Schmidt liest Proust
Mittwoch, 25. Oktober 2006

Berlin - IV Sodom und Gomorra - Seite 171-191

Die Maus hakt ständig, man muß immer ein paarmal daran schieben, damit der Pfeil sich wieder bewegt. Der Wasserkocher stellt sich nicht von selber aus. Der Duschkopf tropft. Der Schalter für das Deckenlicht in der Küche hat keinen Strom. Die Glühbirne vom Küchenschrank ist kaputt. Die Kindersicherung vom Gashahn reagiert erst nach 20 Sekunden. Beim Plattenspieler muß man das Netzteil ziehen, weil sich der Tonarm sonst endlos auf die Platte senkt und wieder hebt. Und beim Anschalten muß man der Platte mit dem Finger Schwung geben. Der Stecker vom Kabel ist ein bißchen zu klein für den Rasierapparat und rutscht immer raus, außerdem ist der Schiebeschalter kaputt, die anderen beiden Positionen braucht man aber sowieso nicht. Das Kabel vom Fön scheint gebrochen zu sein, man muß es zu einer Schlaufe drehen, dann geht es. Der Reißverschluß von der Winterjacke ist seit zwei Jahren kaputt. Alle Hosen haben Löcher in den Taschen. Alle Stifte sind eingetrocknet oder klecksen. Beim neuen Bleistiftanspitzer, dem ersten mit Gehäuse, ist schon beim ersten Durchlauf der Spitzer herausgebrochen. Den Wasserhahn von der Waschmaschine muß man hinterher immer gleich wieder zudrehen, weil die Maschine sich sonst bis zum Rand mit Wasser füllt. Von der Tür vom Wäscheschrank nur den kleinen Flügel aufmachen, weil sie sonst immer aufschwingt, der Riegel ist zu klein für die schwere Tür. Die Heizuhr verstehe ich nicht, ich drehe immer das Ventil vom Heizkörper im Zimmer auf und zu, das darf man aber eigentlich nicht. Das Wasser von der Heizung hat unter 1 Bar Druck, ich soll einen Schlauch dafür haben, sagt der Gasmann, und kann das selber auffüllen, hab ich aber nicht und kann ich nicht. Die Klospülung muß man mehrmals drücken, bis das Wasser stoppt, sonst läuft es ewig weiter. Die rechte Dose von der Steckdosenleiste im Zimmer nicht benutzen, weil man den Stecker dort nur ganz schwer wieder rauskriegt. Wenn die vordere Fahrradleuchte nicht geht, muß man solange an den Batterien drehen, bis sie doch geht, dann den Deckel ganz vorsichtig zuschieben, weil das Licht sonst gleich wieder ausgeht. Der linke Reißverschluß vom Trinkgürtel ist eingerostet. Der teure MD-Player von Sony hat noch nie richtig funktioniert. Beim MP3-Player hatte die Buchse nach einem halben Jahr einen Wackelkontakt. Vorsicht mit dem Portemonnaie, die Münztasche scheint unten bald zu reißen. Die Tintenstandsmeldungen vom Drucker einfach ignorieren und "abbrechen" drücken, bis er weitermacht. Die Vorhänge im Zimmer am besten so lassen, sonst reißt nur der Draht. Das Bügelschloß kann man über den Lenker hängen, die Halterung ist abgebrochen, hab ich ja erzählt.

Je besser man seine Arbeit macht, umso weniger wird man vermißt.

Seite 171-191 Wie soll man Druck auf das Objekt der Begierde ausüben, wenn man selbst der Bedürftige ist? Das kehrt sich dann schnell in Aggressivität um: "...jetzt in meinem Zorn wollte ich sie mehr noch aus dem Bedürfnis, ihr Ungelegenheiten zu bereiten, als dem, sie zu sehen, dazu zwingen, daß sie zu mir käme." Trotzdem will Marcel sie erst einmal auflaufen lassen, um erst ganz am Ende des Gesprächs zuzustimmen, daß sie kommen kann. Wenn er sich da mal nicht verkalkuliert... Was ihn irritiert sind die Geräusche, die er durch die Leitung hört, eine Fahrradklingel, eine singende Frau, ferne Militärmusik, alles Stückchen von Realität, "etwa wie man mit einem Erdklumpen auch alle daran haftenden Gräser heimbringt."

Angeblich legt er keinen Wert darauf, daß sie noch kommt. Aber er wolle doch noch einmal festgestellt haben, daß es eigentlich abgemacht war, sie habe ja auch geantwortet "Gut, es ist abgemacht." Darauf Albertine: "Ich habe gesagt, es sei abgemacht, nur wußte ich nicht, was eigentlich abgemacht war." Man wird es nicht schaffen, eine Frau in die Ecke zu argumentieren, gegen solche Ausflüchte ist einfach jeder machtlos.

Er erhöht noch einmal den Einsatz, er wolle sie nicht nur heute Abend nicht mehr sehen, sondern "...jetzt habe ich diesen Abend durch dich verloren, laß mich wenigstens die nächsten Tage in Ruhe." In 2 bis 3 Wochen habe er vielleicht wieder Zeit für sie. Allerdings wäre es natürlich schlecht, sich so unschön für so lange zu trennen, also, obwohl er eigentlich zu müde ist, vielleicht sollte sie ja dann doch noch schnell vorbeikommen.

Das alles ist nur ein Vorgeschmack auf das, was ihm mit Albertine bevorsteht, das spürt er. Als sie eintritt, tut er so, als müsse er einen Brief schreiben. "An eine hübsche Freundin, ihr Name ist Gilberte Swann. Kennst du sie nicht?" Er ist gut beraten, was heute vorgefallen ist, erst einmal nicht weiter zu diskutieren: "Ich wußte, ich würde ihr sonst Vorwürfe machen, und fürchtete, wir würden dann in Anbetracht der späten Stunde keine Zeit haben, uns hinlänglich auszusöhnen, um auch noch zu Küssen und Zärtlichkeiten überzugehen. Mit ihnen wollte ich daher gleich in der ersten Minute beginnen." Eine Achatkugel, die er von Gilberte hatte, und die mit seinem Interesse an Gilberte ihre fetischhafte Macht eingebüßt hat, überläßt er Albertine ohne weiteres. Später trinken sie kühlen Orangensaft, der ihm fast noch besser schmeckt als ihre Küsse. Essen ist der Sex des Alters.

Im weiteren folgt die Beschreibung vom Aufstieg und Niedergang bestimmter Salons, und wie Odette es geschafft hat, mit dem ihrem interessanter zu werden, als Orianes, denn die Salons unterliegen einem historischen Ablauf, woran zum Teil "die Neigung zum Neuen, welche Gesellschaftsmenschen, die mehr oder minder aufrichtig darauf aus sind, sich über die geistige Entwicklung zu informieren, dazu bringt, Milieus zu besuchen, in denen sie jene verfolgen können..." Man kann also schon Erfolg haben, nur weil man neu ist. "So findet sich jede Epoche in neuen Frauen, in einer neuen Gruppe von Frauen personifiziert, die, aufs engste mit den letztaufgetauchten Gegenständen der Neugier verknüpft, in ihren Toiletten einzig und gerade in diesem Augenblick wie eine unbekannte Gattung erscheinen, die aus der jüngsten Weltkatastrophe hervorgegangen ist, unwiderstehliche Schönheiten jedes neuen Konsulats der Direktoriums." Und welche Frau personifiziert unsere Epoche?

Selbständig lebensfähige Sentenz: - "Die Krankheit ist derjenige von allen Ärzten, auf den man am ehesten hört: der Güte, dem Wissen gibt man Versprechungen; man gehorcht dem Leiden."

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