Schmidt liest Proust
Donnerstag, 23. November 2006

Berlin, Internetcafé "Netzwerk", Knaackstraße - V Die Gefangene - Seite 25-46

Seneca hat gut reden mit seiner despicientia rerum externarum. Wie man die erreicht, würde ich gerne einmal wissen. Er soll ja zur Übung immer auf einer harten Matratze geschlafen haben, und dadurch am Ende sogar seinen vom Kaiser angeordneten Selbstmord mit Gleichmut betrachtet haben. Allerdings hatte er ja auch eine Frau, die freiwillig mit ihm sterben wollte und von Nero gegen ihren Willen wiederbelebt werden mußte. Ob die auch auf der harten Matratze geschlafen hat? Hier eine harte Matratze, da eine Frau fürs Leben, und nicht zu vergessen der Sklave, der immer in die Thermen mitkommt, um dort auf die Sachen des Herrn aufzupassen (wozu sollte man dann noch das Vorhängeschloß erfinden?) Die Römer waren ein widersprüchliches Volk.

Seite 25-46 "...und dafür, daß ich es abgelehnt hatte, mit meinen Sinnen diesen Vormittag in mich aufzunehmen, genoß ich in der Einbildung alle gleichen vergangenen oder auch nur möglichen Vormittage..." Ein gefährliches Verfahren, und die Frage ist, ob das auch mit Schnitzel und Bratkartoffeln funktioniert, vor allem mit möglichen.

"Da unser Wohlbefinden sehr viel weniger aus unserem guten Gesundheitszustand als aus dem ungenutzten Überschuß unserer Kräfte resultiert, können wir ebensogut wie durch Vermehrung der letzteren durch Beschränkung unserer Aktivität dazu gelangen.“ Das habe ich unbewußt immer so gehalten, aber ich hatte dabei auch immer den Verdacht, daß es eine Milchmädchenrechnung ist. Man wird doch eher krank, wenn man wenig tut. „Diejenige, von der ich überströmte und deren Potential ich in meinem Bett liegend intakt erhielt, machte mich springlebendig im Innern, so wie eine Maschine, die sich nicht vom Platz rühren kann, in sich selber schnurrt." Und das vor der Erfindung der Fernbedienung!

"...fragte ich mich, ob eine Heirat mit Albertine nicht mein Leben ruinieren würde, einerseits, weil ich damit die für mich zu schwere Aufgabe übernehmen müßte, mich einem anderen Wesen zu widmen, andererseits aber auch dadurch, daß sie mich zwang, infolge der unaufhörlichen Gegenwart einer Frau, abwesend von mir selbst zu leben und mich für immer der Freuden der Einsamkeit beraubte." Irgendwie scheint um die Jahrhundertwende das Heiraten für Autoren zum problematischen Lebensthema geworden zu sein. Dabei kann man doch auch bei unaufhörlicher Gegenwart der Frau ganz einsam sein. Vielleicht hatte er einfach zu hohe Ansprüche an sich als Ehepartner.

Nicht nur der Freuden der Einsamkeit sähe er sich beraubt, sondern auch des Zuwachses an Freude, der einem durch den Anblick von Frauen zuteil wird, die man sich "unmöglich a priori hätte vorstellen können." Es reicht ein Blick aus dem Fenster, denn da sind eine Wäscherin, eine Bäckersfrau, ein Milchmädchen und "irgendein hochgemutes blondes junges Mädchen in Begleitung der Erzieherin." Ihnen allen folgt Marcels Blick, und er leidet darunter, daß er seinen Körper nicht wie aus einer Arkebuse geschossen hinterherschleudern kann.

Aber bevor es unangenehm wird, kommen wir lieber wieder zur Kleiderfrage: "Das Drum und Dran der weiblichen Toilette brachte für Albertine große Freuden mit sich." Deshalb geht er regelmäßig zu Madame de Guermantes, um sich bei ihr beraten zu lassen, welche Kleider er Albertine schenken soll.

Unklares Inventar: - Tragreff.

  • Kleider von Fortuny

Katalog kommunikativer Knackpunkte: - "...jene mehr als gleichgültige, feindliche, verächtliche Miene [..] die das Zeichen ohnmächtigen Wünschens bei stolzen, leidenschaftlichen Naturen ist."

Verlorene Praxis: - Sich versöhnen und die Bande, die einen aneinander festhalten "in einer anderen, elastischeren Form" knüpfen.

Selbständig lebensfähige Sentenz: - "Die Sonne kam bis zu meinem Bett und durchdrang die durchscheinende Wandung meines überzart gewordenen Körpers, wärmte mich und machte mich glühend wie Kristall."

  • "Aber schon ging der Tag zu Ende, und ich fühlte mich von der Trauer des Abends heimgesucht."
  • "Ich fühlte, daß das Gespräch eine unangenehme Wendung nahm und bemühte mich schnellstens, es wieder auf die Kleiderfrage zu bringen."

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