Schmidt liest Proust
Donnerstag, 2. November 2006

Berlin, Warschauer Straße, Firstbase Internetcafé, IV Sodom und Gomorra - Seite 313-333

Am Kollwitzplatz werden anscheinend meine Laternen ausgetauscht, ohne die ich nicht mehr leben kann, die RSL (Rostocker Außenleuchte), die seit den Sechzigern vom VEB Pößnecker Außenleuchten hergestellt wurden. Die neuen Masten stehen schon, sind aber noch in Zellophan verpackt, vielleicht soll es ein Geschenk an die Bürger sein. Ich würde dem für diese Maßnahme Verantwortlichen gerne den Hals umdrehen. Vom Preis einer der neuen Laternen könnte mich ein Dreipersonenhaushalt vermutlich ein Jahr lang zum Essen einladen und ich hätte am Ende noch was übrig. Ich frage mich, warum ich ständig wählen gehen soll, wenn ich gegen solche Eingriffe in mein Leben nichts tun kann. Wie soll man die Klagen über die wirtschaftliche Misere dieser Stadt ernst nehmen, wenn man auf Schritt und Tritt beobachten muß, daß Dinge gegen Dinge ausgetauscht werden?

Von mir aus können sie die ganze Stadt mit ihren Laternen bepflanzen, was mir wehtut ist, daß die alten Laternen verschwinden werden, wo es schon nur noch so wenig gibt, was es schon gab. Oft haben gerade die Laternen überlebt, weil sie dort oben keiner beachtet hat, sonst würde der Fernsehturm vermutlich auch nicht mehr stehen. Vor unserem Haus in Buch stand natürlich auch eine RSL, und wir haben immer vom Balkon aus versucht, den runden Blechdeckel mit Kartoffeln zu treffen. Sie hatten etwas anthropomorphes, ein einbeiniger Mann mit Blechscheibe als Mütze und Glühbirnen im Kopf. Es gibt ja kaum Lampen, die nicht scheußlich aussehen, und Laternen sind oft so abstoßend, daß man sich nicht mal daran aufknüpfen würde. "Nein! Nicht die Laternen!" möchte man rufen, wie im Film, wenn Soldaten eine Wohnung plündern und sich die Mutter schützend auf ihre Kinder stürzt. Sie werden trotzdem verschleppt, und die Mutter sinkt schluchzend zusammen, sie wird ab heute nichts mehr essen und im Lauf des Films den Verstand verlieren. Ich habe kurz überlegt, ob ich es mit so einer Nummer beim Verantwortlichen der Laternenliquidierung versuchen soll, aber ich finde immer, die Menschen sollen ihre Fehler selber einsehen und sich schämen, das ist doch wirksamer, als wenn man sie belehrt, wir spielen doch nicht mehr im Sand.

Mit solchen Themen begeistert man vermutlich kein Massenpublikum. Ich habe mal vorsichtig in der Branche angefragt, ob Interesse bestände, diesen Proust-Kommentar eines Tages zu drucken. Nein, hieß es, höchstens, wenn ich alles über Proust weglasse. Es wird wohl darauf hinauslaufen, daß ich mit "Suchen und Ersetzen" für "Proust" und "Recherche" überall "Hitlerbrüste" und "Nazi-Diät", einsetze, man muß ja sehen, wo man bleibt. Die wenigen, die das Buch wegen Proust gekauft hätten, können das dann ja wieder rückgängig machen.

Seite 313-333 Endlich erfährt man, wie Marcel aussieht, undzwar aus dem Mund von Céleste, einer der beiden Dienerinnen ländlicher Abstammung, die ihn so gern auf seinem Hotelzimmer besuchen: "'Ach, diese Stirn, die so rein aussieht und doch so viele Dinge verbirgt, diese Wangen, die so freundlich und frisch sind wie das Innere einer Mandel, die kleinen samtweichen Hände, die dabei doch Nägel haben wie Krallen... Sieh nur, Marie, jetzt trinkt er seine Milch mit einer Andacht, die mir Lust macht, ein Gebet zu sprechen." So etwas hat noch nie eine zu mir gesagt, dabei sehe ich bestimmt nicht viel anders aus beim Milch trinken.

Außerdem erfahren wir, daß er es nicht leiden kann, wenn man ihm eine Serviette umbindet. Aber zu wissen, was jemand nicht leiden kann, sichert einem natürlich noch nicht unbedingt seine Sympathien, er weiß ja nicht, daß man es unterläßt und ihm ganz bewußt keine Serviette umbindet, wenn man ihm begegnet, es ist eine dieser heimlichen Aufmerksamkeiten, die immer unentdeckt bleiben werden. "Was für ein angenehmer Mensch, er hat mir keine Serviette umgebunden." So redet man ja nicht.

Marcels "sorgenvolle Voreingenommenheit in Richtung Gomorra" wird noch befestig, weil sich eine schöne, schlanke, bleiche junge Frau am Strand aufhält, die eigentlich etwas für ihn wäre: "Ich stellte mir vor, wieviel schöner sie eigentlich sei als Albertine und wieviel vernünftiger es doch wäre, auf diese zu verzichten." Aber im Kasino wirft diese Person sehr intensive Blicke nach Albertine: "Man hätte meinen können, sie gebe Signale wie ein Leuchtturmwärter". Er ist sich sicher, daß sich die beiden schon von früher kennen, für ihn sind es nämlich "erinnerungsgesättigte Blicke". Außerdem ist er ja ein großer Kenner der weiblichen Kommunikation, und er weiß deshalb, daß, wenn zwei junge Mädchen "diese ganz spezielle Art von Interesse" füreinander zeigen, sich ein optisches Phänomen vollzieht "indem eine Art von phosphoreszierender Bahn von einer zur anderen lief."

Aber Albertine hält sich zurück und reagiert nicht, und so verspürt die schöne, schlanke, bleiche junge Frau vom Strand beim Anblick von Albertines Kälte das Erstaunen eines Ausländers, der "ein gewohnheitsmäßiger Besucher von Paris, seinen ständigen Wohnsitz nicht in dieser Stadt hat und, wenn er dort einmal wieder einige Wochen zu verbringen gedenkt, an der Stelle des kleinen Theaters, in dem er so hübsche Abende zu verleben gewöhnt war, den Neubau eines Bankgebäudes erblickt." Du hast dich verändert. Wo früher ein kleines Theater war, steht heute nur noch ein Bankneubau.

Listig, wie er ist, rät Marcel Albertine, wieder zu malen, denn: "Wenn sie arbeitete, würde sie sich nicht fragen, ob sie glücklich sei oder nicht." Deshalb hat man ja früher so viel gestrickt. Das hätte die Frau von Mika Häkkinen ihm mal vorschlagen sollen, aber sie hat ihm zugeraten, wieder ins Tourenwagengeschäft einzusteigen, weil er zu Hause so trübsinnig geworden war.

Marcel freut sich darauf, Albertine in der Bahn die ganze Fahrt über zu küssen, er kommt aber dann nicht dazu, weil eine Frau, die er dem Aussehen nach für eine Puffmutter hält, mit im Waggon sitzt. Da diese weder in Egreville, noch in Montmartin-sur-Mer, noch in Parville-la-Bingard, noch in Incarville, noch schließlich in Saint-Frichoux aussteigt, beginnt er, Albertine, ohne Rücksicht auf sie, zu umarmen.

Auf dem Bahnsteig sehen sie Monsieur Nissim Bernard, Blochs Onkel (?), der ja jeden Mittag ins Hotel kommt, um sich von einem Diener, auf den er ein Auge geworfen hat, das Essen bringen zu lassen. Nun hat er es außerdem auch noch auf einen Bauernburschen abgesehen, dessen Gesicht wie eine Tomate aussieht, und der einen für ältere Herren unempfänglichen Zwillingsbruder hat. Da Monsieur Nissim Bernard die beiden nicht auseinanderhalten kann, holt er sich immer wieder eine Abfuhr vom Falschen, was ihn verdrießt, und: "Auf die Dauer faßte er auf Grund einer Ideenassoziation eine [...] Abneigung gegen Tomaten, selbst die, die eßbar sind..." So wird uns Gemüse auf Gemüse verleidet, weil die eine Verflossene wie ein Kürbis aussah, und die andere wie eine Kartoffel. Es ist traurig, am Ende werden wir uns geschmeidig und ähnlich akrobatisch durchs Leben bewegen müssen, wie Vincent Cassel in "Ocean's Twelve" durch die Lichtschranken des Bankgebäudes, um den Ideenassoziationen auszuweichen, die uns an Frauen erinnern, mit denen wir nicht glücklich geworden sind.

Unklares Inventar: - Coldcreme.

Verlorene Praxis: - Das Glück haben, nie die Hand gegen jemanden zu erheben zu brauchen, weil man mit seinen Augen alles erreicht, was man will.

  • Wege finden, während man sich mit seinem Hund abgibt, dessen Herrn immer wieder zu streifen.

Selbständig lebensfähige Sentenz: - "Für einen uninteressierten Beobachter bietet solche vollkommene Ähnlichkeit unter Zwillingen den Reiz der Feststellung, daß manchmal auch die Natur, als habe sie sich vorübergehend auf industrielle Produktion umgestellt, ganz gleichartige Erzeugnisse hervorbringt."

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