Schmidt liest Proust
Samstag, 14. Oktober 2006

Berlin - III Die Welt der Guermantes - Seite 650-672

Ich bin gar nicht so ein Langweiler, gestern habe ich z.B. wieder eine Flasche Bier ins Kino geschmuggelt. Viel gespart habe ich nicht, denn, weil ich keinen Öffner hatte, mußte ich mir ein Feuerzeug kaufen, das aber am Boden eine LED-Leuchte hatte, die sofort herausbrach. Außerdem mußte ich schon nach der Werbung aufs Klo, saß aber in dem großen Saal so weit vorne links, daß es mir zu peinlich war, noch einmal die ganze Strecke zurückzulegen. Das war schon beim Reinkommen unerträglich gewesen, weil in dem Moment, wo ich vor den Augen des ganzen Saals vor der Leinwand entlang schlich und meinen Platz suchte, jemand in der Werbung sagte: "Du bist die Zukunft. Alle Augen werden auf dich gerichtet sein!" Ich habe das Bier also nicht getrunken, um bis zum Ende durchzuhalten, und mußte es wieder rausschmuggeln, was noch schwieriger war, weil es ja jetzt offen war.

Nach der Werbung kam ein Trailer mit Kirsten Dunst, die tatsächlich aussieht wie A. Da ich A. nicht mehr sehe, wird ihr Gesicht in meinem Gedächtnis irgendwann ganz von Kirsten Dunsts überlagert sein. Es wäre inzwischen auch einfacher für mich, in Kontakt mit Kirsten Dunst zu treten, als mit A., das ist traurig.

Man muß sich vielleicht vom Kino als Leidenschaft verabschieden, denn sich mit lauter einem unbekannten, schlecht riechenden, oder sich schlecht benehmenden Menschen in einen Saal zu quetschen, um einen Film zu sehen, den es bald auf DVD geben wird, ist einfach anachronistisch. Außerdem jedes mal diese Single-Demütigung an der Kasse: "Einmal Parkett." "Dreimal?" "Einmal!" Wie kann man statt "einmal" "dreimal" verstehen? Ich denke, die machen das mit Absicht, aber ich kann es ihnen auch nicht übel nehmen, es gibt eben Berufe, die sich nur durch das Ausleben sadistischer Triebe ertragen lassen.

Die einfältige Bildästhetik, die verrottete Dramaturgie, was mich, weil es sich so von den DEFA-Filmen unterschied, in den 80ern noch so begeistert hat, daß ich zweimal hintereinander nach Prag fuhr, um dort "Flashdance" zu sehen, obwohl er auf englisch lief, ist heute eine ständige Beleidigung. Außerdem war die Geschichte vom Lehrling, der bei seinem sadistischen Chef lernt, selbst ein Sadist zu werden, in "Swimming with skarks" um Längen besser, und vor allem am Ende nicht so inkonsequent.

Und diese verlogene Metaerzählung über das schwere Leben der Kapitalisten, die es ernst meinen: "Sag Bescheid, wenn dein Privatleben den Bach runter ist, dann wird es Zeit für eine Beförderung." Höchste Selbstausbeutung und Rücksichtslosigkeit gegen jeden noch so befreundeten Konkurrenten führen zu den besten Resultaten. Ein Märchen, an das ich nicht mehr glaube, seit ich selbst im Westen lebe. Und noch dazu in der Mode, wo es überhaupt keine Maßstäbe gibt, sondern nur Menschen, die Maßstäbe setzen, und es einfach nur darauf ankommt, in die Position zu kommen, wo man sie setzen darf. Welche man dann setzt ist völlig egal, die Leute kaufen sowieso den Namen. Hinter mir in der Schlange sagte ein Familienvater sehr schön zu seiner Frau: "Prada is ne Klamottenmarke".

Immerhin ein interessantes Detail, die Erklärung, wie eine Farbe von den Haute-Couture-Designern ins Spiel gebracht, sich am Ende bis zu den Wühltischen durchsetzt, quasi eine Trickle-down-Theorie der Mode. Aber man hat es satt, sich solche spärlichen Gedanken aus Filmen herausklauben zu müssen, da gucke ich lieber Alexander Kluge.

Ich wünsche mir einmal einen Film, der nur die Szenen zusammenschneidet, in denen jemand aufwacht, langsam zu sich kommt, den Wecker sieht und hastig in seine Sachen springt. Und einen Film, nur aus der Szene, wenn eine Frau mit ihrem Freund ein ernstes Gespräch über ihre von ihrer Karriere gefährdete Beziehung führt, in dem Moment ihr Chef anruft, und sie sich für den Anruf entscheidet, statt für ihren sich enttäuscht abwendenden Freund. Ein anderer Film, der nur aus diesem Satz besteht: "Es tut mir leid." Ich weiß gar nicht, ob es schon einmal einen amerikanischen Film gab, in dem er nicht fiel.

Der unangenehme "Journalist", der das häßliche Entlein in Paris (!) verführt war der ermordete Jungschauspieler und Callboy in "L.A. Confidential". Man hat die ganze Zeit gegrübelt, sich kaum auf den Film konzentrieren können, und erst ganz am Ende wurde man von seinem Gedächtnis erlöst. Und man fühlte sich deswegen, als hätte man etwas geleistet, dabei hat man nur Wissen im Kopf vernetzt. Aber etwas anderes haben die Philosophen früher doch eigentlich auch nicht getan.

III Seite 650-672 Der Abend bei Madame de Guermantes ist zwar langweilig, aber ganz dialektisch schiebt es Marcel auf sich selbst, denn ohne ihn als "hemmenden Zeugen" würde sicher alles so schön sein, wie er es sich immer vorgestellt hatte. Erst sein Aufbruch würde den Gästen erlauben "nachdem der Profane gegangen war, endlich ihre geheimnisvolle Gemeinschaft zu konsolidieren." Das ist sehr aufmerksam von ihm, aber in Wirklichkeit merken gerade diejenigen, derentwegen sich alle über Nichtigkeiten unterhalten müssen, das am wenigsten.

Als er endlich fort ist, denkt er im Wagen über diesen speziellen, flüchtigen Rausch nach, den einem die Gesellschaft anderer Menschen verschafft. Man weiß, daß das Bedürfnis, die anderen zu sehen, deren Abwesenheit nicht überleben wird, ohne daß dieses Wissen dem Bedürfnis seine Stärke nehmen würde: "Ihre Zuneigung überlebt nicht den Überschwang, der sie diktiert hat." Die Herzogin löst sogar manchmal eine Blume von ihrem Kleid und schenkt sie jemandem, mit dem sie gern einen noch längeren Abend verlebt hätte "...wobei sie doch ein melancholisches Gefühl dafür besaß, daß eine solche Verlängerung zu nichts anderem hätte führen können als zu eitlen Gesprächen, in die nichts übergegangen wäre von dem nervösen Vergnügen der flüchtigen Erregung und die in dem Eindruck von Müdigkeit und Trauer, die sie hinterließen, untergegangen wären wie die erste Frühlingswärme."

Im Vestibül wird Marcel peinlicherweise dabei beobachtet, wie er seine "snowboots" überzieht, amerikanische Gummischuhe. Der Herzog persönlich hilft ihm schließlich hinein.

Der Rausch der Gesellschaft mündet in Melancholie, weil alles daran künstlich ist. Es gibt immer zwei Kräfte "die eine steigt aus uns selber auf, sie entströmt den Erlebnissen unseres Inneren, die andere kommt uns von außen zu." Die eine bringt schöpferischen Menschen Freude, "Die andere Strömung, die auf uns die Bewegtheit zu übertragen versucht, von der Personen außer uns bestimmt werden, ist nicht von Genuß begleitet; doch können wir ihr rückwirkend etwas Ähnliches hinzusetzen in Gestalt eines Rausches, der so künstlich ist, daß er sehr schnell zu Überdruß und zu Trauer wird; daher der trübe Blick so vieler Weltleute, darum bei ihnen auch so viele nervöse Zustände, die zuweilen bis zum Selbstmord führen." Ich hatte immer, wenn ich einmal in flüchtigen Kontakt mit solchen nach außen orientierten Menschen, die von äußerem Erlebnis zu äußerem Erlebnis pilgern, das Gefühl, man flöße ihnen, als langweiliger, zurückgezogen lebender, dabei aber konzentriert arbeitender Mensch, eine ähnliche melancholische Bewunderung ein, wie wir sie angesichts eines Holzfällers erleben, der sein Leben im Wald verbringt, oder eine Sehnsucht, wie wenn wir mitten in der Stadt den Geruch von Mist wahrnehmen, der an eine Welt erinnert, in der alles gesund ist und die Nerven zuverlässig arbeiten wie robuste Überlandleitungen. Aber diese Bewunderung bedeutet nichts, die nach außen orientierten Menschen wollen mit einem am Ende ebensowenig tauschen, wie mit den Tieren im Zoo.

"Die großen Herren sind fast die einzigen, von denen man ebensoviel wie von Bauern lernt", weil sie vom Boden ihrer Landsitze stammen, im Gegensatz zur Welt des Geldes, die davon keine Ahnung mehr hat. Man kann also viel über eine untergehende Welt von ihnen lernen. "Das Vergnügen, das in ihrer Gesellschaft ein Schriftsteller viel eher als unter anderen Schriftstellern findet, ist nicht ohne Gefahren, denn er kommt in die Lage zu meinen, die Dinge der Vergangenheit hätten einen Reiz in sich selbst, und neigt dazu, sie einfach so, wie sie sind, in sein Werk zu übernehmen, das in diesem Falle totgeboren wäre und eine Langeweile ausströmte, über die er sich dann mit den Worten tröstet: 'Es ist hübsch, denn es ist wahr, so drückt man sich eben aus.'" Den Eindruck hat man, bei aller Bewunderung, manchmal bei Kempowski, aber die Gefahr besteht sicher ganz allgemein für alle, die sich für Fundstücke interessieren.

Bei Charlus läßt man Marcel eine halbe Stunde im Salon warten, dann wird er zu ihm geführt. Charlus liegt auf dem Kanapee und macht ihm eine Szene, wie ein eifersüchtiger Liebhaber, wobei man die enttäuschte Sympathie aus den schlimmsten Tobsuchtsausbrüchen heraushören muß. "...ich würde vielleicht ein wenig den Sinn der Worte forcieren, was man aus bloßer Selbstachtung schon nicht tun soll, selbst jemandem gegenüber nicht, der ihren Wert nicht kennt, wenn ich Ihnen sagte, ich hätte für Sie Sympathie gehabt." Er bietet ihm keinen Stuhl an, wie er es auch sonst liebt, "den König zu spielen – sich auf einem Fauteuil im Rauchzimmer auszustrecken und die Gäste um sich herum stehen zu lassen." Als Marcel sich setzen darf, erkennt er den Louis-Quatorze-Sessel nicht als solchen, und sinkt dadurch weiter in Charlus' Achtung: "Eines Tages werden sie die Knie von Madame de Villeparisis für den Abtritt halten und wer weiß was darauf tun."

Was hat Marcel falsch gemacht? Charlus macht nur beleidigte Andeutungen über einen "Verrat". Dazu kommt, daß er ihm in Balbec zum Abschied ja ein Buch von Bergotte geschenkt hatte, und Marcel hatte darauf das Vergißmeinnichtmotiv aus der Kirche von Balbec offenbar nicht gesehen. "Gab es eine deutlichere Art, Ihnen zu verstehen zu geben: 'Vergessen Sie mich nicht'?"

Charlus ist völlig unberechenbar, vielleicht ist diese ganze Szene auch nur eine Inszenierung. Jedes Zugeständnis kleidet er in eine Beleidigung: "...daß ich über ein Verhalten nur gelächelt habe, das man als Unverschämtheit bezeichnen könnte, wenn es in Ihrer Macht läge, mir gegenüber, der ich so hoch über Ihnen stehe, solche zu betätigen..."

Marcel wird übrigens plötzlich mit wörtlicher Rede zitiert.

Sie kennen sich noch gar nicht, aber Charlus erklärt die Bekanntschaft schon für beendet, weil Marcel versagt habe. Unter Tränen erklärt er, daß er mit ihm doch so viel vorhatte. "Ich werde Ihren Namen vergessen, nicht aber Ihren Fall, damit ich an Tagen, da ich versucht sein könnte zu glauben, daß Menschen über Herz und Höflichkeit oder auch nur über so viel Klugheit verfügen, daß sie sich eine unvergleichliche Chance nicht entgehen lassen, mich daran erinnere, wie sehr ich sie damit überschätze."

Von welchem Verrat ist die Rede? "Glauben Sie, der giftige Speichel von fünfhundert kleinen Kerlen, wie Sie, selbst wenn sie sich aufeinanderhocken, könne auch nur meine erhabenen Zehen berühren?"

Und es kommt zu einer bemerkenswerten Reaktion des gedemütigten, mißverstandenen Marcel, der diesen Besuch doch mit so großen Erwartungen angetreten hatte: "...so stürzte ich mich denn auf den neuen Zylinderhut des Barons, schleuderte ihn zu Boden, trampelte darauf herum und ließ nicht locker, bis ich ihn völlig zerfetzt hatte; ich riß den Kopf heraus und zerbrach die Krempe, ohne auf das wütende Gebrüll von Monsieur de Charlus zu hören, das immer noch weiterging..." So reagiert niemand, der 1800 Seiten lang eigentlich nur beobachtet und reflektiert. Die Szene erinnert an die Szene, in der er sich hinter dem Lorbeer auf Gilberte gestürzt hatte.

Ein neuer Hut wird sofort gebracht. Charlus begleitet Marcel zur Tür. "Sie sollten wenigstens so viel Klugheit zu besitzen, eine letzte Unterhaltung zu einer Bemerkung zu nutzen, die nicht absolut gegenstandslos ist." Den Satz merken wir uns für unser nächstes letztes Gespräch mit der nächsten Ex-Freundin in spe.

Unklares Inventar: Modern-Style-Möbel, Boulle-Möbel, bei "Bing" gekaufte Möbel, Sankt-Josephs-Krawatten.

Katalog kommunikativer Knackpunkte: "...setzte er in schmeichelndem Ton, der immer fragwürdiger wurde und zuletzt wie ein hinterhältiges Lächeln auf seinen Lippen schwebte..."

Verlorene Praxis: - Die Orchideengirlande an seiner Brust zurechtzupfen.

  • Seinen "kleinen Diener" ausschicken, auf der Stelle ein Exemplar von Hugos Feuilles d'Automne zu kaufen.

Verschollenes Wissen: Wenn eine Hoheit anwesend ist, darf man eine Gesellschaft erst nach ihr verlassen.

Selbständig lebensfähige Sentenz: "Aber gerade dadurch, daß man einen vereinzelten Vers zitiert, verzehnfacht man seine Anziehungskraft."

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