Schmidt liest Proust
Dienstag, 21. November 2006

Berlin - IV Sodom und Gomorra - Seite 644-664

Der Brief kam vom SOS-Kinderdörfer-Fonds aus München: "Sehr geehrter Herr Schmidt, Weihnachten ist die Zeit, in der kein Mensch gerne alleine ist." Und da mußte ich irgendwie lachen, weil sie mich so nett an mein Unglück erinnerten.

Seite 644-664 Er hatte ja damals in Montjouvain durchs Fenster die leicht sadomasochistische Szene zwischen Vinteuils Tochter und ihrer Freundin beobachtet und in seinem Innern eingelagert. Als Albertine nun beiläufig erwähnt, daß sie mit ebendieser Freundin befreundet war, erscheint das Bild wieder "...zu meiner Marter, zu meiner Züchtigung, wer weiß?" Vielleicht eine Strafe für den Tod der Großmutter, den er nicht zu verhindern gewußt hat? "Es war eine furchtbare 'terra incognita', in der ich hier landete, eine neue Phase ungeahnter Leiden, welche sich mir eröffnete." Das klingt schlimm, und man möchte ihm so gerne helfen, aber wahrscheinlich könnte das niemand, nicht mal Albertine. Die ahnt nichts von seiner Beunruhigung, geht zur Wagentür und möchte aussteigen: "Aber diese ihre Bewegung, die sie machte, um auszusteigen, zerriß mir unerträglich das Herz [..] daß ich nach ihr griff und sie verzweifelt am Arm zog." Sie ist auch sofort bereit, die Nacht im Hotel in Balbec zu verbringen, wo sie auf einem anderen Zimmer schläft, während Marcel in seinem Zimmer sein Schluchzen unterdrückt, damit ihn die Mutter nebenan nicht hört. Er muß sich vorstellen, wie Albertine Mademoiselle Vinteuil "...mit einem Lachen in die Arme fiel, das wie die unbekannte Stimme ihrer Lust zu mir drang." Er sieht sie vor sich, wie sie "mit keckem Näschen, zusammengerollt wie eine mollige Katze, den Platz der Freundin von Mademoiselle Vinteuil einnahm" und ihre Stimme wollüstig girren läßt.

"Noch hing ich am Leben, dennoch wußte ich, daß ich nur Grausames weiterhin von ihm zu erwarten hätte." Er läßt Albertine auf sein Zimmer rufen und erklärt ihr, abreisen zu müssen, wozu er eine absurde Geschichte erfindet, etwas von einer Heirat mit einer anderen, die er gerade ausgeschlagen habe, weswegen er sich schlecht fühle. Noch einmal wirkt Albertine als Gegengift gegen das Gift, das doch auch aus ihr selbst stammt. Zwei Gifte, "...eines süß, eines quälend, kamen sie beide doch von Albertine." Aber sie ruft in ihm "die weiche Stimmung eines Genesenden" wach. Dennoch begeht er nicht "die Unvorsichtigkeit (falls es eine solche war), die zu Gilbertes Zeiten mir unterlaufen wäre, ihr zu sagen, daß sie, Albertine, das Wesen sei, das ich liebte." Das scheint er ja wirklich zu glauben, daß er sich damit seiner Chancen berauben würde.

Die Eifersucht auf Mademoiselle Vinteuil erweist sich als viel größere Qual als die kurze auf Saint-Loup, denn die Vinteuil "führte andere Waffen." Mit einem Mann kann man zu konkurrieren versuchen, aber mit einer Frau? Der Gedanke, Albertine könne demnächst ohne ihn in ihre Heimatstadt Triest fahren und ihren Neigungen frönen, enthält eine "feindliche und unerklärliche" Atmosphäre, wie sie damals aus dem Eßzimmer in Combray aufgestiegen war, aus dem die Mutter nicht raufkommen wollte, um ihn noch einmal zu küssen. Die verzweifelte Mutterliebe als Muster lebenslanger Verlassensängste, wie verhält man sich da als Mutter richtig, wenn man dem Kind solche späteren Torturen ersparen will?

Er wird also abreisen, und die halbe Welt setzt sich in Bewegung, um diese Tatsache zu betrauern oder zu verhindern. Marie Gineste und Céleste Albaret, seine beiden Bewunderinnen, laufen "mit roten Augen umher" und lassen "das unterdrückte Schluchzen eines Gießbachs hören." An der Bahn trifft er Monsieur Cambremer, der "beim Anblick meiner Koffer erbleichte." Monsieur de Crécy würde ihn unweigerlich anflehen zu bleiben, wenn er ihn sähe, ebenso Madame Verdurin. Dazu "die verzweifelten Klagen des Direktors". Dieser Mensch hinterläßt eine Spur des Begehrens, ohne auch nur einen Finger zu rühren.

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