Schmidt liest Proust
Mittwoch, 1. November 2006

Berlin - IV Sodom und Gomorra - Seite 293-313

Zur traditionellen "Traumzaubernacht", in der die Kinder vom Freitag zum Sonnabend im Kindergarten übernachten werden, sollen getrocknete Blätter mitgebracht werden. Es regnet aber, und ich bin zu faul, Laub zu sammeln. Ich weiß gar nicht, wo man Löschbapier kaufen kann (Sachen, von denen ich nicht weiß, wo man sie bekommt: Schaumgummiüberzug für Ohrhörer. Schlafmützen.) Diese Maßnahme erinnert mich an die Methode, wie einem in der Schulzeit immer die Ferien verdorben wurden, weil man danach für den Biologieunterricht ein Herbarium mitbringen sollte. Ich habe das bis zum letzten Ferientag vor mir hergeschoben, um dann an einem trüben Sonntagnachmittag über nasse Wiesen zu irren, in der Hoffnung, vielleicht doch noch mehr als nur das gemeine Wiesengras zu finden, alles andere hätte man früher sammeln müssen. Zu Hause mußte man die kümmerlichen Fundstücke pressen und bestimmen, was ohne jeden Bezug zur Wirklichkeit war, und das Ergebnis konnte sich mit meinem Popelalbum, das ich freiwillig führte, sowieso nicht messen.

Pflichten schob man prinzipiell vor sich her, so daß man eigentlich immer bedrückt war und sich nie richtig frei fühlte. Heute sind es andere Pflichten, aber das Gefühl ist dasselbe, es liegt immer irgendetwas unangenehmes an. Denkt man an damals, fragt man sich, warum man so gelitten hat, es war doch alles nicht so wichtig. Die anderen hatten natürlich die schöneren Herbarien (was auch daran lag, daß sie mit den Eltern ins Ausland gefahren waren), manche hatten West-Tesafilm, der sogar kleben blieb, meine Schrift war die krakeligste von allen, aber na und? Wer spricht heute noch von ihren Herbarien? Man hätte das doch ganz souverän durchstehen können.

Ein ähnlich bedrückendes Gefühl kam auf, wenn man seine Mütze vergessen hatte und noch einmal zur Schule gehen und den Hausmeister danach fragen sollte. So einen schrecklichen Gang war mir eine Mütze natürlich nicht wert, aber meine Eltern fanden, ich müßte das lernen. Dabei gab es in unseren Schränken Mützen wie Sand am Meer. Aber man wurde dazu erzogen, unangenehme Pflichten hinter sich zu bringen, danach würde man sich besser fühlen, hieß es. Zweifellos fühlt man sich besser, wenn man es hinter sich hat, aber noch besser fühlt man sich, wenn es jemand anders für einen macht.

Dieselben Pflichten kehrten Jahr für Jahr wieder: sich eine Erfindung für die "Messe der Meister von Morgen" ausdenken, ein Objekt für die "Galerie der Freundschaft" basteln, Bedankungsbriefe für Geburtstag und Weihnachten schreiben, beim Erntedankfest nach dem Gottesdienst mit den anderen Gemeindekindern singend durch die Altersheime ziehen und Fruchtkörbe verteilen, Geburtstagsbriefe an die Paten schreiben, am Klamottenaussortiertag stundenlang zu enge Pullover an- und ausziehen. Dazu jede Woche fünf Mülleimer und Papierkörbe, die einen schon auf dem Hausflur erwarteten, wenn man am Sonnabend aus der Schule kam, und die man leeren und auswaschen mußte, weil sie nach ausgelaufener Milch und Kartoffelschalen stanken, trotz Zeitung am Boden. Besser, man brachte sie gleich runter, aber man konnte es auch aufschieben und erstmal fernsehen. Oder man versuchte, den Müll irgendwie zu komprimieren oder heimlich in der Wohnung zu verteilen, was viel länger dauerte, als ihn wegzubringen, aber darum ging es nicht, es war irgendetwas an diesem Gang, was einen existentiell quälte.

Faulheit? Oder wollte einen eine innere Stimme in die richtige Richtung lenken, nicht daß man am Ende an solchen Dingen Freude empfand und vergaß, wozu man eigentlich bestimmt war? Aber wenn man sich einmal ansieht, zu welchen Tätigkeiten ich nicht erst langwierig angetrieben werden mußte, was wollte mir meine innere Stimme dann damit sagen? Es waren, grob gesagt, Fußballspielen, Fernsehen, Kokeln und Topfschlagen. Wie konnte man aus diesen Interessen einen passenden Beruf ableiten?

Seite 293-313 In dem Moment, wo in Albertines Gesicht Trauer und Niedergeschlagenheit verschmelzen, und es nicht mehr "...die wache, lebensfrische Miene einer widerspenstigen, verderbten Katze mit kleiner rosa Stupsnase zeigte...", fühlt er, wie sich Güte in ihm entfaltet. Das ist die Strategie von Zuckerbrot und Peitsche, dem "rhythmischen Schwanken zwischen Liebeserklärung und Bruch (dem sichersten, dem so außerordentlich wirksamen und gefährlichen Mittel, um durch aufeinanderfolgende, entgegengesetzte Bewegungen einen Knoten zu schürzen, der sich nicht mehr lösen läßt und uns fest an eine Person bindet)..."

Er wirft ihr und Andrée offen vor, zu gewissen lasterhaften Frauen von "schlechtem Genre" zu zählen, und sie erwidert: "'Wir sind natürlich auch nicht so alt geworden, wie wir sind, ohne Frauen mit kurzgeschnittenen Haaren begegnet zu sein, die sich wie Männer benehmen und dies gewisse Genre haben; nichts aber empört uns gerade wie das.'" Aber was nützt es, sie zur Rede zu stellen? Sagt sie die Wahrheit, glaubt man ihr nicht, lügt sie, läßt man sich gern belügen. "Es liegt übrigens im Charakter der Liebe daß sie uns gleichzeitig mißtrauischer und leichtgläubiger macht, und dazu bringt, leichter als jede andere die Geliebte zu beargwöhnen, ihren Beteuerungen aber auch desto bereitwilliger Glauben zu schenken."

Soll er sie so beurteilen, wie er sie erlebt, oder sich daran erinnern, wie es Swann mit Odette ergangen ist? Jeder Mensch will ja einzigartig sein, aber gibt es wirklich so viele verschiedene Charaktere?

Die Szene, die er ihr gemacht hat, hat sich jedenfalls gelohnt, denn am Ende ihres Zerwürfnisses "...fuhr sie leicht mit der Zunge über meine Lippen, die sich dabei ein wenig zu öffnen versuchte." Und ich hätte gedacht, sie wären eigentlich schon viel weiter gewesen.

Noch ist es nicht zu spät! Er kann sich immer noch ein nettes, unkompliziertes Mädchen suchen, das ihm zu Füßen liegt: "Ich hätte an jenem Abend abreisen sollen, um sie nie mehr wiederzusehen. Damals schon fühlte ich voraus, daß man in einer nicht erwiderten Liebe – man kann ebensogut sagen, in der Liebe überhaupt, denn für manche Wesen gibt es keine erwiderte Liebe – vom Glück nur dies Trugbild erleben kann, wie es mir in einem jener einzigartigen Augenblicke zuteil wurde, bei dem die Güte einer Frau, oder ihre Laune, oder der Zufall unseren Wünschen in vollkommener Harmonie mit den gleichen Worten und Handlungen entgegenkommt, als würden wir wirklich geliebt." Diese Gunst, ist "nur dem einzigartigen Meistertrick einer exzeptionellen Minute" zu verdanken.

Fürchte die heißen Tage, denn bei Marcel ist es so, daß, wenn es so heiß ist, daß "von der Stirn der auf dem Hof arbeitenden Knechte in der Sonnenhitze ein Tropfen Schweiß ganz senkrecht regelmäßig in gewissen Abständen niederfiel wie ein Wassertropfen aus einem Reservoir" (man könnte vielleicht auch kürzer sagen "40° im Schatten"), er dazu neigt, Verabredungen umzustoßen, um die Bekanntschaft einer Frau zu machen, von der man ihm bisher lediglich gesprochen hat. "Ich weiß, daß ich die gleiche Frau bei kaltem Wetter und in der Stadt vielleicht zum Gegenstand meiner Wünsche machen könnte, doch ohne daß diese von einem romantischen Gefühl begleitet wären oder daß ich mich wirklich verlieben würde..."

Aber, wenn er ein geeignetes Opfer ausmacht, "...so befand sich doch zwischen meinem Wünschen und dem Handeln, das in diesem Falle in der Bitte, sie küssen zu dürfen, bestanden hätte, ein undefinierbarer weißer Fleck aus Zögern und Schüchternheit..." Dafür gibt es natürlich Abhilfe. Er geht zum Konditor und nimmt acht (!) Glas Portwein zu sich. Danach scheint es ihm "daß das junge Mädchen mir einfach zufliegen müsse." Der Nachteil an dieser Methode ist lediglich, daß das junge Mädchen ja seinerseits keinen Portwein getrunken hat und deshalb nicht so klar, wie der Junge, erkennt, was ansteht.

Technikgeschichte: die ersten Briefe einer Frau, als man noch Briefe schrieb: "Man möchte sie unaufhörlich bei sich haben wie Blumen, die man noch ganz frisch als Geschenk erhalten hat und die man unaufhörlich betrachten und deren Duft man aus immer größerer Nähe genießen kann." Man liest sie immer wieder, man möchte "...von neuem feststellen, in welchem Maße der eine oder andere Ausdruck von geheimer Zärtlichkeit zeugt." Und man löscht sie erst vom Handy, wenn die nächste Frau aktuell ist, dann aber radikal und ohne Bedauern.

Dabei sind die Arten des Verlangens weniger zahlreich als die Mädchen, denen sie gelten, weshalb "Enttäuschungen und in Traurigkeiten [..] große Ähnlichkeit untereinander hatten." Aber das wissen wir ja schon, daß sich bei ihm immer dasselbe Muster wiederholt.

Zwei private Bedienungen von ländlicher Abstammung kommen manchmal auf sein Zimmer und reden auf ihn ein, während er sein "Hörnchen in die Morgenmilch tauchte..." Aber die "mit ungebärdiger Natürlichkeit", und dadurch schon fast "literarisch" vorgebrachten "aufrichtigen kritischen Bemerkungen" über ihn, lesen wir erst morgen. Wenn dazu dann Zeit ist, wir müssen ja noch buntes Laub für die "Traumzaubernacht" pressen, den Müll trennen und dem Hausmeister zum Geburtstag gratulieren.

Unklares Inventar: - Ballettratte.

Verlorene Praxis: - Als Mutter fürchten, in ungeschickter Weise in das Leben meines Denkens einzugreifen.

  • Als Frau die Lektüre eines jungen Mannes nicht nach dem, was einen selbst schockiert, beurteilen.
  • Lust bekommen, ein herrliches Geschöpf in die Tamariskenallee zu führen.
  • Sich in einer dunklen Ecke des großen Tanzsaals auf einem Sofa genausowenig genieren, als sei man zu Hause in seinem Bett.

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