Schmidt liest Proust
Dienstag, 10. Oktober 2006

Berlin - III Die Welt der Guermantes - III Seite 567-588

Nachdem mich vor zwei Jahren die Sophie-Calle-Ausstellung im Gropius-Bau so begeistert hatte, wollte ich mich moderner Kunst gegenüber wieder aufgeschlossener zeigen, aber es lag ja nicht an mir, sondern daran, daß moderne Kunst zu großen Teilen nur noch für Leute produziert, die sich Wohnraum ohne Nutzwert leisten können und daher Platz haben für heterogene Inneneinrichtungsacessoires. Sophie Calle war da eine Erlösung, dabei hatte ich von der laut Ankündigung bekanntesten französischen Künstlerin unserer Tage vorher noch nie gehört. Ihre Aktionen waren charmant, witzig, aber auch immer ein bißchen traurig, weil es oft um Verluste ging. Jedenfalls handelten sie von dem Wunsch, Struktur in sein Leben zu bekommen, indem man es in ein Spiel verwandelt, für das man sich die Regeln selbst ausgedacht hat, ein Weg, den Tod zu besiegen. Wenn man sich z.B. von einem Detektiv beschatten läßt, und dessen Aufzeichnungen von diesem Tag den eigenen gegenüberstellt, bekommt jede Zufälligkeit plötzlich einen Sinn. Oder wenn sie die Geburtstagsgeschenke jeweils eines Jahres in einer Vitrine aufbewahrt, dann wird aus dem ganzen Plunder ein Informationsträger. Man bekam sofort Lust, sich auch solche Spiele auszudenken, z.B. der Freundin ihren Urlaubskoffer selbst zu packen, und sie muß dann anziehen, was man ihr mitgegeben hat (das heißt, man könnte generell seine Mißgeschicke zur Aktion umdeuten.)

Ich habe damals ein paar Wochen lang bei der Chaussee Werbung für diese Ausstellung gemacht, die mir dem, was wir manchmal mit Texten versuchen, nicht unverwandt vorkam, aber keiner meiner Kollegen ist hingegangen und wohl auch kein Zuschauer, mein Wort gilt dort nichts. Geschockt war ich, als ich viel später erfuhr, daß Paul Auster eine Figur in "Leviathan" an Sophie Calle angelehnt hat. Daraufhin habe sie die Aktionen durchgeführt, die er dieser Figur angedichtet hatte. Und sie habe ihm vorgeschlagen, ihr exakte Lebensregeln für ein Jahr zu schreiben. Er hat ihr ein: "Gotham Handdbook – personal instructions for SC on How To Improve Life in New York City (because she asked...)" geschrieben, z.B. Unbekannte anzulächeln. Sie hat das alles befolgt und die Aktion durch ein Essen mit ihm gekrönt. Ich war neidisch auf Auster, daß es ihm so leicht fiel, von Sophie Calle gekannt zu werden. Und ich erinnerte mich wieder, einmal etwas ähnliches, wie er, getan zu haben, als ich in in New York in ihrer Abwesenheit für ein paar Wochen im winzigen Atelierraum einer jungen Künstlerin aus Berlin wohnen durfte (nie schlief ich so schlecht, wie zwischen ihren eigenartigen Objekten aus Quietschpappe.) Zum Dank hatte ich ihr eine Liste mit Aktions-Ideen für New York hinterlassen, in so einer Stadt drängte sich einem ganz selbstverständlich der Wunsch auf, sein Leben in Kunst verwandeln zu wollen, oder wie Müller meinte: "In New York wird Rauschenberg ornamental" (oder hat er gesagt "dekorativ"?). Später habe ich die junge Künstlerin auf diesen Zettel angesprochen, sie wußte erst nicht, was ich meinte, konnte sich dann aber erinnern, daß sie meine Schrift nicht hatte lesen können.

Gestern war ich wieder in einer Ausstellung im Gropius-Bau, inzwischen habe ich mir nach vielen Jahren ja auch endlich gemerkt, durch welchen Ausgang am Potsdamer Platz man wo landet. Die Ausstellung war für mich schon deshalb ein Erfolg, weil ich nicht vor verschlossenen Türen stand, es passiert mir oft, daß Sachen, zu denen ich mich nach langem Ringen aufmache, dann gar nicht stattfinden. Man wird demütig, ich betrachte ja auch Rendezvous als Erfolg, wenn die Frau gekommen ist, alles, was danach kommt, kann dagegen eigentlich nur noch enttäuschen, es wäre besser, man würde sich gleich wieder auf den Heimweg machen.

Rebecca Horn soll eine der wichtigsten deutschen Künstlerinnen sein, und sie kommt aus dem Odenwald, also ganz aus der Nähe von Mannheim, erstaunlich genug, daß man dann etwas anderes werden kann, als Bordellbesitzerin. Die Ausstellung zeigt Objekte aus vielen Jahren, bei denen auffällt, daß sie immer größer werden. Gegen Ende vollführen meterlange Metallstifte, von Motoren angetrieben, komplizierte Bewegungen. Manchmal schwenkt so ein Stift direkt auf den Betrachter, und man bekommt Angst, durch eine falsche Bewegung den Selbstschußmechanismus auszulösen und von dem Ding aufgespießt zu werden.

Ich bin ja immer ein bißchen neidisch, wenn Künstler Objekte bauen, die so groß sind, daß sie sie schon deshalb verkaufen müssen, weil sie sie zu Hause gar nicht aufbewahren könnten. Ich kann es mir nicht leisten, Sachen aufzuheben und schmeiße immer alles weg, was sich zum Objektbauen eignen würde. Vielleicht ist das genau der falsche Weg, und ich sollte alles aufheben, daraus etwas basteln, es verkaufen und mir für den Gewinn eine größere Wohnung leisten?

Hier und da beklecksten Automaten die weißen Wände mit Farbe, z.B. das "Salome"-Objekt, ein Auftragswerk für Irland (?). Ein unter der Decke angebrachter Federpinsel, der "von irischer Elektrizität erschreckt" in Farbe taucht und Werke von Oskar Wilde bespritzt, die von zwei darüber schwebenden Straußeneiern beschützt werden sollen. Das brachte mich auf einen neuen Eintrag in meiner Liste möglicher Wetten für "Wetten dass": "Jochen Schmidt behauptet, er könne nur am Geschmack des Stroms aus der Steckdose erkennen, in welchem Land der EU er sich befindet."

Am meisten hat mich eigentlich der Mechanismus interessiert, von dem die Objekte angetrieben werden. Wie bewegt man mit einem kleinen Elektromotor, von der Art, wie ich sie als Spielzeug hatte, mit geschickten (aber für Feinmechaniker sicher ganz standardmäßigen) Kurbelübersetzungen zwei Schmetterlingsflügel auf und ab? Die Künstlerin soll mehrere Techniker beschäftigen, die ihr ihre Objekte zusammenbauen. Ich kann mir nicht helfen, aber ich hätte gerne mehr über die Arbeit dieser Techniker erfahren und weniger von Rebecca Horns mitausgestellten Gedichten gelesen. Trotzdem fand ich das Mädchen rührend, das seine mit Turnschuhen bekleideten Füße in einer Art verdrehend, wie es nur Mädchen gelingt, auf dem Parkett kauerte, um eines der mystifizierend schwülstigen Gedichte von Rebecca Horn in ihr riesiges ockerfarbenes Notizbuch abzuschreiben.

Kurzzeitig hatte man draußen wieder diesen "Objekt"-Blick, z.B. an einem U-Bahn-Kiosk, aus dem ein dicker Lüftungsschlauch hing. Aber mir fiel kein Name dafür ein.

III Seite 567-588 Mehr zur unberechenbaren Oriane, die durch ihre "aufeinanderfolgenden einander widersprechenden Edikte [..] unaufhörlich die Ordnung der Werte bei den Personen ihres Kreises umstürzte." Man staunt, wenn man sie im Theater statt in einer Loge "auf einem der Parkettfauteuils entdeckte", und sofort wird einem bewußt, daß das ja die einzige wahre Form war, so ein Stück zu sehen. Oder wenn sie sich ausgerechnet in der Besuchssaison an Bord einer Jacht begibt, um die norwegischen Fjorde zu besuchen. Das führt dazu, daß die Prinzessin von Parma, die Oriane so gerne nachahmen würde, um auch deren gesellschaftlichen Erfolg zu haben "...sich auch an das geringfügigste Thema nur mit der gleichzeitig beunruhigten und lustvollen Vorsicht eine Badenden heranwagte, die zwischen zwei schweren Sturzwellen im Wasser auftaucht."

In Orianes Salon sieht man auch manchmal eine der abgelegten Mätressen des Herzogs, er schätzt "große, gleichzeitig majestätische und doch zwanglos sich gebende Frauen eines bestimmten Stils, der zwischen der Venus von Milo und der Nike von Samothrake zu suchen war..." Sie findet in diesen Frauen, die sich früher oder später bei ihr ausweinen kommen, Verbündete, wenn es darum geht, dem Herzog Geld für zusätzliche Ausgaben zu entlocken.

Außenstehende halten die beiden allerdings für ein Vorzeigepaar, weil der Herzog immer die Formen wahrt: "Abgesehen von seltenen Augenblicken zu Hause, da der Herzog, wenn die Herzogin zuviel sprach, Worte und vor allem Arten des Schweigens fand, die niederschmetternd wirkten..."

Katalog kommunikativer Knackpunkte: - "Oh! rief die Prinzessin bei dem Gedanken, sie könne Madame de Guermantes einfältig finden, in einem Tone aus, durch den sie leidenschaftlich dagegen protestierte, irgend etwas könne die Herzogin von der Höhe herabstürzen, die sie in ihrer Bewunderung einnahm."

Verlorene Praxis: - Mit der Geliebten von seinem Landsitz aus über Brieftauben korrespondieren.

  • Während man seiner Frau den Mantel umlegt, ihre Kolliers arrangieren, damit sie nicht im Futter hängenbleiben.

Damals also auch schon zu beklagen gewesene Unsitte: - "...da man ja in Frankreich jeder mehr oder weniger englischen Sache den Namen gibt, den sie in England nicht trägt..."

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