Schmidt liest Proust
Mittwoch, 4. Oktober 2006

Berlin - III Die Welt der Guermantes - Seite 437-457

Man muß sich auf seine Stärken besinnen, und meine ist nunmal zu nörgeln. Deshalb als Ergänzung zu gestern:

Das ist mir unangenehm

  • Die Beine so übereinander schlagen, daß die Kniescheibe des stützenden Beins, sobald man dessen Oberschenkel anspannt, vom aufliegenden Bein blockiert wird.
  • Wegen der durchscheinenden Sonne von der Zeitung nichts erkennen können.
  • In die Dusche steigen, bevor das warme Wasser kommt.
  • Die Zeitung, weil auf dem kleinen Caféhaustisch der Platz nicht reicht, über den Teller halten müssen.
  • Auf dem Flur einer kommunalen Einrichtung, oder in einem engen Café, mit übergeschlagenen Beinen dasitzen, und das aufliegende Bein dauernd zurückbiegen müssen, damit die Vorübergehenden nicht darüber stolpern.
  • Noch mitten am Tag eine von Marmelade klebrige Stelle am Finger haben.
  • Eine Kaffeepfütze auf dem Untersetzer.
  • Einen an der Tasse runtergleitenden Tropfen mit der Zunge auffangen wollen und dabei die heiße Kaffeetasse berühren müssen.
  • Mit unangespitzem Bleistift schreiben, oder mit einem Bleistift, dessen Spitze einen Grat hat und sich ins Papier kratzt.
  • Eine notorisch aus dem Bezug rutschende Decke.
  • Sauce, die auf Hosen tropft.
  • "Schnee, der auf Zedern fällt" (so wie alle Filme, deren Kameramann sich für einen Künstler hält und auch noch tatsächlich begabter ist als der Regisseur).
  • Wenn der Löffelstil, weil der Joghurtbecher so tief und der Löffel so kurz ist, beim Auskratzen an den Rand vom Becher kommt und beschmaddert wird.
  • Für Joghurt, nur weil der Becher so tief ist, einen großen Löffel benutzen müssen, der eigentlich für Suppe gedacht ist.
  • Im Imbiß beim Greifen der Serviette versagen und mehrmals nachfassen müssen.
  • Beim Suppe essen aus der Nase laufende Suppe.

Seite 437-457 Nachdem er lange genug darüber meditiert hat, wie es wäre Albertine zu küssen, sagt er: "Wenn ich Sie wirklich küssen darf, so möchte ich es lieber auf etwas später verschieben und selbst den Augenblick bestimmen. Sie dürfen dann nur nicht vergessen, daß Sie es mir erlaubt haben. Was ich brauche, ist also ein 'Gutschein für einen Kuß'." Eine bizarre Bitte, die aber sicher einem infantilen Muster folgt. Der Frau wird die umfassende Verfügbarkeit der Mutter für das Kleinkind abverlangt, und gleichzeitig behält man die Kontrolle, weil man sie an und abschalten kann.

Er denkt in der Zeit erst noch einmal über das Küssen ansich nach, für das dem Menschen ein eigenes Organ fehlt: "Dies fehlende Organ ersetzt er durch die Lippen und kommt dadurch vielleicht zu einem befriedigenderen Ergebnis, als wenn ihm zur Liebkosung der Angebeteten nichts anderes zur Verfügung stünde als ein Hauer aus Knochensubstanz." Das wäre ein schönes Sachbuchprojekt: "Die Welt der Liebkosungen", mit allen in der Tierwelt vorkommenden Sabber-, Rüttel- und Stupsvarianten und den dazugehörigen Spezialorganen. Beim Menschen in Ermangelung einer Kußvorrichtung eben die Lippen. "Die Lippen aber, die dafür gemacht sind, dem Gaumen den Geschmack verlockender Dinge zuzuführen, müssen sich, ohne ihren Irrtum zu begreifen und sich ihre Enttäuschung einzugestehen, damit begnügen, auf der Oberfläche umherzutappen und sich an der Verschlossenheit der undurchdringlichen, begehrten Wange zu stoßen." Ja, es ist ein elendes umhertappen, es sei denn, man wagt den Schritt, die Frau einfach aufzuessen, was nur konsequent wäre.

Zu der Veralberung des Gaumens kommt noch die Verwirrung durch den Perspektiv- und Tonwechsel bei der Annäherung, denn Marcel hat "...auf dem kurzen Weg, den meine Lippen bis zu ihrer Wange zurücklegten, zehn Albertinen nacheinander vor mir..." Das Auge funktioniert hier wie eine Kamera, die alleine durch ihre technischen Möglichkeiten neue Wirklichkeiten erzeugt. Die Frau kann noch froh sein, daß Marcel statt seiner Augen kein Rastelektronenmikroskop gewachsen ist, sonst würde er seinen Blick bis in ihre Poren tauchen. Allerdings ist das Ergebnis der Annäherung auch mit menschlichem Auge wieder ein neuer Posten in der Liste der Ernüchterungen, denn "mit einem Male hörten meine Augen zu sehen auf, und meine fast dicht aufliegende Nase stellte keinen Duft mehr fest; und ohne darum besser den Geschmack der ersehnten Rose zu kosten, erfuhr ich durch diese hassenswerten Symptome, daß ich im Begriffe war, Albertines Wange zu küssen."

Ein anderes Phänomen, die Winzigkeit, die schon eine völlige Wandlung des menschlichen Gesichtsausdrucks bewirkt, in Balbec hatte sie ihn auf seine Kußattacke hin noch streng angesehen: "Zweifellos unterschied sich von jener Miene von damals der lustvolle Ausdruck, den heute ihr Gesicht bei der Annäherung meiner Lippen annahm, nur durch eine Abweichung unendlich kleiner Liniengefüge, in der jedoch die ganze Distanz zwischen der Gebärde eines Menschen liegen kann, der einem Verwundeten den Rest gibt, und der eines selbstlosen Helfers, zwischen einem erhabenen und einem widerwärtigen Porträt." (wobei man hinzufügen könnte, daß der Ausdruck ja sogar derselbe sein kann, und wir ihn nur anders interpretieren.)

Was sie weiter treiben bleibt etwas vage. Ihre Liebkosungen rufen bei ihm "jene Befriedigung" hervor, wie damals mit Gilberte auf den Champs-Elysées "hinter dem Lorbeerboskett" (ein Nachtrag: Doktor du Boulbon hatte der Großmutter ja mit gelehrten Anspielungen empfohlen, zur Erholung genau zu diesem Lorbeergebüsch zu spazieren, "das ihr Enkel so liebt", wo sich dieser aber in Wirklichkeit einmal auf Gilberte gestürzt und vorzeitig ejakuliert hatte. Auf dem Weg dorthin erleidet die Großmutter dann ihren Schlaganfall, womit schon dem eigentlichen Ziel dieses für Marcel so unrühmlich verlaufenen Ausflugs eine schuldvolle Erinnerung anhaftete.)

"Es schien ihr peinlich zu sein, gleich nach dem, was sie getan hatte, wieder aufzustehen..." Aber was hat sie denn getan? Versteht sich das für den zeitgenössischen Leser Prousts von selbst? Gehen wir zu weit in unserer Phantasie oder im Gegenteil nicht weit genug, weil wir diese Epoche in der Beziehung unterschätzen, so wie wir uns nicht vorstellen können, unsere Großeltern hätten jemals Sex gehabt? Daß sie sich siezen bedeutet hier anscheinend gar nichts: "Wann sehe ich Sie wieder? setzte sie in der selbstverständlichen Annahme hinzu, daß das, was wir getan hatten, da es ja gemeinhin deren Krönung ist, doch wenigstens das Vorspiel einer großen Freundschaft sein müsse, einer bereits vorgeformten Freundschaft, zu deren Entdeckung und offenem Eingeständnis wir nunmehr verpflichtet seien, da sie allein erklären konnte, daß es zwischen uns so weit gekommen war." Diese Freundschaft dürfte ein ungedeckter Scheck sein, es heißt ja nicht umsonst: Wer kauft schon die Kuh, wenn er die Milch umsonst haben kann? "Als sie an der Tür stand, hielt sie nur, offenbar etwas verwundert, daß ich ihr nicht zuvorkam, ihre Wange hin, wohl in der Meinung, daß jetzt kein ausgesprochen physisches Verlangen nötig war, damit wir einander küßten." Worin sie natürlich sicher irrt.

Marcel ist ein vielgefragter Jüngling, die Dinge kommen für ihn in Bewegung. War er nicht bis vor kurzem in die Herzogin von Guermantes verliebt? Ja, aber seine Mutter hatte ihn geheilt, indem sie ihm die Hände auf die Stirn gelegt, und ihm ins Gewissen geredet hat, doch seine Morgenspaziergänge aufzugeben, auf denen er immer der Madame begegnen wollte. Das Handauflegen der Mutter hatte für ihn die heilende Wirkung eines Hypnotiseurs, er war augenblicklich von seiner Liebe zur Madame geheilt (auch ziemlich ödipal...). Nun ist aber nicht in jemanden verliebt zu sein, das beste Mittel, bei demjenigen zu landen: "Feen, die mächtiger als die Menschen sind, haben es so bestimmt, daß in solchen Fällen nichts fruchtet bis zu dem Tag, da wir aus aufrichtigem Herzen uns sagen: 'Ich liebe nicht mehr.'" Treat her mean to keep her keen! "Selbst im einzelnen Ablauf einer Neigung hilft eine Abwesenheit, die Ablehnung einer Einladung, eine unbewußte Strenge weit mehr als alle Schönheitsmittel und die gewählteste Kleidung." Bei Madame de Villeparisis verläßt die Herzogin auch prompt "ihre Sternenbahn", setzt sich neben den inzwischen ganz gleichgültigen Marcel auf einen Polsterstuhl und streift ihn dabei fast "mit ihrem wundervollen nackten Arm". Sie lädt ihn in ihren Salon ein, der für Neulinge ja sonst eigentlich ganz unzugänglich ist. Er kann an dem Abend aber gar nicht, und das ist der Schlüssel zum Erfolg: "Die Großen dieser Welt sind derart gewöhnt, umworben zu werden, daß, wer sie meidet, wie ein weißer Rabe ihre Aufmerksamkeit auf sich zieht."

Unklares Inventar: - Bergère.

Selbständig überlebensfähige Sentenz: - "...kupplerisches Gelegenheitmachen gehört nun einmal zu den Pflichten einer Gastgeberin."

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