Schmidt liest Proust
Montag, 11. Dezember 2006

Berlin - V Die Gefangene - Seite 362-382

Durch meine Proust-Erfahrung stelle ich Bekannten Fragen, die ich ihnen sonst nie gestellt hätte, nämlich ob sie Proust gelesen haben, bzw. bei welchem Band sie steckengeblieben sind. Ich kenne bis jetzt drei Komplettleser persönlich, und ich könnte mir vorstellen, daß sie sich in der Straßenbahn instinktiv erkennen würden, wie Charlus "Invertierte" erkennen zu können behauptet. Komplettleser sind die Ausnahme, aber erstaunlich viele haben es einmal versucht. Einer hat beim fünften Band aufgehört, kurz vor dem Ziel, manche schon im zweiten. Ein Kollege hat sogar die Uni mit einer Arbeit über Proust abgeschlossen, er hat das Buch zweimal gelesen, erst auf deutsch, dann in Paris im Original (so werde ich es mit "Borat" machen, allerdings war das nicht geplant, ich hatte nur nicht auf den fehlenden OmU-Hinweis geachtet, weil ich nie darauf gekommen wäre, daß man auf die Idee kommen könnte, diesen Film zu synchronisieren. Ich glaube, er war auf deutsch 90% weniger witzig, wogegen Proust auf deutsch vielleicht sogar etwas witziger ist, als auf französisch.)

Mein Kollege hat sich damals so intensiv mit Proust befaßt, daß er diese Eifersucht entwickelt hat, Proust für sich allein haben zu wollen. Zum Glück geht solch eine Eifersucht auf Bücher ja nicht so weit wie die auf Menschen, sonst würde man in fremden Wohnungen Proust-Ausgaben nachspionieren und erst beruhigt sein, wenn sie offensichtlich unbefleckt im Regal verstauben. Buchläden wären dann so etwas wie Bordelle, in denen sich das käufliche Buch einer Unzahl von Kunden zur Schau stellt, für jeden der einen Autor liebt, eine unerträgliche Vorstellung. Man könnte wie Jack Lemmon in "Irma la Douce" enden, und nachts arbeiten gehen, um überall alle Exemplare der Bücher seines Lieblingsautors aufkaufen zu können, bis sie nachgeben und endlich keine neuen mehr drucken.

Mein Kollege hat zur Zeit seiner Lektüre die für ihn intensivste Liebesgeschichte erlebt und fragt sich, wie ich, ob das Buch darauf einen Einfluß hatte. Während wir darüber sprechen, gehen wir die Kastanienallee entlang, und er bleibt plötzlich stehen, weil die Paletten des Obsthändlers so schön nach Holz riechen. Das hätte ich mal wieder gar nicht bemerkt, was bin ich für ein sinnesvergessener Mensch.

Er hat damals für seine Proust-Arbeit stapelweise Karteikarten gefüllt, deren Rückseite er inzwischen als Notizzettel verwendet. Jetzt dreht er manchmal in der Kaufhalle seinen Einkaufszettel um und liest ein Zitat aus Proust oder aus der Sekundärliteratur. Das ist eine gute Verwendung für die eigenen Werke, vielleicht sollte ich mein Manuskript, statt es an Verlage zu schicken, auch zerschneiden und als Schmierzettel benutzen, auf diese Art würde sich Proust noch auf Jahre mit meinem Alltag verschränken. Man könnte natürlich auch das Buch zerschneiden. Oder ich versteigere Ende Januar meine annotierte Proust-Ausgabe bei Ebay und finanziere mit dem Erlös den Druck (mindestens meine Eltern würden ja bestimmt aus Mitleid heimlich mitsteigern.)

Seite 362-382 Das Buch ist noch nicht zuende gelesen, und schon verblaßt die Erinnerung an die ersten Teile. Daß Swann seinen Freund Charlus früher dazu abgestellt hatte, mit Odette auszugehen, ich erinnere mich, aber der Charlus des ersten Bands ist inzwischen ein ganz anderer für mich, wir sind gemeinsam alt geworden. In beschwingter, nachfestlicher Laune, deutet Charlus im Gespräch an, er habe mit Swann in Internatszeiten... "nun, Sie werden mich nicht dazu bringen, Dummheiten zu erzählen." Das sind Neuigkeiten! Wieder einmal wird mal eben eine Information eingestreut, die einem alles bisherige in ganz neuem Licht erscheinen läßt, immer mehr Gründe sammelt man, das Buch noch einmal von vorn zu lesen.

Nichts von der drohenden Verdurinschen Verschwörung gegen sich ahnend, läßt sich Charlus auf ein gelehrtes Gespräch mit Professor Brichot über die Geschichte der Homosexualität ein, und erweist sich auf diesem Gebiet als wahrer Kenner. Dazu ist er ja weiß gepudert und hat rot geschminkte Lippen, und glaubt einerseits, daß niemand ihn durchschaut, kann aber dem Bedürfnis, sich mitzuteilen im Alter immer schlechter widerstehen. Im übrigen fühlt er sich inzwischen schon etwas aus der Zeit gefallen, wenn sogar schon im Kreise seiner Familie Tango getanzt werde. Auch die Kubisten werden erwähnt, damit man ungefähr weiß, in welcher Zeit wir uns befinden.

Nach allen Regeln der Kunst wird intrigiert, um Morel von Charlus' Falschheit zu überzeugen und die Trennung der beiden zu erreichen. Madame Verdurin harrt "mit Ungeduld der Emotionen", die der geplante Schlag gegen Charlus ihr bereiten würde, auf den sie nicht einmal mehr verzichten könnte, wenn sie es sich noch einmal überlegen würde, denn: "Es gibt gewisse, häufig auf den Mund beschränkte Wünsche, die, wenn man sie einmal hat anwachsen lassen, nach Befriedigung lechzen, welches auch immer die Folgen sind. Ebensowenig, wie man darauf verzichten kann, eine dekolletierte Schulter zu küssen, die man allzulange angeschaut hat und auf die schließlich die Lippen wie der Vogel auf die Schlange niederfallen, oder unter der Faszination des Heißhungers in ein Stück Kuchen beißen, kann man sich versagen, durch unvorhergesehene Mitteilungen Staunen, Verwirrung, Schmerz oder Heiterkeit in einer Seele zu entfesseln." In eine dekolletierte Schulter könnte man auch mal wieder beißen.

Unklares Inventar: - Heliogabal.

  • Sich auf französisch empfehlen.

Verlorene Praxis: - Im Voraus von dem Drama trunken sein, das man heraufbeschwört.

Selbständig lebensfähige Sentenz: - "Ich kehrte in Gedanken unaufhörlich zu Albertine zurück..." "Man erträgt nicht immer leicht die Tränen, die man anderen erpreßt."

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