Schmidt liest Proust
Montag, 18. September 2006

Berlin - III Die Welt der Guermantes Seite 108-129

Briefe kommen immer aus der Vergangenheit, das liegt schon an der Post. "Immerfort fallen die Äpfel von oben nach unten mit diesem dummen Geräusch", schrieb sie mir aus ihrem Dorf, und es war wieder einer dieser Sätze, die sie anderen voraus hatte. Dieses "dumme Geräusch", mit seinem zärtlichen Trotz der Natur gegenüber... Das eigenartig überpräzise "von oben nach unten", das den Vorgang sofort bemerkenswert machte. Später lese ich die Stelle noch einmal, und stelle fest, daß sie in Wirklichkeit "mit diesem dumpfen Geräusch" geschrieben hat. Poesie ist vielleicht immer ein Mißverständnis.

Seite 108-129 Immer noch schleicht Marcel durchs Garnisonsstädtchen und speist abends mit den Offizieren. Das eigentliche Ziel dieser Reise, Saint-Loup anzuspitzen, ihn bei seiner Tante, Madame de Guermantes, ins rechte Licht zu rücken, gerät fast ins Vergessenheit. Er fühlt sich nämlich beschwingt, wie nie: "Wie ein Taucher, der durch einen bis über die Wasserfläche reichenden Schlauch atmet, hatte ich das Gefühl, mit dem gesunden Leben und der frischen Luft verbunden zu sein, weil als vermittelndes Glied für mich diese Kaserne da war..." Kann man das allein dem Reiz, den eine Ansammlung von gedrillten Männern in Uniform auf einen homosexuellen Snob ausüben mag, anrechnen? Ist die Kaserne eine Art Gegenwelt, auf die der verwöhnte, kränkelnde Ästhet seine Phantasien von einem sportlicheren, disziplinierten Leben projiziert? So ist allerdings auch schon mancher in den Schützengraben vor Verdun gerutscht.

"...in dem düsteren Gäßchen hinter der Kathedrale packte mich oft, wie einst auf dem Wege nach Méséglise, mit aller Macht ein Verlangen nach Liebe; ich meinte, eine Frau müsse aus dem Dunkel auftauchen und dies Verlangen stillen; wenn ich im Finstern dann plötzlich ein Kleid vorüberstreifen fühlte, hielt mich die Heftigkeit der Lust, die ich dabei verspürte, davon ab zu glauben, diese Berührung sei nur zufällig erfolgt, und ich versuchte, eine erschreckte Passantin in die Arme zu schließen." Wenn er sich das heute erlauben würde, wäre ihm die Titelseite der Bild-Zeitung sicher.

Abends beim Essen bietet er Saint-Loup das "Du" an, der diese Bitte mit einem Zitat quittiert: "Freude! Tränen der Freude! Ungeahnte Glückseligkeit!" So eine Reaktion erwartet man von seinen Freunden! Aber der verschlagene Marcel nutzt diesen Moment, um Saint-Loup um das Foto zu bitten, das dieser von seiner Tante besitzt. Saint-Loup errötet, offenbar hat er einen "Hintergedanken", er scheint vielleicht zu glauben, Marcel wünsche das Bild als Vorlage für gewisse unanständige Praktiken. In diesem Moment verachtet Marcel Saint-Loup, immerhin das erste mal.

Die anschließende seitenlange Diskussion über die Dreyfus-Affäre brachte nichts ein.

Inventar: - Phlogiston.

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