Schmidt liest Proust
Dienstag, 19. Dezember 2006

Berlin - VI Die Entflohene - Seite 5-25

Mich wieder breitschlagen lassen, Aufträge für Texte anzunehmen, die viel zu wenig Geld einbringen, für die Qualen, die sie mir bereiten, weil sie nichts mit mir zu tun haben. Als fiele mir Schreiben leicht, das Gegenteil ist der Fall, jedenfalls sobald ich nicht weiß, was ich sagen soll, denn dann kann ich nicht mal mehr die Grammatik richtig. Aber die Alternative wäre mehr Zeit für Gedanken an mein ungerechtes Schicksal, dann doch lieber arbeiten.

Bis Freitag muß ich den vierten Teil eines Weihnachtsfortsetzungskrimis für den Tagesspiegel schreiben, schon die Lektüre der von anderen Autoren verfaßten ersten drei Teile hat mich eine Stunde gekostet und ich habe ständig den Faden verloren. Weihnachtskrimis und multiauktoriale (?) Fortsetzungsgeschichten, schlimmer geht es eigentlich gar nicht, könnte man denken, wenn man nicht wüßte, daß es im Text nebenbei um Berlins Schulden gehen soll. Ich glaube, eine Magisterarbeit zu einem beliebigen Thema würde mir leichter fallen, als so etwas. Bis jetzt geht es in der Geschichte um einen Wessi und einen Ossi (Konrad und Kevin, die Namen kann ich wahrscheinlich im vierten Teil nicht mehr ändern, das wäre etwas zu postmodern), die eine "Baut" einführen wollen, eine Zwangszahlung für Berlinbesucher, um die Stadt zu entschulden. Dann engagiert sie ein Scheich, Vater von sechs Töchtern, sie sollen mit in sein Land kommen und dort für Kultur sorgen, aber das Flugzeug wird von Abfangjägern zurückgeholt, weil Berliner nicht mehr verreisen dürfen, die Stadt will ihr Geld zusammenhalten. Die Idee mit der Baut ist plötzlich von anderen umgesetzt worden, denn die BVG, die in Wirklichkeit ein Geheimdienst ist und die Stadt regiert, hat über "Cybertechnologie" die Gedanken aller Berliner Weihnachtsmänner, also auch die von Kevin und Konrad, abgehört. Wer schreibt mir 8000 Zeichen, die das zu einem Schluß führen, dem man meine Unlust nicht anmerkt? Ich bin im Moment bei 100 Zeichen und am Verzweifeln.

Als wäre das nicht schon genug, habe ich heute auch noch, weil ich einfach nicht Nein sagen kann, für Sonnabend 1000 Zeichen für die TAZ zum alljährlichen Thema: "Was kann man zu Weihnachten machen?" zugesagt. Ich würde sagen: sich mit einem Bier vor den Computer setzen, die Festplatte defragmentieren und zusehen, wie sie sich die kleinen Kästchen langsam sortieren. Oder endlich den Text für das Irland-Heft von Merian schreiben, für den sie mir "als Inspiration" (billigen) irischen Whisky, eine Tüte Grassamen, ein Foto von einer Abtei und eine CD mit keltischer Musik geschickt haben. Diesmal nur 5000 Zeichen, bis Ende des Jahres, aber Literatur. Damit ist die alte Situation aus der Schulzeit wieder hergestellt, daß einem die Ferien mit Hausaufgaben verdorben werden, die man am letzten Tag endlich zu machen beginnt, den Blick auf im Schneematsch verrottende Silvesterknaller.

Der Plan ist also: Mittwoch früh Kind zum Kindergarten, Einkaufen, Joggen, Proust lesen, Proust tippen, Steuererklärung vorsortieren, Kind vom Kindergarten holen, Trampolin springen, mit Absicht bei Memory verlieren, Seneca "de clementia" vorbereiten. Donnerstag: Kind zum Kindergarten, Proust lesen, Proust tippen, Zwei Texte für Chaussee schreiben, Latein-Kurs, Auftritt bei Chaussee. Freitag: Proust lesen, Proust tippen, Tagesspiegel-Text abgeben, beim Dans Umzug helfen, Latein für Sonnabend vorbereiten, die eingetroffenen Eltern begrüßen, Text für Taz schreiben. Sonnabend: Text für Taz durchgehen und abgeben, Latein-Kurs, vielleicht essen mit Cornelia, Geschenke für alle kaufen, Proust lesen, Proust tippen, 20 Seiten Proust kopieren und zu Annett Gröschner bringen, die zu Weihnachten einen Gasttag übernehmen will, aber das Buch nicht hat. Tot umfallen, vorher aber noch die Honorare dem Kind vermachen.

Seite 5-25 "Wieviel weiter führt das Leiden in die Psychologie hinein als bloße Psychologie!" Aber Psychologen sind ja auch nicht dafür da, einen zu verstehen, sondern einem zu helfen. Immerhin wird hier wieder ein heimliches Motiv des Romans deutlich: die Sehnsucht des Helden nach einer Leidensinitiation, ohne die er nicht schreiben können wird. Weil er kaum sonstige Probleme hat, wird die Frau eben zum Schicksal.

Er versucht es mit Leugnen, sie wird sowieso zurückkommen, sie will ja nur erreichen, daß er sie heiratet, denkt er. Der Vorgang beweise wieder, wie wenig man sein Herz nur vom Verstand aus durchdringen kann. Gestern dachte er ja noch, ohne Albertine auskommen zu können. Aber der Schmerz belehrt ihn eines besseren. "Bisher hatte ich in ihr vor allem eine zerstörerische Macht gesehen, wie sie alle Originalität und sogar das Bewußtsein von unseren Wahrnehmungen in uns unterdrückt..." Also jemand, wie die Frau von Beethoven in dem einen Monty-Python-Sketch, die in dem Moment, wo ihm das Motiv der 5.Sinfonie einfällt, mit dem Staubsauger ins Zimmer platzt, und hinterher hat er das Motiv vergessen.

Wie eine Selbstmörderin hat Albertine einen Brief hinterlassen, und dieser läßt eigentlich keinen Raum für Zweifel an ihrer Entschlossenheit, aber Marcel denkt immer noch, daß sie nichts von alledem wirklich meint. Er wird die Heirat anstrengen, er wird ihr noch heute morgen eine Jacht und einen Rolls Royce bestellen. Außerdem wird sie "fern von mir Vergleiche ziehen, mich doch besser finden und bei der Rückkehr zu mir ganz zufrieden sein..." Heirat würde dann natürlich auch den Verzicht auf Venedig bedeuten (wohin man anscheinend zu zweit nicht fahren kann...)

Es ist so, daß "Männer, die von mehreren Frauen verlassen worden sind, es eben wegen ihres Charakters und immer auf Grund ganz gleicher Reaktionen wurden, die im voraus berechenbar sind, da jeder seine Art betrogen zu werden so wie seine spezifische Art sich zu erkälten hat." Ich muß sagen, ich habe viele Arten, mich zu erkälten, im Grunde funktioniert bei mir jede. Entsprechend bin ich auch nicht pingelig bei den Arten, mich zu verlassen, solange es nicht am Abend vor dem Berlin-Marathon über SMS geschieht, wie beim vorletzten mal.

Immer noch liegt er im Bett, aber man muß Pläne schmieden, um das Leiden zu lindern. "Ich stellte mich also wieder auf die Füße...", was schon ein existentieller Vorgang ist, der viel zu selten als solcher gewürdigt wird. Sich auf die Füße stellen ist doch eine Handlung von derselben Klasse, wie sich in ein Flugzeug setzen, oder in See stechen. Man wird ein anderes Wesen, vom stationären Gehirn zum handelnden Körper. Und so steht er nun auf seinen Füßen, aber von überall droht Gefahr, denn noch erinnert ihn alles in seinem Zimmer an sie. Er muß es vermeiden, ihren Stuhl anzusehen, das Pianola, alle ihre Dinge.

Durchgängig spricht er sich ihren Namen vor, eigentlich existiert sie nur in Form dieses Namens, der das Gehirn nie verläßt: "Hätte ich laut gedacht, so hätte ich ihn unaufhörlich vor mich hingesagt, und mein Geschwätz wäre ebenso einförmig und engstirnig gewesen, als sei ich in einen Vogel gleich jenem der Fabel verwandelt, dessen Ruf unaufhörlich den Namen derjenigen wiederholt, die er vordem als Mensch geliebt."

Verlorene Praxis: - Mit Vernunft ihren Regungen nachgehen.

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