Schmidt liest Proust |
Donnerstag, 14. Dezember 2006
Berlin, Warschauer Straße, Firstbace Internetcafé - V Die Gefangene, Seite 422-442 jochenheißtschonwer, 14.12.06, 18:34
Oder Lutze, der in der Krebsforschung arbeitet, vielleicht ja - auch wenn er das nie so sagen würde-, aus Rache für den Tod seines Vaters, der an dieser Krankheit viel zu früh gestorben ist. Als Lutzes Freundin eine Stelle als Violonistin in London bekam, hat er sich dort eine Promotionsstelle besorgt, und sie sind beide nach London gegangen. Am Ende trennten sie sich, und er blieb allein in London. (Neulich hatte ich eine Diskussion, in welchen Berufsgruppen die Menschen schwieriger sind. Als vorläufige Hierarchie ergab sich in absteigender Reihenfolge: Musiker, Schauspieler, Tänzer, Schriftsteller...) Lutze musste allein nach Griechenland fahren, und nicht wie geplant mit seiner Freundin. Auf der Akropolis setzen sich zwei zauberhafte Tamilinnen neben ihn. Er zählt rückwärts, weil er den Mut fassen will, sie anzusprechen und bei Eins sieht er seine nackten Arme und fragt sie nach der Zeit. Sie reden kurz, gehen einen Kaffee trinken, dann verabschiedet er sich und bereut es sofort. Er nimmt sich vor, sie am nächsten Tag wie zufällig in der Altstadt zu treffen und tigert treppauf treppab von Restaurant zu Restaurant, ohne sie zu finden. Drei Tage sitzt er stundenlang auf der Akropolis, ohne sie zu sehen. Er weiß, daß sie auf die Partyinsel Mykonos wollten, wo er nicht hinmöchte, er fährt stattdessen auf seine Lieblingsinsel, auf der er einmal mit einem Mädchen war, aber der Strand ist inzwischen verbaut und häßlich. Mit Ouzo und Wein verbringt er eine Nacht in einer leerstehenden Hütte auf einem Berg. Er fühlt sich elend und einsam und fährt auf die Insel, auf die die beiden Tamilinnen am Ende ihrer Reise noch gewollt hatten, und wo es den schönsten Sonnenuntergang der Welt gibt. Aber die Fähre verspätet sich um Stunden, und er sieht vom Schiff aus die Sonne versinken. Dann hat er das sichere Gefühl, sie am Ende einer Straße zu treffen, und tatsächlich entdeckt er sie dort. Es stellt sich heraus, daß die beiden in Athen in einem deutschen Restaurant essen gewesen waren, wo er doch alle griechischen abgesucht hatte! Sie gehen zusammen in einen Irish Pub, und die beiden, die indischen Tanz machen, bezaubern die Anwesenden, so daß Griechen und Italiener sie umschwärmen wie die Fliegen. In dem Trubel steckt ihm die Richtige kommentarlos ihr Portemonnaie in die Brusttasche. Als sie gehen, summt sie unterwegs ein Lied aus der Bar, das ihr gefallen hat. Er sagt, er achte bei Liedern nie auf den Text. Plötzlich nimmt sie ihm ihr Portemonnaie wieder weg und steigt in einen Bus. Er versteht die Welt nicht mehr, verbringt noch einen Tag auf der Insel und irgendwann fällt ihm der Text des Lieds aus der Bar ein: "Do you wanna come with me?" Er schlägt sich 30 mal mit der flachen Hand an die Stirn, fährt auf eine andere Insel, steigt dort auf den höchsten Berg und schreit eine halbe Stunde lang "Scheiße!" in die antike Landschaft. Braungebrannt und mit von der Sonne blonden Haaren kommt er nach London zurück und atmet auf, weil alles sehr kräftezehrend gewesen ist. Er fühlt sich wie der Messias, weil ihm alle Passanten auszuweichen scheinen. Er will ihr eine E-mail schreiben, aber er hat ihre Adresse nicht. Er erinnert sich nicht mehr an ihren Namen, er weiß nur noch, daß dieser auf englisch "Grace" bedeutete. Er recherchiert zwei Wochen im Internet nach einem tamilischen Wörterbuch, findet die Übersetzung von "Grace" und findet auch eine Spur des Mädchens im Internet, einen Brief von ihr an einen Sektenführer. Anscheinend hatte sie es doch ernst gemeint mit dieser Sekte, von der sie gesprochen hatte. Seite 422-442 Ein schmerzhaftes Abtasten der Möglichkeit einer Trennung, ein Durchleben des Trennungsschmerzes, obwohl es sich nur um eine „Trennungskomödie“ handelt. Die Unmöglichkeit zusammenzuleben und die Unmöglichkeit, allein zu bleiben, aufgelöst in ein (von Marcel so inszeniertes) Wechselspiel der vollständigen Unterwerfung der Frau (ihrer "Versklavung") und der Eifersucht und Unsicherheit, die dem Mann ihre vermeintliche Lügenhaftigkeit verschafft. Oder waren "nicht dennoch meine argwöhnischen Vermutungen Fühlfäden gleich, die die Wahrheit ertasteten..."? "Außerdem spüren wir sehr wohl, daß in solchen Lügen ein Stück Wahrheit liegt, daß, wenn das Leben in unsere Liebeserfahrungen keine Veränderungen trägt, wir selbst eine solche hineinbringen oder wenigstens erfinden und von Trennung sprechen möchten, so sehr fühlen wir, daß alle Liebeserlebnisse und alle Dinge überhaupt in rasender Eile dem Abschied entgegentreiben." Für ihn ist diese Trennungskomödie "die große Schlacht", in der er ein "Scheinmanöver" unternimmt. Er darf nur nicht zu hoch pokern, sonst nimmt sie seine Behauptung ernst, sich gleich morgen für immer trennen zu wollen. Tatsächlich verspricht sie ihm, ihn nie wiederzusehen, wo er das doch wünsche, denn sie wolle ihm keinen Kummer bereiten. Im letzten Moment wird aber die Reißleine gezogen und ein Zusammenleben für ein paar weitere Wochen vereinbart. "Ich setzte sie auf meine Knie, nahm das Manuskript von Bergotte, das sie sich so sehr wünschte, und schrieb auf den Deckel: 'Für meine kleine Albertine zur Erinnerung an die Erneuerung unseres Abkommens.'" Wofür Manuskripte so alles gut sein können... Sie geht zu Bett und möchte ihn in fünf Minuten noch einmal sehen, aber als er dazutritt, schläft sie schon: "Bald hörte ich ihre regelmäßigen Atemzüge. Ich ließ mich am Rande ihres Bettes nieder, um die beruhigende Kur einer nur von diesem Hauch gewiegten Kontemplation auf mich wirken zu lassen." Mit anderen Worten: ich sah ihr beim Schlafen zu. "Ich versuchte mir klarzumachen, welches die wirkliche innere Verfassung Albertines wohl sei." Das ist wohl überhaupt der Kern der Angelegenheit, man kann in den anderen einfach nicht hineinsehen, vielleicht gibt es dort drinnen auch gar keine „echte“ Albertine, schließlich besteht sie auch aus dem, was er sich über sie denkt. Vielleicht kann man deshalb so schwer erklären, was man fühlt, weil es gar keine buchbare Gefühlssubstanz gibt. Er sieht sich aber in guter Gesellschaft mit Nationen, die sich mit Krieg bedrohen, um Zugeständnisse zu erzwingen, und wo keine der beiden Seiten weiß, ob die andere wirklich ernsthaft zum Krieg bereit gewesen wäre, wenn man nicht eingelenkt hätte. Unklares Inventar: - Monsieur Delcassé.
Selbständig lebensfähige Sentenz: - "In der Liebe aber ist es leichter, auf ein Gefühl zu verzichten, als eine Gewohnheit abzulegen."
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