Schmidt liest Proust
Montag, 16. Oktober 2006

Berlin - III Die Welt der Guermantes - III Seite 694-714 (Schluß von Teil III)

Schon morgens unangenehmer Druck hinter der Stirn, obwohl die Erkältung vom Wochenende eigentlich ausgestanden sein müßte, rechtzeitig zum nächsten Kindergartenbesuch, wo man sich dann die neuesten Mikroben abholen geht. Die Natur will das anscheinend so, damit man eher stirbt als die Kinder, und die Ordnung nicht durcheinandergerät. Der einzige Moment am Tag, wo ich mich kurzzeitig etwas frischer fühle, ist nach dem Mittagsschlaf und momentan ist es danach meistens schon dunkel, was den positiven Effekt sofort wieder aufhebt. Manchmal komme ich auch nachts um 1 plötzlich in Schwung und muß mich zwingen, ins Bett zu gehen. Sich energiegeladen fühlen ist auch keine Lösung, weil man dann dazu neigt, seine Zeit mit Tätigkeiten zu vertrödeln.

Während im Radio Eltern über die Trotzanfälle ihrer Kinder berichten, die ein gutes Zeichen seien und wichtig für deren Entwicklung, suche ich in meinem Gedächtnis nach dem Namen und zwischen den Zettelbergen auf meinem Tisch nach dem Zettel mit dem Namen dieses Redakteurs, bei dem ich mich melden muß, seit das zu rezensierende Buch, das er mir geschickt hat, wieder zurück an die Redaktion gegangen ist, weil die Annahmestelle dieses obskuren Postdienstes irgendwo im nördlichen Wedding lag, also weiter entfernt, als die Redaktion selbst und für mich innerhalb der Wochenfrist nicht zu erreichen. Die Suche nach dem Zettel, dessen Existenz ich nur vermuten kann, kostet mich den halben Vormittag, alles nur, weil ich diesen offenen Punkt aus meinem Gewissen streichen will. Solche Dinge belasten einen, sogar, wenn man nicht daran denkt. Jedesmal, wenn mich (selten genug) jemand anruft, um mir einen der für mich lebenswichtigen Aufträge anzubieten, stöhne ich innerlich laut auf und sage sofort zu, um dann zu leiden, als hätte ich mich freiwillig zur Hinrichtung gemeldet, so wie bei dem Nachruf, den ich schon seit drei Wochen schreiben soll, ohne auch nur die Hinterbliebenen angerufen zu haben. Hoffentlich erinnern sie sich noch an den Verstorbenen, wenn ich endlich so weit bin.

Der Stapel Bücher, die ich gekauft habe und nicht einsortieren kann, weil ich sie dann nie wieder ansehen würde: Das Erdbeben in Lissabon, Inge-Müller-Biographie, Nicholson Baker "Eine Schachtel Streichhölzer", Aufsätze zu Einstein. Vielleicht kann ich das alles unauffällig wieder auf den Wühltisch schmuggeln, dann müßte ich es nicht lesen? Die Zettelberge, über ein Jahr Tagespläne und schnell hingekritzelte Telefonnummern ohne erklärenden Namen, was prüfende Anrufe immer riskant macht. Ganz unten unter russischen und rumänischen Zeitungen und schon insgesamt drei dicken Briefen der BfA mit der Bitte um Rentenkontoklärung, das Programm der letzten Berlinale, das ich ohne Bedenken wegwerfen kann. Solche Erfolgserlebnisse beim Aufräumen verschafft es einem, wenn man sinnlose Sachen aufhebt, deshalb sollte man immer welche vorrätig haben.

Aber wo ist die Rechnung über 1000 Euro, die wir an den Veranstaltungsort der letzten Brillenschlangenparty zahlen müssen, weil sie von ihrer Seite her alles dafür getan hatten, daß die Party unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfand? Einfach die Mahnung abwarten? Aber so, wie die drauf waren, schicken die gleich die Polizei...

Diese ewige Müdigkeit, wann waren meine Augen mal nicht entzündet? Ich hab noch gar nichts gefrühstückt, und jetzt ist schon wieder Mittagszeit. Den halben Vormittag bin ich online gewesen, um den Moment der Einschreibung für den Latinumskurs nicht zu verpassen, dann habe ich um Punkt 13:00 geklickt, um festzustellen, daß die Einschreibung erst morgen ist. Zum Glück bin ich nicht extra ins Rechenzentrum gefahren, wie mir geraten wurde, weil man wegen der günstigeren Verbindung von dort die besten Chancen hätte, bei der Online-Buchung einen Platz zu ergattern. Zweimal mußte ich schon wieder gehen, weil der Kurs zu voll war und gelost wurde. Und dabei weiß ich gar nicht, wie das werden soll, wenn ich jetzt auch noch Latein machen muß, ich schaffe es ja aus Zeitgründen schon nicht mal mehr, mich morgens anzuziehen und laufe den ganzen Tag bibbernd in ein Handtuch gehüllt durch die Wohnung.

Und seit gestern muß ich wieder Tag für Tag Wollsocken überziehen, weil meine Füße frieren, was noch mehr Zeit frißt. Meine ganze Kindheit über habe ich nie das Bedürfnis empfunden, Hausschuhe zu tragen, war es im Plattenbau so warm? Damals war eben noch alles gut, auch wenn wir nur schwarz-weiß hatten. Ich sollte froh sein, daß ich mich überhaupt noch so tief bücken kann, und bei den Socken keine Hilfe brauche, aber Dankbarkeit war noch nie meine Stärke.

Und die schlimmsten Sachen, die einem am meisten zusetzen, kann man hier gar nicht berichten, weil sie entweder unappetitlich sind oder zu privat.

Irgendetwas aufmunterndes muß heute noch passieren, sonst gehen hier bald die Lichter aus.

III Seite 694-714 (Schluß von Teil III) Der Herzog läßt von Swann seinen vermeintlichen Velazquez begutachten: "Aber Sie, ein Liebhaber, ein Meister dieses Fachs, wem schreiben Sie es zu? Swann zögerte einen Augenblick beim Anblick dieses Bildes, das er offenbar scheußlich fand. 'Der Bosheit', gab er lachend dem Herzog zur Antwort, der eine Regung der Wut nicht ganz unterdrücken konnte."

Swann sagt zu Marcel: "...alle diese Leute gehören einer anderen Menschenart an. Man hat nicht ungestraft tausend Jahre Feudalwesen in seinem Blut." Der Druck, der auf einem lasten muß, wenn man nicht nur einen bedeutenden Vater, sondern eine ganzen Clan hinter sich hat, aus dem es kein Entkommen gibt. Zum Glück habe ich es aufgegeben, mich für alles, was die Schmidts in der Geschichte getan haben, verantwortlich zu fühlen.

Die Guermantes sind aber so exklusiv, daß Gilbert, der Mann der Prinzessin von Guermantes, es als Makel für ihren Namen ansieht, daß Oriane und ihr Mann sich vom Präsidenten der Republik, also einem bürgerlichen, haben einladen lassen. "Es war ein Minister da, der gestohlen hatte." Man darf auch nicht vergessen, daß die Revolution in diesen Familien einige Köpfe gefordert hat. Etwas, was man sich als Deutscher ja erst klarmachen muß.

Es muß ein eigenartiges Gefühl sein, so einen Ballast von Familie hinter sich zu spüren. Bei unseren Mitteln der Dokumentation jedes unserer Schritte, müßte in tausend Jahren fast jeder Mensch über einen lückenlosen Stammbaum verfügen, wie heute nur die ältesten Geschlechter. Und nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung wird, sofern die Welt ewig besteht, jede Familie einmal den Bundeskanzler stellen. Um wie der Herzog sagen zu können: "...daß der Großvater des Königs von Schweden noch in Pau seinen Kohl gebaut hat, als wir schon neun Jahrhunderte in ganz Europa ganz obenan gewesen sind." Man gruselt sich fast, wenn man denkt, daß diese Kreise ja nicht ausgestorben sind, sondern ihre selbstgerechten Seilschaften immer noch pflegen.

Manchmal ist die Herzogin ja ganz originell, aber darunter liegt eine Schicht von eiskalter Grausamkeit. Sie hat ja einen Diener, der wegen der Dienstzeiten seine Verlobte im Grunde nie zu Gesicht bekommt. Nun soll er einmal frei bekommen, da die Herren ja zum Kostümball gehen, aber weil sich das Glück darüber, nun endlich einen Abend Zeit für seine Verlobte zu haben, so überdeutlich auf seinem Gesicht abzeichnet, ein Glück "über das sie gereizt und auf welches sie eifersüchtig war", befiehlt die Herzogin kurzerhand, daß er doch zuhause zu bleiben habe, ihr werde vielleicht später noch einfallen, wofür sie ihn brauchen werde.

Endlich ist auch der Bote vom todkranken Vetter zurück: "- Er ist gerade gekommen, Durchlaucht. Man befürchtet jeden Augenblick das Ableben des Herrn Marquis.

  • Ah! Er lebt! rief der Herzog mit einem Seufzer der Erleichterung aus." Eine ganz eigene Version der Geschichte vom halbvollen Glas.

Eine Frau Gräfin Molé hat am Morgen ihre Karte abgegeben, und zwar, weil sie keine hatte, einfach einen ziemlich großen Briefumschlag, mit ihrem Name darauf. Für die Herzogin eine Provokation, denn: "Sie will uns glauben machen, sie habe keine Karte, und dabei gleichzeitig ihre Originalität beweisen. Aber wir kennen das alles, nicht wahr, mein guter Charles, wir sind etwas zu alt und selbst originell genug, als daß wir Esprit von einer kleinen Dame lernen müssen, die erst seit vier Jahren ausgeht." Aber noch weiß sie nicht, wie sie ihr eine vom "Geist der Guermantes" inspirierte Antwort schicken soll.

Eine Nebenbemerkung: auf Seite 708 kommt der seltene Fall eines Doppelpunkts, der von einer Klammer gefolgt wird vor: "...fuhr aber dann umso schneller fort:) Was du da sagst, gilt im übrigen..." Man kann gar nicht anders, als diese Kombination als Smiley zu sehen, weil man das von heute so kennt. So verändert die Gegenwart ein Buch aus der Vergangenheit, bis der Autor es nicht mehr wiedererkennen würde.

Nun will die Herzogin unbedingt noch Swanns "Riesenphotographie" mit den Maltesermünzen auspacken. Ihr Mann ist genervt, er will endlich los: "Mach das, was du willst. Wenn es in deinem Schlafzimmer hängt, besteht noch die größte Aussicht, daß ich es niemals sehe, sagte der Herzog, ohne zu bedenken, daß er damit ziemlich gedankenlos den negativen Charakter seiner ehelichen Beziehungen offenbarte." Das Foto hat eine ebenso große Hülle, und jetzt kommt der Herzogin eine Idee, wie sie die provisorische Karte der Gräfin Molé kontern kann, sie läßt ihr einfach diese riesige Hülle als ihre Karte schicken. Das ist der "Geist der Guermantes" und selbst der kranke Swann muß lachen.

Der Herzog, der immer noch fürchten muß, die Nachricht vom Tod seines Vettern könne ihm den Abend verderben, sitzt auf Kohlen: "'Also auf, Oriane, aufs Pferd', sagte der Herzog, der bereits seit längerem vor Ungeduld auf der Stelle trabte, als gehöre er selbst zu dem wartenden Gespann." Aber es kommt zu einer weiteren kleinen Verzögerung, weil Swann, auf das Drängen der Herzogin hin, ihr zu erklären, warum er sie nicht nach Venedig begleiten können werde, sagt: "- Meine liebe Freundin, weil ich dann schon mehrere Monate tot sein werde."

Was für eine Eröffnung! Und wie reagiert man darauf, zwischen Tür und Angel? "Zum ersten Mal in ihrem Leben zwischen zwei so ganz verschiedenen Pflichten stehend wie der, in ihren Wagen zu steigen, um sich zu einer Dinereinladung zu begeben, und der, einem Sterbenden Mitleid zu bezeigen, fand sie in ihrem Kodex des richtigen Verhaltens keine Regel, die sie anwenden konnte..." Zwei Höflichkeiten blockieren sich, Swann möchte sie nicht aufhalten "Aber auch die Höflichkeit der Herzogin gestattete ihr, undeutlich zu spüren, daß das Diner, zu dem sie ging, für Swann wohl weniger zählen mochte als sein eigener Tod." Immerhin! Die einzige Lösung ist, Zuversicht anzumahnen und die Nachricht herunterzuspielen, die Ärzte sind schließlich allesamt Dummköpfe. Der Herzog duldet keinen weiteren Aufschub, Swanns Tod muß warten. Doch im letzten Moment entdeckt er, daß Oriane zu ihrem schwarzen Kleid rote Schuhe trägt. Das geht dann doch nicht, soviel Zeit muß sein, man nimmt die Verzögerung in Kauf und läßt nach den schwarzen Schuhen schicken. Wenn das keine Akzentuierung von Walter Benjamins schöner Einsicht ist: "Es gibt für die Menschen, wie sie heute sind, nur eine radikale Neuigkeit – und das ist immer das gleiche: Der Tod." Das heißt für die meisten Menschen ist diese Neuigkeit nur der eigene Tod, der der anderen ist eher eine Bildstörung.

Bevor Schuhe eintreffen, werden die Gäste schon zur Tür hinausgeschoben, und der Herzog ruft Swann "...aus guter Erziehung und angeborener Munterkeit" jovial beruhigende Worte nach.

Wie schön, daß der Schluß dieses ganzen Buchs Swann gewidmet wurde, der darin bisher gar nicht aufgetaucht war. Seine Noblesse, sein Kunstverstand, sein verhindertes Künstlertum. Dagegen die Oberflächlichkeit und Herzlosigkeit der mondänen Gesellschaft, die eine einzige Verdrängungsmaschinerie ist. Was die Charakterisierung unserer Gesellschaft als "Spaßgesellschaft" noch lächerlicher macht, weil das, was mit diesem Begriff gemeint sein soll, offenbar noch keiner Zeit gefehlt hat.

Katalog kommunikativer Knackpunkte: - "...sagte der Herzog, indem er auf Swann den Blick zugleich eines Inquisitors und eines Folterers warf, da er gleichzeitig in seinen Gedanken lesen und seine Antwort in eine bestimmte Richtung zwängen wollte."

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