Schmidt liest Proust
Samstag, 2. Dezember 2006

Berlin - V Die Gefangene - Seite 194-215

Meine Beraterinnen sind sich nicht einig, welche Politik man in meinem Fall verfolgen soll. Man hört alles: "Wenn man was will, hat man das Recht, sich zum Klops zu machen", "Sich mit Absicht nicht mehr melden, sowas steht doch nur in alten Mädchenhandbüchern" oder "Vergiß es." Das Gute ist, daß man ja tatsächlich keinen Einfluß hat, weil man es Menschen, bei denen man im richtigen Moment das richtige tun muß, auch in Zukunft nie recht machen würde. Ein guter Song kann doch auch mal knistern. Man müßte ja auch eigentlich, statt in Kontaktforen Profile zu verfassen, um nach dem Richtigen zu suchen, lieber Geruchsproben versenden, da ja doch alles über den Geruch vorprogrammiert zu sein scheint.

An größere Zusammenhänge zu glauben, ist ein paranoider Zug. Aber es gibt Zufälle, die einfach zu unwahrscheinlich wirken. Man hält es tagelang durch, sich nicht zu melden, und dann trifft man sich zum ersten mal zufällig auf der Straße, an einer Stelle, an der man einmal in der Woche vorbeikommt, noch dazu rasend schnell auf dem Fahrrad.

Ich war ja gerade unterwegs ins Stadion, anschließend bin ich 42:00:48 gelaufen, die drittschnellste 10-Km-Zeit meines Lebens. Das brachte mich, direkt nach dem Zieleinlauf, für ca. 30 Sekunden auf andere Gedanken.

Seite 194-215 Er sitzt mit ihr im Auto und bedauert, daß er nicht anhalten kann, um sich eine junge Obsthändlerin, ein Milchmädchen, die an der Kasse stehende Tochter des Weinhändlers oder eine Wäscherin näher anzusehen, die alle "allein durch mein Verlangen in köstliche Abenteuer verstrickt, gleichsam an der Schwelle eines Romans zu stehen schienen, den ich niemals kennenlernen würde." Der Kummer des modernen Menschen, die paralysierende Vielfalt der Optionen. Und jede für sich ist unwiderstehlich! "Wir waren jetzt in volkstümlichere Viertel gelangt, in denen das Standbild einer 'dienenden Venus' jeden einzelnen Ladentisch zu einem suburbanen Altar umschuf, vor dem ich gern mein Leben hätte verbringen mögen."

Möglicherweise ist sein Beziehungsmodell auch einfach ein wenig konservativ: "Wie man es am Vorabend seines vorzeitigen Todes macht, stellte ich bei mir die Liste der Vergnügungen auf, die mir dadurch vorenthalten wurden, daß Albertine einen Schlußpunkt hinter meine Freiheit setzte." Vielleicht hätte sie ja gar nichts dagegen, wenn er einmal in der Woche mit den Kumpels Skat spielt, oder am Wochenende im Keller Balsaholzflugzeugmodelle bastelt, wenn sie ihn liebt, wird sie das schon tolerieren.

"Wer den Wunsch weiterzuleben und den Glauben an etwas, was köstlicher ist als die gewohnten Dinge, in sich unterhalten will, muß spazierengehen, denn Straßen und Avenuen wimmeln von Göttinnen." Nur Pech, wenn man in Jüterbog oder Nauen lebt, dann sind die Straßen und Avenuen nicht ganz so dicht von Göttinnen bevölkert, aber es gibt ja zum Glück das Internet.

Eigentlich steckt Proust immer wieder in denselben Aporien fest, die bis heute in jeder zweiten Liebeskomödie verhandelt werden: "Man findet harmlos, daß man selbst nach etwas verlangt, aber unerträglich, daß ein anderer es tut." Wenn ich das richtig verstanden habe, versteht Houellebecq ja Swingerclubs als Ausweg aus diesem Dilemma.

Und nun kommen wir zu einem Kernsatz, den man sich auf einen Wandteppich sticken kann: "Die Wesen aber, die uns nicht verstehen, sind die einzigen, bei denen es für uns von Nutzen sein kann, ein Prestige zu wahren, das bei höher gearteten Menschen schon unsere Intelligenz uns verschafft." Am besten man lernt das auswendig und sagt es sich auf, wenn man das nächste mal zu einem beruflichen Termin muß.

Heute geht es kreuz und quer: "...und das Mißgeschick eines entflammten Liebhabers besteht darin, daß er sich nicht darüber klar ist, wie, während er ein schönes Gesicht vor sich sieht, seine Geliebte nur das seine vor sich hat, das nicht schöner, sondern ganz im Gegenteil von der Lust entstellt wird, welche der Anblick der Schönheit in ihm erregt." Das ist auch das Mißgeschick des entflammten Tänzers, der meint, seine durch die Musik und die Stimmung im Raum bewirkte Losgelöstheit von den Fesseln der Selbstkontrolle würde ihn schöner machen. Leider ist das bei uns Europäern nicht der Fall.

Der Künstler kann, was ihm vorschwebt, immerhin zuweilen in seinem Werk sichtbar machen: "Daher kommt es, daß die Bewunderer dieses Werkes von seinem Urheber enttäuscht werden, in dessen Antlitz so viel innere Schönheit nur unvollkommen widergespiegelt erscheint." Es wäre ja auch schlimm, wenn mein Antlitz mehr bewundert würde, als mein Werk.

Jetzt habe ich eben aber doch noch einmal im Spiegel nachgesehen, und ich finde, ein geschultes Auge kann durchaus eine Menge innerer Schönheit auf dem Antlitz des Autors dieser Zeilen widergespiegelt sehen.

Unklares Inventar: - Midinette.

  • Peri.

Verlorene Praxis: - Als Frau zum Freund sagen: "Wie nett du bist! Wenn ich jemals so klug werde, so verdanke ich es nur dir!"

Selbständig lebensfähige Sentenz: - "Früher hatte ich oft erlebt, daß ich mir bei der Lektüre von Memoiren oder einem Roman, in denen ein Mann fortwährend mit einer Frau ausgeht, mit ihr Tee trinkt, wünschte, ich könnte es ebenso machen."

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