Schmidt liest Proust
Montag, 6. November 2006

Berlin - IV Sodom und Gomorra - Seite 393-413

Seit damals, wo ich selbst bei diesem Wettbewerb Glück hatte, gucke ich manchmal beim jährlichen Open-Mike vorbei, um mich ein wenig in dem Gefühl zu sonnen, ihn schon gewonnen zu haben und nicht mehr zittern zu müssen. Ich bin natürlich immer sauer, daß ich es in den Presseankündigungen, die sie vorher verschicken, noch nie in die Reihe der ehemaligen Preisträger geschafft habe. Das mögen Kleinigkeiten sein, über denen man stehen könnte, aber mich quält das. Wahrscheinlich gibt es solche Qualen in jedem Beruf, so, wie einen der russische Zollbeamte extra lange warten läßt, weil er will, daß man ihn beachtet. Nur, daß es nicht viel bringen würde, wenn ich die Leser extra lange auf meine Texte warten lassen würde, an den Schaltern nebenan werden sie ja durchgewinkt. Man braucht ein wenig Anerkennung im Beruf, selbst der Mann von der freiwilligen Feuerwehr ist scharf darauf, einen Pickel mehr auf dem Schulterstück zu haben. Wenn Autoren Schulterstücken tragen würden, wäre meins vermutlich noch ganz glatt, und ich müßte immer für die anderen das Klo schrubben.

In diesem Jahr fand der Open-Mike in der Wabe am Thälmannpark statt, wo gleich Erinnerungen an ganz verschiedene Epochen hochkamen. Tiefster Osten, weil dort, den Plakaten nach, Bands spielen, von denen man gar nicht wußte, daß es sie noch gibt. Dann die 90er, in denen ich hier einmal mit Deborah Salsa getanzt habe, wir waren fast die einzigen in dem großen Saal und konnten beide die Schritte nicht, aber sie hat sich immer so schön herumwirbeln lassen. Im letzten Jahr waren hier um diese Zeit die Proben für ein Stück der Choreographin Sommer Ulrickson, bei dem ich mitmachen durfte. Ich bin immer zu spät gekommen, hatte Schnupfen und Angst vor den Schauspielern.

Die Tür zum Saal, in dem jetzt gelesen wurde, war praktisch direkt neben dem Lesepult, man ging also rein und mußte sich durch die auf dem Boden Sitzenden einen Weg zum Rand bahnen, um wenigstens etwas aus dem Blickfeld der Zuschauer zu kommen. Weil ich nicht wollte, daß die Leser es auf sich bezogen, wenn ich gleich wieder gegangen wäre, mußte ich bis zum Ende stehen und bekam sofort Schweißausbrüche, weil mir das so peinlich war. Man redet sich in solchen Momenten immer gut zu, immerhin hat man es ja hierher geschafft, andere gehen in meinem Alter gar nicht mehr unter Menschen. Außerdem ist die Peinlichkeit nur eine Umkehrung der übertriebenen Eigenliebe, die auf einen zurückfällt, wenn man sich nicht genug respektiert fühlt. Außerdem ist nichts peinlich, solange man sich nicht selber peinlich fühlt (aber nicht jeder, dem nichts peinlich ist, ist deshalb cool, die meisten sind eben peinlich.)

Obwohl die Vorauswahl bei diesem Wettbewerb aus anonymen Einsendungen getroffen wird, kamen fast alle Teilnehmer von den großen Literaturschulen und schrieben ihre Texte im Präsens. Gewonnen haben drei Mädchen, wobei man keiner der drei vorwerfen kann, daß die anderen beiden auch Mädchen waren.

Hinterher habe ich jemanden kennengelernt, der in den 80er Jahren nach einem abgelehnten Ausreiseantrag in der Stadtbibliothek Mitte als Pförtner untergekommen ist. Ich hätte ihn gern sofort überredet, darüber ein Buch zu schreiben. Ich war in der Zeit dauernd in der Stadtbibliothek, um für eine Arbeit über jüdische Mathematiker zu recherchieren, die ich mir aufgehalst hatte. Das Thema der Arbeit war ein Trick, eigentlich galt solches Philologenzeug an unserer Schule nicht als wissenschaftlich, und ich hätte irgendwelche komplexen Gleichungen lösen oder chemische Elemente entdecken sollen, aber ich setzte darauf, daß sie sich nichts zu sagen trauten, wenn ich etwas mit Juden machte. Heute befremdet es mich, wie befriedigend ich es in diesem Alter schon fand, mich bis in den späten Abend hinein, wenn schon die letzten den Lesesaal verlassen hatten, in alte Lexika und Zeitschriftensammlungen zu vertiefen, statt in der Zeit mit den anderen Jugendlichen vor der Kaufhalle zu sitzen und Prasselkuchen zu essen.

Die Karteikästen, das Gefühl, alles Wissen der Welt zur Verfügung zu haben, einen eigenen Schreibtisch besetzen zu können und mit seinen Büchern zu füllen, vielleicht fand ich das ja erwachsen. Kopiergeräte gab es natürlich nicht, man mußte seine Kopien einzeln bestellen und holte sie dann am nächsten Tag ab. Es war so eigenartig bläuliches Papier, das nach Chemie roch. Der Mann an der Garderobe wirkte ein wenig durchgedreht, manchmal schimpfte er auf dem Klo mit den Kabinen, weil dort drinnen unerlaubte Sachen liefen. Im Lesesaal saß immer ein dicker Junge mit Hasenscharte, der Tag für Tag murmelnd große Stapel einer Eisenbahnerzeitschrift studierte, vielleicht fand er mich genauso seltsam, wie ich ihn.

Mein neuer Bekannter, der dort Pförtner war, und an dem ich vielleicht Dutzende Male vorbeigegangen bin (damals waren auch Pförtner irgendwie Prominente, spätestens, wenn man sah, daß sie irgendwelche dissidentischen Schriften lasen, bestimmt ist der Rockmusiker oder Dichter, dachte man dann), hat mir nun geschildert, was für Verrückte und Aussteiger die Bibliothek damals bevölkert haben, irgendwo mußte ja jeder unterkommen in der DDR, denn arbeitslos war keiner. Es sollen sogar welche im Gebäude gelebt haben. Oben sei immer einer in Frauenkleidern rumgelaufen. Die Kopierer seien russisch gewesen. Er hat immer morgens um 4 Zeitschriften gelesen, die man sonst nicht bekam. Es ist faszinierend, jemanden zu treffen, der einem Auskunft über eine Zeit an einem Ort geben kann, an dem man zu dieser Zeit auch war. Das ist eben Heimat, daß man solchen Menschen begegnet.

Schade, daß ich das Material nicht für mich habe, eine Bibliothek in der Endzeit der DDR, das wäre ein gutes Thema für ein Buch. Ich war neidisch, daß ich damals zu jung gewesen bin, um in der DDR tiefer in solche Mikrokosmen eingedrungen zu sein. Aber ich hatte ja noch die Hoffnung auf ein Studium, und meine Eltern hatten mir die Angst eingeimpft, ganz auszusteigen und Hilfsarbeiter oder Pförtner zu werden. Dabei war die späte DDR vielleicht die beste Zeit für Hilfsarbeiter, die es je gegeben hat. Aber genau kann ich es nicht wissen, weil ich es nicht erlebt habe. Ich habe nur diese kümmerlichen 18 Jahre DDR erlebt. Bestimmt gibt es heute schon Journalisten, die an Projekten recherchieren, für die sie sich länger als 18 Jahre irgendwohin begeben, oder ins Gefängnis stecken lassen, um hinterher darüber einen Bestseller zu schreiben. Heute würde man es immersion journalism nennen, damals war es unser Leben.

Gerade brennt der Himmel über die ganze Breite des Horizonts in rosa, mit violetten Wolkentupfern. Jedesmal, wenn ich zu den Bäumen auf dem Platz vor dem Haus sehe, wippen sie ein wenig in den Spitzen, als würden sie darauf warten, daß ich sie beachte. Mit meiner neuen Maus fühlt sich die Arbeit an, als sei ich von einer chronischen Arthritis geheilt, die alte hatte noch so eine ständig klemmende Kugel im Boden. Jetzt geht der Pfeil immer genau dahin, wo er hinsoll, und ich kann genau die Links anklicken, die ich sehen will, und muß nicht mehr irgendwo rumsurfen, nur um überhaupt was zu machen. Das macht das Leben einfacher, aber natürlich auch berechenbarer.

Seite 393-413 Der "kleine Kreis" ist bei den Verdurins angelangt, die ihren Salon in den Ferien im von den Cambremers gemieteten Anwesen "La Raspelière" betreiben, das 200 Meter über dem Meer liegt. Auch Charlus ist anwesend und zieht Marcel in eine Ecke: "...um ein Wort zu mir zu sagen, wobei er meine Muskeln abtastete, was eine deutsche Sitte ist." Die Sitte kenne ich eigentlich nur aus Westdeutschland.

Während Madame Verdurin ihre Vermieter, die Cambremers, nur eingeladen hat, um eventuell für die Zukunft Vergünstigungen herauszuschlagen, sind sie ihr für ihren kleinen Kreis eigentlich nicht würdig genug. Madame de Cambremer-Legrandin, die angeheiratete Schwiegertochter der Chopin-Liebhaberin Madame de Cambremer, ist wiederum nur sehr unwillig mit von der Partie, denn für sie sind die Verdurins unter ihrem Niveau: "Sie trat hochmütig und mürrisch mit der Miene einer großen Dame ein, deren Schloß im Verlauf eines Krieges von Feinden besetzt worden ist, die sich aber gleichwohl darin zu Hause fühlt und den Siegern zu zeigen gedenkt, daß sie Eindringlinge sind." Ein Besuch bei den eigenen Untermietern fühlt sich für beide Seiten seltsam an. Sie beschäftigt sich damit, "die Veränderungen festzustellen, welche die Verdurins in La Raspelière vorgenommen hatten, damit sie die einen kritisieren, andere davon in Féterne einführen, vielleicht auch angesichts der gleichen alles beides tun könne."

Charlus wird neben Cottard plaziert und dieser zwinkert ihm zu, um das Eis zu brechen. "Der Baron, der sehr leicht überall seinesgleichen vermutete, zweifelte nicht, daß Cottard einer davon sei und ihm schöne Augen zu machen versuche. Sofort legte er dem Professor gegenüber die Härte des Invertierten an den Tag, der ebenso verachtungsvoll denjenigen entgegentritt, denen er selbst gefällt, wie er sich eifersüchtig um die anderen bemüht, welche ihm gefallen." Das ist ja eigentlich ein Klischee, aber Proust muß es ja wissen.

"Zweifellos ist es, obwohl jeder heuchlerisch von der immer vom Schicksal verwehrten Wohltat des Geliebtwerdens spricht, dennoch ein allgemeines Gesetz, dessen Herrschaft sich keineswegs auf Leute wie Monsieur de Charlus beschränkt, daß uns ein Wesen, das wir selbst nicht lieben, welches aber uns liebt, unerträglich erscheint." Wir ziehen solch einer Frau "die Gesellschaft jeder beliebigen anderen vor, auch wenn sie weder deren Charme noch ihre angenehmen Umgangsformen, noch ihren Geist besitzt." Und da uns in der Regel die charmanten, angenehmen und geistvollen Frauen lieben, sind wir dazu verurteilt, unsere Zeit mit unausstehlichen Schnepfen zu verbringen.

Madame de Cambremer vertieft sich auf ihrem Wohnsitz Féterne übrigens in immer esoterischere Philosophie und in immer schwierigere Musik. "Obwohl sie die Bücher von Stuart Mill nur aus der Hand legte, um nach den Schriften Lacheliers zu greifen, setzte sie, in dem Maße, wie ihr Glaube an die Realität der Außenwelt abnahm, ein immer leidenschaftlicheres Bemühen daran, sich vor ihrem Tode in dieser letzteren noch eine gute Stellung zu sichern." Und einen Platz in "Sodom und Gomorra" hat sie sich ja immerhin gesichert.

Unklares Inventar: - Ein Beschließer.

  • Chintzbezüge.
  • Araukarien, Hauswurz.
  • Barbedienne-Bronzen.

Katalog kommunikativer Knackpunkte: - "Die Befriedigung seines Stolzes, welche Monsieur de Cambremer indirekt aus dieser Antwort zog, bewirkte, daß er sich einem langen Heiterkeitsausbruch überließ."

  • Sich des öfteren einen Scherz erlauben, durch den man, gleichzeitig bescheiden und schlagfertig, seine Unwissenheit bekennt und sein Wissen dartut.
  • Sich, weil das Schweigen des Sitznachbarn auf einen lähmend wirkt, nach anderen Seiten Luft machen.

Verlorene Praxis: - Zur Begrüßung zwei Finger ausstrecken.

  • In einem Urlaubsort auf jemanden, der sich unter den vielen Touristen, die seine Kreise nicht kennen, zum Ersticken fühlt, wie ein Riechsalzflakon wirken.
  • Sehr wenig sprechen, in dem Bewußtsein, eine einem selbst geistig überlegene Frau geheiratet zu haben.
  • In seinem Schloß im Osten Frankreichs von der Invasion überrascht werden und "vier Wochen lang den Kontakt mit den Deutschen ertragen müssen."
  • Als vollkommene Gastgeberin an allen Unterhaltungen gleichzeitig teilnehmen.

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