt so weit, sich zu fragen, "ob das Wiedererstehen meines Schmerzes nicht auf rein pathologischen Ursachen beruhe und ob nicht das, was sich für das erneute Aufleben einer Erinnerung und die letzte Periode einer Liebe hielte, vielmehr der Beginn eines Herzleidens wäre." Selbständig lebensfähige Sentenz: - "Die beiden größten Fehlerquellen in den Beziehungen zu einem anderen Wesen ergeben sich daraus, daß man selbst ein gutes Herz hat oder eben jenes andere Wesen liebt."
... Link |
Online for 8238 days
Last update: 14.08.11, 11:14 Mehr über Jochen Schmidt status
Youre not logged in ... Login
menu
search
calendar
recent updates
Neues Blog
Ein Aufenthalt in Bukarest hat mir Lust gemacht, wieder ein Blog zu beginnen....
by jochenheißtschonwer (14.08.11, 11:14)
Das Buch ist da
Lange war es nur ein Blog, jetzt ist es endlich ein...
by jochenheißtschonwer (28.09.08, 19:19)
Gibt es ein Leben nach
dem Proust? Liebe Blogleser, ich danke jedem einzelnen von Euch...
by jochenheißtschonwer (30.01.07, 21:50)
Berlin - VII Die wiedergefundene
Zeit - Seite 427-447 (Schluß) - Was ham wirn heute...
by jochenheißtschonwer (28.01.07, 16:25)
Berlin - VII Die wiedergefundene
Zeit - Seite 407-427 Eisiger Wind blies mir ins Gesicht,...
by jochenheißtschonwer (27.01.07, 01:37)
Berlin, Warschauer Straße, Firstbase-Internet-Café -
VII Die wiedergefundene Zeit - Seite 387-407 Warum hört man...
by jochenheißtschonwer (25.01.07, 19:02)
|