Schmidt liest Proust
Samstag, 30. September 2006

Berlin - III Die Welt der Guermantes - Seite 354-377

Komplimente haben mich immer irritiert: "Ich war schon immer der Meinung, daß das deine eigentliche Stärke ist..." Interessant, soll das heißen, daß ich alles andere lieber lassen sollte? "Ich bin begeistert, du erinnerst mich an XY." XY? Wie kann man mich mit dem in einem Atemzug nennen? "Ich lese sonst nicht viel, aber mit deinen Sachen kann ich mich total identifizieren." Das muß ein Mißverständnis sein. Außerdem beschämen mich Komplimente, schließlich ist es ja nicht mein Verdienst, wenn ich was geschrieben habe, man müßte das Kompliment weiterreichen an die Lebensumstände, die ich vorgefunden habe, an meine Familie, die ich mir nicht ausgesucht habe, an die Freundinnen, die mich verdorben haben, an meine Gene, an meinen Charakter, der schon mit der Geburt feststand, an alle Autoren, die ich gelesen habe, an das Wetter, das an dem Tag zu schlecht war, um etwas anderes zu machen als zu schreiben. Der Text war nur die logische Konsequenz aus dem allen, mich dafür zu loben, ist, als ob man einen erwachsenen Menschen dafür loben würde, ein zehnteiliges Kinderpuzzle richtig zusammenzusetzen.

Außerdem ist man ja nie ganz mit sich zufrieden, und deshalb wirken Komplimente immer etwas oberflächlich und scheinen nur zu beweisen, wie unwichtig es für den Rest der Welt ist, daß man noch weiter an seiner Vervollkommnung arbeitet, es würde ja längst reichen. Und dann setzen einen Komplimente so unter Druck. Jeder neue Fan, ist ja nur ein Mensch mehr, den man in Zukunft enttäuschen wird. So, wie wenn ich der Frau einmal ein Geschenk mitgebracht habe, dann fällt ihr beim nächsten mal schon auf, wenn ich keins dabei habe. Und dann gibt es Leute, die nach Jahren kommen und sagen: "Ich wußte gar nicht, was in dir steckt." Ja, fick dich, wenn du es damals nicht erkannt hast, wie willst du dazu dann jetzt in der Lage sein?

Trotzdem will man doch gelobt werden? Natürlich, ich will ja auch jeden Tag Ente kross essen, obwohl mich das fett macht. Aber noch lieber wäre es mir, jemand würde mir stattdessen meinen nächsten Text schreiben: "Das ist mein Vorschlag für deinen nächsten Text, er ergibt sich ganz folgerichtig aus der Entwicklung deiner Arbeit bis zu diesem Punkt, ich hoffe, ich habe alles beachtet. Du kannst deinen Namen druntersetzen, der Text ist ja von dir. Es würde mich freuen, wenn ich wieder einmal einen Text von dir schreiben dürfte."

Seite 354-377 Zu Hause findet er seine Großmutter leidend vor. Jetzt ist also einmal jemand anders krank. Und Krankheit ist immer ein Affront, eine niveaulose Beleidigung von Seiten des eigenen Körpers: "Einen beliebigen Straßenräuber, dem wir auf einer Landstraße begegnen, können wir vielleicht für etwas, was sein eigenes Interesse berührt, wenn nicht für unser Unglück, immerhin empfänglich stimmen. Aber Mitleid von unserem Körper zu verlangen ist, als wollten wir mit einem Tintenfisch ein Gespräch eröffnen, für den unsere Worte nicht mehr Sinn hätten als das Geräusch des Wassers und mit welchem zu stetem Zusammenleben verurteilt zu sein uns mit Grauen erfüllen würde." Die Ärzte, diese selbstgerechten Feldherrn des Wohlbefindens werden von Proust genüßlich vorgeführt. Zuerst Cottard, der traditionell Milchdiät und Bettruhe verschreibt: "Denn da die Medizin ein Kompendium aufeinanderfolgender und einander widersprechender Irrtümer der Ärzte ist, hat man, wenn man die vorzüglichsten unter ihnen an sein Krankenbett ruft, beste Aussicht, eine Wahrheit um Hilfe anzugehen, die wenige Jahre darauf als falsch erkannt sein wird." Aber man läßt noch einen anderen Jagd machen "auf das geheimnisvolle Wild [..] das man in die Tiefen des eigenen Innern nicht verfolgen kann...", nämlich den früher schon einmal von Bergotte empfohlenen Doktor du Boulbon, einen gebildeten Nervenarzt. Dieser spricht zur Kranken ausschweifend über Bergottes Bücher und testet damit heimlich ihr Gedächtnis. Dann erklärt er, daß sie nicht krank sei, sondern sich alles nur einbilde. Sie leide unter einer "Mentalalbumin". Überhaupt seien die meisten Krankheiten nur eingebildet: "Auf die Attacke, die die Ärzte mit Medikamenten heilen (jedenfalls soll so etwas schon vorgekommen sein), erzeugen sie zehn neue bei ganz gesunden Leuten, indem sie ihnen jenen pathogenen Wirkstoff einimpfen, der tausendmal virulenter als alle Mikroben ist, die Idee der Krankheit." Was die Arbeit des Arztes wesentlich erleichtert, er muß nun ja nur noch kommen, um zu verkünden, daß der Patient gar nicht krank ist. Um das bei Marcels Großmutter zu erkennen, mußte er nur ihre Augen sehen, "ja sogar nur Ihre Frau Tochter und Ihren Herrn Enkel [..] die Ihnen so sehr ähnlich sind..." So hätte ich vor Jahren einmal fast eine Brille bekommen, weil der Arzt, statt sich meine Augen anzusehen, gefragt hat, was ich machen: "Dann sitzen sie also viel am Bildschirm, alles klar." Zum Glück hat mir kein Modell gefallen.

Du Boulbon verordnet der Großmutter Spaziergänge. Dann plaudert er noch etwas aus dem Nähkästchen. Im Sanatorium stand ein Patient auf einer Bank, der den Hals verdrehte, um ihn nicht von seiner Flanellunterwäsche zu entfernen, weil er sich beim Gehen erhitzt hatte, und warten wollte, bis er sich abkühlte, um keinen steifen Hals zu bekommen. "Alles, was wir an Großem kennen, ist von Nervösen geschaffen [..] Die Neurose ist eine Meisterfälscherin. Es gibt keine Krankheit, die sie nicht zu kopieren versteht." Es gibt nicht nur keine Künstler ohne Nervosität, sondern "keinen auch nur korrekten Behandler nervöser Erkrankungen, der nicht selbst eine solche durchgemacht hat." Er selbst stehe nachts zwanzigmal auf, um nachzusehen, ob die Tür geschlossen sei (ob einen solch eine Aussage von Seiten seines Arztes wirklich beruhigt? Aber ich erinnere mich, daß mir einmal ein Arzt gesagt hat, seine Kinder hätten auf die Geschenke unterm Weihnachtsbaum gekotzt, das liege gerade in der Luft. Und tatsächlich ging es mir danach viel besser.) Du Boulbon hat sich sogar in besagtem Sanatorium für Nervenkranke ein Zimmer reservieren lassen "...denn unter uns gesagt, möchte ich dort meinen Urlaub verbringen und meine Leiden behandeln, die ich dadurch zu sehr gesteigert habe, daß ich die der anderen zu heilen unternehme." Die Großmutter könne ganz beruhigt sein: "Die Symptome, von denen Sie sprechen, weichen vor meinem Wort schon zurück." Aber es tut ihm fast leid, sie zu heilen: "Selbst wenn ich wüßte, wie ich sie heilen könnte, würde ich mich wohl hüten es zu tun. Es genügt, daß ich dies Leiden unter meine Aufsicht bekomme." Denn mit ihrer Nervosität würde er ihr ja auch ihre Fähigkeit nehmen, z.B. Bergottes Bücher zu lieben. "Soll ich mir nun das Recht zuerkennen, Ihnen anstatt der Freuden, die er Ihnen verschafft, gesunde Nerven zu schenken, die außerstande sein würden, sie Ihnen zu gewähren?"

Als der eigenartige Doktor fort ist, atmen alle auf, jetzt, da man beruhigt ist, kann man sogar seinen Schmerz ein wenig genießen. Marcel wird mit der Großmutter spazierengehen, sie soll sich nicht so haben. Und er inszeniert geschickt die Gründe für spätere lebenslange Schuldgefühle. Zunächst will er sich nicht verspäten, weil er anschließend zu Freunden will. Deshalb ärgert es ihn, wie lange die Großmutter für ihre Toilette braucht "...in jener seltsamen Gleichgültigkeit, die wir gegen unsere Angehörigen hegen, solange sie am Leben sind, und die bewirkt, daß wir an sie erst zuallerletzt denken..." Ungeduldig geht er schon die Treppe hinunter (Schuld) Auf den Champs-Elysées muß sie gleich ins Klohäuschen und braucht lange. Die Klofrau ist ein Original. Während Marcel auf die Großmutter wartet, erzählt sie von einem hohen Beamten, der jeden Tag zur selben Stunde kam, um seine Zeitungen zu lesen und sein Geschäft zu verrichten. Als er einmal einen Tag ausblieb, fragte sie ihn am nächsten Tag, ob ihm etwas passiert sei: "Da sagt er mir, nein, ihm sei selbst nichts passiert, nur seine Frau sei gestorben, und das habe ihn derart durcheinandergebracht, daß er nicht habe kommen können. Er sah wahrhaft traurig aus – Sie verstehen, Leute, die fünfundzwanzig Jahre verheiratet waren! -, aber doch auch richtig froh, daß er wieder hier war. Man spürte, daß er in seinen kleinen Gewohnheiten ungern gestört worden war." Wie schön, wenn einen seine kleinen Gewohnheiten so stumpf machen, daß man seelische Schmerzen schneller verarbeitet. Manche Kunden brächten ihr Blumen "in ihren Salon", sagt die Chefin, und Marcel errötet, weil er keine hat (Schuld). Als die Großmutter nach einer halben Stunde wieder erscheint, fürchtet er, sie würde kein Trinkgeld geben und zieht sich aus Angst vor der Verachtung der Klofrau zurück (Schuld). Er erwartet eine Bemerkung von ihr, weil sie ihn so lange hat warten lassen, und er doch noch rechtzeitig zu seinen Freunden will, sie sagt aber nichts, und er ist enttäuscht (Schuld). Erst jetzt sieht er sie an und erschrickt: "...sie sah unordentlich und wie mißvergnügt aus und hatte das rote, gequälte Gesicht einer Frau, die von einem Wagen umgefahren und aus dem Straßengraben gezogen worden ist." Sie kann kaum sprechen, und er schlägt ihr endlich vor, umzukehren. Sie (Schuld) dankt ihm: "Ich wagte nicht, es dir vorzuschlagen, wegen deiner Freunde." "Ich zitterte, sie könne selbst bemerken, in welchem Ton sie diese Worte sagte." Anscheinend denkt man, es würde den anderen beschämen, zu erkennen, daß er sterben wird. "Sie hatte soeben einen kleinen Anfall gehabt." Damit schließt der erste Teil dieses dritten Buchs.

Unklares Inventar: - Dyspepsie.

Selbständig überlebensfähige Sentenz: "Im Zustand der Krankheit merken wir, daß wir nicht allein existieren, sondern an ein Wesen ganz anderer Ordnung gefesselt sind, von dem uns Abgründe trennen, das uns nicht kennt, und dem wir uns unmöglich verständlich machen können: unseren Körper."

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