Schmidt liest Proust
Mittwoch, 15. November 2006

Berlin - IV Sodom und Gomorra - Seite 561-582

Ich habe keine Zeit mehr, über den heutigen Tag zu schreiben, z.B. daß wir an der Kollwitzstraße ein Lagerfeuer gefunden haben und beim Abendbrot meine Kartoffelsuppe vom Montag endlich alle geworden ist, daß es so seltsam mild draußen ist, und die Bauarbeiter auf dem neuen Gerüst in der Ramlerstraße "Eins... zwo! Eins... zwo!" gerufen haben, als ich morgens vorbeigejoggt bin und gerade Led Zeppelin gehört habe. Aber ich kann mir dazu heute nichts ausdenken, weil ich schon zu müde bin, der Seneca-Text für morgen hat zu lange gedauert, und einen Satz habe ich immer noch nicht verstanden. Da ich seinetwegen jetzt keine Zeit mehr für Proust habe, soll er hier wenigstens wiedergegeben werden: "Caesaris prima tempora loquitur nec, quod te imitari velit, exemplar te quaerit."

Seite 561-582 Charlus glaubt immer noch, daß seine Umwelt nichts von seiner Orientierung ahnt: "So lebte Monsieur de Charlus in Täuschungen dahin wie der Fisch, welcher meint, das Wasser, in dem er schwimmt, breite sich auch jenseits der Glasscheibe seines Aquariums aus..." Ein guter Hinweis, warum sollte der Fisch auch denken, wir schwämmen nicht im Wasser, dann würden wir uns schließlich sofort zu ihm ins Aquarium retten.

Charlus und Brichot streiten, ob Balzac überschätzt ist, oder vielmehr wundervoll, was ich auch gerne einmal wüßte, bevor ich mich in das nächste Leseabenteuer stürze. Der dröge Cottard schaltet sich wie immer nur in fremde Gespräche ein, um irgendeine vermeintlich witzige Floskel oder einen der wenigen lateinischen Sprüche, die er beherrscht, anzubringen, egal, ob es paßt oder nicht. Aber so dumm ist es diesmal gar nicht, wenn er bemerkt, daß Sokrates noch für Allerweltssprüche unsterblich werden konnte, während das heute doch etwas schwieriger ist: "Wenn man bedenkt, daß Charcot und andere tausendmal bedeutendere Arbeiten gemacht haben, die sich wenigstens auf etwas stützen, wie die Aufhebung des Pupillarreflexes als Nebenerscheinung der allgemeinen Paralyse, und daß sie doch fast vergessen sind!"

Marcel läßt sich bei der Auswahl der Toiletten Albertines (die er anscheinend übernimmt) von Elstirs nüchternem Geschmack inspirieren, was den Kenner in Charlus ("niemals hätte er sich im Namen eines Stoffes getäuscht") zu Komplimenten veranlaßt. Die "stumme Sprache der Kleider".

Die Qualen, die der Emporkömmling Morel seinem Gönner und Verehrer Charlus bereitet, wenn er den beleibten Herrn mit seiner gezierten Redeweise vor Freunden vom Militär oder vor Musikern gern einmal verleugnet oder sich sogar selbst öffentlich über ihn lustig macht. Für den Gedemütigten ein Teufelskreis, denn "...während derjenige, welcher liebt, gezwungen ist, immer von neuem einen Versuch zu machen und sein Gebot dauernd zu erhöhen [fällt es] im Gegenteil dem andern, der nicht liebt [leicht] eine gerade, unbeugsame und von Eleganz geprägte Linie zu verfolgen." Dazu kommt die Neigung zur Selbsttäuschung des Liebenden, der, wenn der Geliebte, sobald man dazutritt, geniert den Blick senkt, darin "einen ganzen Roman" sehen will, während der Grund dafür in Wirklichkeit "Gereiztheit und Scham" ist.

Unklares Inventar: - Cheviotjacke.

Verlorene Praxis: - Jemandem durch seine graue Toilette die Idee nahelegen, daß man dem Leben abgewendet ist.

  • Die Rue Bergère hoch über den Faubourg Saint-Germain stellen.

Selbständig lebensfähige Sentenz: - "'Nur Frauen, die sich nicht anzuziehen verstehen, fürchten die Farben.'" "...die immer wechselnden Formen des Leidens aber rückten Monsieur de Charlus von neuem das Problem des Glücks vor Augen..."

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