Schmidt liest Proust
Montag, 30. Oktober 2006

Berlin - IV Sodom und Gomorra - Seite 253-273

Heute bin ich unglücklich, weil mir schon morgens wieder klar wurde, daß ich nie glücklich sein werde, weil ich mit meinem Gefühlsleben noch keinen Schritt weiter gekommen bin als Proust, und das fast 100 Jahre nach seinem Tod. Ich habe mich z.B. immer noch nicht ganz von dem Gedanken verabschiedet, irgendeine Hollywoodschauspielerin könnte sich in mich verlieben, nur weil sie mich in der U-Bahn ein Buch lesen sieht. Sie würde sich dann wie vom Pferd gefallen fühlen und sich, ohne sich noch einmal nach ihnen umzudrehen, aus der Schar ihrer Partyfreunde lösen und mir ihr Leben zu Füßen legen, als gehe sie ins Kloster. Vielleicht wird das aber nie passieren, oder ich bin, wenn es so weit ist, schon verheiratet, oder ich kenne die Schauspielerin gar nicht, weil ich nicht mehr ins Kino gehe, oder sie sieht nicht aus, wie Elizabeth Taylor, oder ich habe das Buch vergessen, oder an dem Tag unserer Begegnung ist Pendelverkehr zwischen Senefelder und Danziger. Hinter meinem Lebensglück stehen zu viele Fragezeichen.

Das andere, was mir den Schlaf raubt, ist, daß ich heute keine Zeit für meinen Mittagsschlaf haben werde. Leider gilt der Mittagsschlaf in Deutschland immer noch als Müßiggängerprivileg oder Zeichen von Senilität, dabei teilt er den Tag in zwei gleichwertige Hälften, in denen man sich doppelt so intensiv für die Gemeinschaft aufopfern kann. Für mich ist Schlafen Arbeit, man kann auch kein Rennpferd dauernd gleich stark belasten, also warum dann mein Gehirn? Regeneration ist ein wichtiger Bestandteil des Trainings, das weiß jeder Ausdauersportler. Die Ohren verstöpselt, die Augen von einer Outdoor-Schlafmaske abgeschirmt, sehe ich wenigstens einmal am Tag klar. In den Minuten vor dem Einschlafen ergibt nämlich plötzlich alles einen Sinn. Ich denke dann an meine künftigen Erfolge, rechne meine Jahreseinnahmen aus, zähle durch, wieviel Bücher ich bis 40 noch veröffentlichen kann, halte provokante Preisreden und nehme versöhnliche Ehrendoktorwürden entgegen. Ich sehe mich ein harmonisches Leben im Kreise meiner Assistentinnen führen, die mir zujubeln, während ich, für einen Amateur völlig überraschend, den New-York-Marathon gewinne. Diese Bilder aus so unterschiedlichen Lebensbereichen fügen sich in den kostbaren Minuten vor dem Einschlafen zu einem erstaunlich harmonischen Ganzen. Eine Viertelstunde nachdem ich mich hingelegt habe, tauche ich dann, wie aus einem Strudel gerissen, wieder auf. Das leichte Kopfweh, das mir den Vormittag verdorben hat, ist verflogen, die vom Training müden Beine brennen nicht mehr. Ich sehe ungläubig auf die Uhr, dem Gefühl nach habe ich Stunden geschlafen, so weit weg war ich von allem, es sind aber nur 15 Minuten vergangen. Und heute, wo ich diese 15 Minuten nicht haben werde, ist jetzt schon ein verlorener Tag.

Seite 253-273 Albertine muß in fünf Minuten los [ich auch, J.S.], um eine Dame in Infreville zu besuchen, die jeden Tag um 5 Uhr empfängt. Natürlich macht Marcel das eifersüchtig, zumindest regt sich in ihm die "latente Liebe, die man unentwegt in sich trägt." Er nimmt Albertine vier Seiten lang ins Kreuzverhör und beweist ihr, daß es keinen Grund gibt, ihm diese mysteriöse Dame vorzuziehen. Dabei hat Albertine ihn eben noch "aufs leidenschaftlichste" ihrer Liebe versichert. Natürlich ist es kein Widerspruch, das zu tun, und kurz darauf zu einem von einer kleinen Lüge gedeckten Rendezvous zu verschwinden. Er weist ihr ihre Widersprüche nach, aber es ist auch ein bißchen ungerecht, der Autor läßt ihm ja das letzte Wort, so daß die Sympathien bei ihm liegen. Man träumt von der sehr unwahrscheinlichen Konstellation, daß ein Autor vom Rang Prousts mit einer gleichrangigen weiblichen Autorin zusammentrifft, und am Ende ihres Lebens zwei gleich umfangreiche Recherchen vorliegen, die beide recht haben.

Marcel wechselt in seiner Haltung zu ihr von Zorn zu einem "Zustand der Waffenruhe", bis zu "freundlicher Geneigtheit", die aber auch nicht lange anhält. Inzwischen ist er nämlich hellhörig geworden für eventuelle lesbische Anwandlungen bei Albertine, und er registriert genau, wenn einer ihrer Blicke, sobald sie ein entsprechendes Mädchen sieht, "die jähe und tiefe Aufmerksamkeit verriet, die manchmal dem Gesicht des schelmischen jungen Mädchens ein gesetztes, ja ernstes Aussehen gab und zur Folge hatte, daß sie hinterher eher traurig schien." Oder, wenn Andrée "schmeichelnd den Kopf an Albertines Schulter lehnte und sie mit halbgeschlossenen Augen in die Beugung des Halses küßte." Andere Männer mögen solche Kleinigkeiten zur Kenntnis nehmen, "ohne daß ihre Gesundheit oder ihre Stimmung dadurch beeinträchtigt wird, während sie Krankheits- und Leidensträger für in dieser Hinsicht anfällige Wesen darstellen." Natürlich spielt seiner Leidensbereitschaft auch sein Gedächtnis zu, weil er sich retrospektiv Albertines kleinste Gesten deutet, die er zunächst nicht sonderlich verdächtig fand. Für diese Form von Eifersucht braucht man dann gar keine Realität mehr, es ist eine "Selbstintoxikation". Sollte er Albertine jemals lieben, so wird er viel zu leiden haben, das ist ihm jetzt schon klar. Also nichts wie weg, und auf die nächsten drei Bände verzichten?

Nun kommt der für Marcel und seine Mutter ebenso wie für den Leser eher ungelegene Besuch Madame de Cambremers, die über die Vor- und Nachteile ihrer beiden Landsitze und ihre Lieblingsmaler reden will. Sie gehen dazu ins Hotel: "Der bequemste Raum im Hotel, um jemanden zu empfangen, war der Lesesaal, jener einst so erschreckende Ort, den ich jetzt zehnmal am Tage betrat und als mein freier Herr wieder verließ, wie jene leichtkranken Irren, die schon seit langer Zeit Pensionäre eines Heimes sind und denen der Arzt den Schlüssel des Hauses anvertraut hat." Die alte Dame hat, was bisher als einziges ihre Aufnahme ins Buch entschuldigen kann, einen unzulänglichen Zahnapparat: "Jedesmal, wenn sie von Ästhetik sprach, traten ihre Speicheldrüsen, wie diejenigen gewisser Tiere im Augenblick der Brunst, in eine Phase der Hypersekretion ein, so daß der zahnlose Mund der alten Dame im Winkel ihrer mit einem leichten Bärtchen bedeckten Lippen ein paar Tropfen durchsickern ließ, die nicht dort hingehörten. Sofort schluckte sie sie auch schon wieder mit einem tiefen Seufzer zurück wie jemand, der eben zu atmen beginnt." So ein, wie bei Tieren leicht zu deutendes Verhalten, hat den Vorteil, daß man als Beobachter genau weiß, wann die leidenschaftlichen Bekundungen der Dame für eine Sache echt sind. Die durch die Lippen sickernden und aufgeschluckten Tropfen sind das Echtheitssiegel ihrer Äußerungen.

Das Gespräch kommt auch auf den Pfarrer von Combray und die von ihm ausgearbeitete Broschüre zu den Namendeutungen der umliegenden Orte. Bei "Tim und Struppi" stände an der Stelle: "Siehe: In Swanns Welt", das hat mich immer fasziniert.

Monet, Manet, oder gar Le Sidaner, wer ist das größere Genie? Sogar man selbst ändert ja im Lauf der Zeit manchmal seine Meinung: "Sie bewies ebensoviel Gewissenhaftigkeit wie Entgegenkommen darin, mich über die Entwicklung ihres Geschmacks zu informieren. Man hatte dabei das Gefühl, daß die Phasen, durch die dieser ihr Geschmack hindurchgegangen war, ihrer Meinung nach nicht weniger wichtig waren als die verschiedenen Manieren von Monet selbst."

Aber wie soll man Menschen in Geschmacksfragen überzeugen, wenn sie den langen Weg hin zu dem uns eigenen verfeinerten Geschmack schon selbst zurücklegen müßten, um mehr als nachzuplappern? Man kann ihnen diese Arbeit am eigenen Urteil ja nicht abnehmen. Deshalb ist es eigentlich sinnlos, darüber zu sprechen. "Dennoch mußte sie sich ja bewußt sein, daß sie mit den Worten: 'Aber nein, es ist ein kleines Meisterwerk' bei der Person, die sie damit zurechtwies, nicht den gesamten Ablauf einer künstlerischen Kultur improvisieren konnte, an deren Ende sie sich dann geeinigt hätten, ohne noch weiter diskutieren zu müssen."

Ach, wenn Proust sich doch öfter auf seinen Humor verlassen würde! "'Das ist ganz wie in Pelléas', sagte ich, um ihrer Neigung zur 'Moderne' entgegenzukommen, 'dieser Rosenduft, der bis zu den Terrassen aufsteigt. Es kommt einem so machtvoll aus der Partitur entgegen, daß ich selbst, da ich an Heuschnupfen und an Rosenfieber leide, jedesmal niesen mußte, wenn ich diese Szene hörte.'" Vielleicht kommt einem das aber nur komisch vor, weil solche kostbaren Frechheiten von narrativen Schlackebergen umrahmt werden.

Zuletzt wird Albertine wieder ein wenig vorgeführt, weil sie die Frage, ob sie in Holland "die Vermeers" gesehen habe, verneint: "...sie glaubte, es handle sich um irgendwelche lebenden Menschen." Ja, wir verlieben uns immer unter Niveau.

Unklares Inventar: - Dolman.

Katalog kommunikativer Knackpunkte: - "Als sie diesen Namen hörte, brachte sie sechsmal pausenlos hintereinander ein kleines Klicken der Zunge gegen die Lippen hervor wie das, mit dem man einem Kind, das eben etwas Dummes anstellen will, gleichzeitig seinen Tadel über das Begonnene zu verstehen gibt und untersagt, damit fortzufahren."

  • "...'Es ist ganz merkwürdig', setzte sie hinzu, während sie einen durchdringenden und entzückten Blick auf einen unbestimmten Punkt im Weltall heftete, wo sie offenbar ihr eigenes Denken abgezeichnet fand."

Verlorene Praxis: - Sich nicht anmerken lassen, wie man nicht ohne Vergnügen die vereinzelten Tränen in ihren Augen hängen sieht, die von den schonungslosen Dingen hervorgelockt wurden, die man ihr gesagt hat.

  • Jeden Morgen im Morgenkleid durch ein Pförtchen das Pfarrgärtchen aufsuchen, um die Pfauen zu pfüttern.

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