Schmidt liest Proust
Montag, 20. November 2006

Berlin - IV Sodom und Gomorra - Seite 624-644

Vergangenheit und Gegenwart, wer kann das schon noch unterscheiden? Also heute mal als Vorveröffentlichung auffällige Stellen aus meinen Aufzeichnungen vom 20.11. aus den letzten Jahren:

2002 Im Fernsehen ein Toilettenmann von Hagenbeck in Hamburg. Er trinkt ein Glas Wasser aus seiner Kloschüssel, um zu beweisen, wie sauber es bei ihm ist.

2003 18:00 Sauna, drei Gänge, nach dem zweiten ein Budweiser.

2004 Zug von Chemnitz nach Berlin. Mir gegenüber hört eine Frau ziemlich laut ihre neue Wolfgang-Petry-CD. Mein verstörter Blick wandert über dieses Geschöpf. Auf ihrer Trainingsjacke steht Wolfgang Petry, sie hat ein Wolfgang-Petry-T-Shirt an, und ihre Sauerkrautlocken sehen bestimmt auch nicht zufällig aus wie seine. Nur Freundschaftsbänder trägt sie nicht. Sie wirkt glücklich, wie sie mit geschlossenen Augen der Musik lauscht. Vielleicht ist sie ja glücklich. Kommt es dabei zu anderen chemischen Reaktionen im Gehirn als bei einem Weinkenner, der den Wein seines Lebens verkostet? Sicher nicht, also keine Wertung.

2005 Sehnenscheidenentzündung vom einzigen mal Kickern in den letzten 10 Jahren. Telefonieren mit 4 Orthopäden, hier müßte ich 3-4 Stunden warten, dort ginge es nächsten Montag. Ist das nicht unterlassene Hilfeleistung? Alles, weil ich nicht privat versichert bin. In der Marietta-Bar Notizen unter Schmerzen. Jedes Wort ein Bekenntnis zum Geist und ein Aufschrei gegen den Körper. Dazu (auch vom Kickern?) flüssige Verdauung. So habe ich das nicht gegessen.

Seite 624-644 "Oft, wenn Monsieur de Cambremer mich auf dem Bahnhof anrief, hatte ich bei Albertine die Dunkelheit genutzt, etwas mit Mühe freilich, da sie sich ein wenig sträubte und Bedenken trug, ob die Finsternis auch vollkommen sei." Was heißt das nun wieder "...bei ihr die Dunkelheit genutzt?" In einem Buch, das "Sodom und Gomorra" heißt ist das doch ein wenig mager.

Die ständigen Belehrungen Brichots über die Etymologie der Ortsnamen bringen ernüchternde Erkenntnisse: Honfleur kommt nicht von Blume, sondern "fleur", wie Fjord, vom normannischen "Hafen", und aus Briqueboeuf verschwindet der Ochse, wenn "boeuf" von "budh" kommt, das für "Hütte" stehen soll. Mit den die Phantasie anregenden Ortsnamen wird aber auch irgendwann das Vergnügen an den Orten schwinden.

Als Saint-Loup einmal in ihre Kleinbahn zusteigt, will Marcel Albertine und ihn aus Eifersucht keine Sekunde allein lassen und kann deshalb nicht aussteigen, um Blochs Vater kurz zu begrüßen, was Bloch ihm nie verzeihen wird. So kombiniert das Leben in verzwickter Weise die Umstände und zwingt einen dazu, ein Mißverständnis aufrecht zu erhalten, um einen Freund nicht zu verletzen.

Dafür ist Charlus auf den ersten Blick von Bloch angetan und fragt ganz unbeteiligt: "Wohnt er in Balbec?" Für diese so stark wie möglich im Ton der Teilnahmslosigkeit geäußerte Frage müsse es im Französischen ein eigenes Satzzeichen geben: "Allerdings würde ein solches Zeichen wohl fast ausschließlich für Monsieur de Charlus Verwendung finden." Und das ist noch keinem Autor gelungen, der deutschen Sprache ein neues Satzzeichen aufzuzwingen.

Manchmal wartet Monsieur de Cambremer am Bahnhof und versucht, Marcel für ein paar Tage zu ihnen nach Féterne zu entführen, "...wo eine ausgezeichnete Musikerin, die den ganzen Gluck singen würde, von einem berühmten Schachspieler abgelöst werden sollte, mit dem ich ausgezeichnete Partien spielen könnte..." Warum nur geben sich alle solche Mühe, Marcel zu sich einzuladen? Ist er besonders amüsant, charmant oder intelligent? Bis jetzt hat man als Leser davon nicht viel mitbekommen, und doch reißt man sich um seine Gesellschaft. Eine Musikerin, die den ganzen Gluck singt, mit so etwas wird mich wohl nie ein Haus locken.

Der "herabziehende Einfluß" der Gegend um Balbec, die ihm jetzt vertraut und ein Zuhause ist, das er ringsherum von Freunden und Bekannten bewohnt weiß. "Die Atmosphäre dort weckte keine Ängste mehr, sondern war einzig mit menschlichen Emanationen erfüllt, leicht einzuatmen und zu beruhigend fast..." Das Kapitel endet mit dem Satz: "Eine Heirat mit Albertine kam mir jetzt wie eitel Torheit vor." Aber es wird noch ein kurzes Kapitel folgen, das mit dem Satz enden wird: "...es geht nicht anders: ich heirate Albertine." Den Schwankungen nach, denen seine Haltung in diesem Punkt unterliegt, werden die Kapitel irgendwann vielleicht nur noch eine Seite lang sein und mit der jeweils sich widersprechenden Beteuerung enden.

Noch wartet er auf eine Gelegenheit zum endgültigen Bruch. Außerdem liebt er ja angeblich Andrée. Die will er allerdings auch nicht heiraten, weil er dann nicht mehr frei wäre, nach Venedig zu gehen. Im Zug bemüht er sich, grob zu Albertine zu sein, vielleicht werde er sie morgen versetzen, kündigt er an. Sie ist ihm nicht böse "...denn ich spüre, du bist nervös." Am nächsten Tag wolle er sich von Madame Verdurin Auskunft über andere Kompositionen Vinteuils erbitten, von dem er denkt, daß Albertine nie von ihm gehört hat. Aber hier ist der Moment für eine fatale, Wendung, die das Buch um drei Bände verlängern wird: "Wir können alle nur möglichen Ideen in unserm Kopf haben, die Wahrheit hat sich nie in ihm Bahn gebrochen, aber von außen her, wenn man am wenigsten darauf gefaßt ist, versetzt sie uns ihren furchtbaren Streich, mit dem sie uns für immer verwundet." Denn Albertine kennt nicht nur die Tochter Vinteuils, sondern hat auch mit deren Freundin eine Seereise unternommen und wird sie wiedersehen. Jetzt wird dem Leser endlich klar, warum wir im ersten Buch Zeuge der lesbischen Fensterszene in Vinteuils Haus geworden sind, denn diese Enthüllung dürfte seiner Eifersucht einen Schlag versetzen, ist er doch sowieso schon davon überzeugt, daß Albertines Neigungen in Gomorra siedeln, und dort sind ihm als Mann bekanntlich die Hände gebunden.

Unklares Inventar: - Lamoureux-Konzert.

Katalog kommunikativer Knackpunkte: - "'Natürlich', fuhr er in emphatischem und stolzem Tonfall fort, wobei er für diese Bemerkung auf ästhetischem Gebiet infolge eines Reflexes, bei dem ungewollt die Erbschaft zum Vorschein kam, den Kopf mit der Miene eines alten Musketiers unter Ludwig XIII. zurückwarf..."

Selbständig lebensfähige Sentenz: - "...daß die Gewohnheit so sehr unsere Zeit ausfüllt, daß uns nach ein paar Monaten kein freier Augenblick mehr in einer Stadt verbleibt, in der bei unserer Ankunft der Tag uns seine zwölf Stunden zur Verfügung hielt..."

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