Schmidt liest Proust
Samstag, 9. September 2006

Berlin - II S.569-591

An manchen Tagen begeistert einen jeder Satz, an anderen quält man sich voran. Ich bin mir gar nicht mehr sicher, ob das wirklich an den unterschiedlichen Passagen im Text liegt, oder nicht vielmehr an einem selbst. Was dafür spräche, daß die Emotionen, die man bei der Lektüre erlebt, in keinem Fall in das Urteil über den Text einfließen sollten, denn sie hängen ja gar nicht vom Text ab, sondern von einer den Umständen geschuldeten Aufnahmelustigkeit, wie auch eine Frau nicht im Wert steigt oder sinkt, weil jemand in sie verliebt ist, oder nicht. Ein Kritiker hat sich scheiden lassen, ein anderer ist in eine andere Stadt gezogen, beim dritten ist der Vater gestorben. Alle drei empfinden jetzt ganz anders für denselben Text. Aber wie soll man auf eine andere, wissenschaftlichere Art Texte betrachten?

Gestern habe ich im Kino einen Film gesehen, der unter "normalen Menschen" spielte, selbst die Darsteller waren "normale Menschen". Mir fiel auf, daß es immer eine Art Ideologie für uns war, in Kunstwerken nach "normalen Menschen" zu verlangen. Aber ist das nicht, wie mit dem Essen? Wenn der Verkäufer auf dem Markt noch Dreck an den Fingern hat, denkt man, seine Möhren seien natürlicher, obwohl man nicht wissen kann, wieviel Gift er spritzt. Bei Proust laufen normale Menschen nur manchmal durchs Bild, meistens auf dem Weg von der Küche zur Abstellkammer. Die meiste Zeit arbeiten sie im Hintergrund daran, den Helden des Buchs ein angenehmes Leben zu ermöglichen. Vom Standpunkt eines normalen Menschen könnte man Marcels ganze Gedankenwelt einfach vom Tisch wischen. Etwas Sport, eine geregelte Arbeit, die einem nicht zuviel Zeit zum nachdenken läßt, eine verständnisvolle Frau, die sich mit Hausmitteln gegen Kopfschmerzen auskennt oder vielleicht sogar massieren kann, und die Nerven würden sich schon wieder dauerhaft beruhigen. Aber dann hätte die Menschheit nie herausgefunden, was passiert, wenn man sich ein Leben lang nur mit sich befasst.

S.569-591 Mit den Mädchen ist er auf den Dünen. Anders als sie, ißt er nur Schokoladenkuchen und Aprikosentörtchen, denn "...mit einem Chester- oder Salatsandwich, dummen und neumodischen kulinarischen Erfindungen, wußte ich nichts anzufangen." Da hätte er vielleicht seine Freude an Bio-Läden, wo gerne seit der Urzeit ausgestorbene, oder nur von ebenfalls bald aussterbenden Urvölkern bewahrte, kulinarische Erfindungen wiederbelebt werden. "Der Kuchen aber trug Wissen in sich, die Törtchen waren geradezu mitteilsam." Sie erinnern nämlich an Combray und Gilberte. Zu seinem Glück hat Marcel nicht in der DDR gelebt und mitansehen müssen, wie seine Kuchen und Törtchen plötzlich vom Markt verschwinden. Seine zärtlichen Erinnerungen daran hätten ihm schnell den Ruf eines Ostalgikers eingetragen.

Die Mädchen sind noch in der "Morgenröte der Jugend [..] und wie auf den zarten Schöpfungen mancher Maler der Frührenaissance hoben die unbedeutendsten Einzelheiten ihres Daseins sich von einem Goldgrund ab [..] Der Augenblick kommt so schnell, da nichts mehr zu erwarten, da der Körper bereits in einer Unbeweglichkeit erstarrt ist, die keine Überraschungen mehr verspricht..." Denn später sind die Gesichter vom "Existenzkampf verhärtet, für alle Zeiten zäh oder ekstatisch gemacht. Das eine scheint – durch die unaufhörliche Beugung unter den Gehorsam einem Gatten gegenüber – mehr das eines Soldaten als das einer Frau, das andere, das seine Formung von den Opfern her erhalten hat, die eine Mutter täglich für ihre Kinder auf sich nimmt, ein Apostelkopf." Und wer will schon mit Soldaten und Aposteln in den Dünen sitzen, wenn man doch "...in der Nähe junger Mädchen ein Gefühl der Erfrischung verspürt..."

Kein Wunder, daß Marcel mit ihnen "Bäumchen, wechsel dich", oder das "Ringlein-Spiel" spielt, was eigentlich unter seinem Niveau ist. Er macht nichts anderes mehr und vertröstet sogar seinen Freund Saint-Loup, dem er einen Besuch in der Garnison versprochen hatte. Aber "Die Wesen, die die Möglichkeit besitzen, für sich zu leben – allerdings sind das eigentlich die Künstler, und ich war seit langem überzeugt, daß aus mir niemals einer werden würde-, haben auch die Verpflichtung dazu; die Freundschaft nun enthebt sie dieser Pflicht und zwingt sie zum Verzicht auf sich selber. Das Gespräch sogar, eine Ausdrucksweise der Freundschaft, stellt eine oberflächliche Abschweifung dar, bei der für uns nichts zu gewinnen ist. Wir könnten ein Leben lang Gespräche führen, ohne etwas anderes zu tun, als inhaltliche Leere einer Minute damit zu wiederholen, während der Gang der Gedanken in der einsamen Arbeit künstlerischen Schaffens sich in Richtung der Tiefe vollzieht als der einzigen Richtung, die uns nicht verschlossen ist und in der wir, mit größerer Mühe freilich, zu einer Wahrheit vorzudringen vermögen." Man möchte ihm zustimmen, aber man möchte auch wieder nicht. Sicher erlebt man es immer wieder so, wenn man in Gesellschaft ist. Aber es gibt doch auch anregende Gespräche, wenn es auch meist Selbstgespräche sind, für die man die Anwesenheit bestimmter Menschen braucht. "Die Freundschaft ist nicht nur wie das Gespräch ohne positiv fördernden Wert, sondern dazu auch noch verderblich. Denn die Regung von Langeweile und Verdruß, die in Gesellschaft ihres Freundes alle diejenigen unbedingt verspüren müssen, deren Entwicklungsgesetz ganz in ihrem Innern ruht – Verdruß darüber nämlich, daß sie ganz an der Oberfläche ihrer Persönlichkeit bleiben müssen, anstatt ihre Entdeckungsreise in die Tiefe fortzusetzen-, heißt die Freundschaft uns wiederum korrigieren, sobald wir von neuem uns allein überlassen sind; sie verlangt von uns, daß wir mit Rührung im Herzen an die Worte zurückdenken, die unser Freund uns gesagt hat, und sie als einen kostbaren Beitrag ansehen, während wir doch nicht wie irgendwelche Bauwerke sind, an die man von außen her Steine herantragen kann, sondern vielmehr wie Bäume, die aus ihrem eigenen Lebenssaft den nächsten Ring ihres Stammes, die Entfaltung der Laubkrone ziehen." Ein schönes Bild für eine radikale Konzeption.

"Bei diesen jungen Mädchen hingegen empfand ich zwar auch ein egoistisches Glück, aber wenigstens beruhte es nicht auf der Lüge, die uns glauben machen will, daß wir nicht unabänderlich allein sind, und die, wenn wir mit einem andern plaudern, uns an der Einsicht hindert, daß nicht wie mehr die Sprechenden sind, sondern daß wir uns nach dem Bilde eines Fremden formen und nicht nach einem Ich, das von dem seinen verschieden ist." Das ist freilich das anstrengendste in Gesellschaft, daß man sich unwillkürlich nach den anderen richtet, so weit, bis man das Gegenteil von dem behauptet, was man denkt, um sich dann für diese Ansichten, die man doch nur vorgegaukelt hatte, auch noch angreifen zu lassen. Der schwierigste Teil des Kennenlernens ist für mich immer, herauszufinden, was dem anderen wichtig ist, und was seine Überzeugungen sind, damit ich genau das sagen kann, was er gerne hört. Man will ja niemanden vor den Kopf stoßen und die meisten Menschen hängen so an ihren Ansichten.

Und nun zur Stimme, und es ist schön, daß sie in ihrer musikalischen Magie einmal gewürdigt wird: "Der Liebhaber junger Mädchen weiß, daß menschliche Stimmen noch sehr viel variantenreicher sind [als Vogellaute] Jede besitzt mehr Noten als das klangvollste Instrument." Woran sich Überlegungen anschließen könnten, warum es unmöglich ist, Popsongs in Noten zu transkribieren. "Die Züge unseres Gesichts sind eigentlich nichts anderes als bestimmte, durch Gewohnheit festgewordene Gebärden [..] Ebenso enthält der Tonfall unserer Stimme unsere Lebensphilosophie, das, was der betreffende Mensch sich selbst bei jeder Gelegenheit über die Dinge wiederholt." Dazu kommt der Einfluß der Familie, von der man eine bestimmte Art zu sprechen übernimmt, nicht nur Formeln, sondern auch den Tonfall. Schon die Verästelung in Cousins und Cousinen bringt verschiedene Familienstimmen, die man genau heraushören kann, wenn man sich trifft. Und dazu kommt der Tonfall der Herkunftsregion. Mit dem verhält es sich, wie mit jedem künstlerischen Ausgangsmaterial: "Im übrigen macht die Rückwirkung der durch die Heimat bedingten Materialien auf den schöpferischen Geist, der sich ihrer bedient und dem sie eine vollere Kraft zutragen, das Werk nicht weniger individuell, ob es sich nun um einen Architekten, einen Kunstschreiner oder einen Musiker handelt; mit nicht geringerer Genauigkeit spiegelt es selbst die feinsten Züge der Persönlichkeit des Künstlers wider, weil dieser genötigt war, mit dem Mühlenkalkstein von Senlis oder dem roten Sandstein von Straßburg zu arbeiten, weil er die Eigenmaserung der Esche berücksichtigen oder bei der Aufzeichnung seiner Noten den Umfang, die Klangfarbe und die Möglichkeiten von Flöte und Bratsche bedenken muß."

Aber in welches der Mädchen soll er sich verlieben? Warum in Albertine und nicht in die kluge Andrée? Verliebtheit empfindet er ja für alle. Jedesmal staunt er über ihre Gegenwart. Jedes Gesicht ist eigentlich "eine ganze Traube von Gesichtern". Jede Begegnung mit einem Gesicht wirkt "als eine Berichtigung, die uns zu dem zurückführt, was wir schon vorher gesehen haben. Wir erinnerten uns bereits nicht mehr daran, so daß eigentlich 'ein Wesen sich in Erinnerung rufen' in Wirklichkeit 'es vergessen' bedeutet." Darüber muß ich noch nachdenken. "Jedes Wesen zerfällt, wenn wir es nicht mehr sehen; erscheint es dann das nächste Mal wieder vor uns, findet gleichsam eine Neuschöpfung statt, die verschieden von den früheren, von allen anderen ist." Wieder eine Erfahrung von Fernbeziehungen. Man darf sich den ersten Schock der Wiederbegegnung aber nicht zu sehr anmerken lassen. Zum Glück kann man sich ja erst einmal umarmen und sieht dabei über ihre Schulter hinweg, vielleicht der Sitznachbarin aus dem Flugzeug nach. Es dauert nicht lange, dann sieht man wieder dieselbe Person, die man kannte. Die anästhesierende Wirkung der Gewohnheit. Allerdings verläuft die Rekonstruktion laut Proust paradox und schießt immer etwas übers Ziel hinaus. Hatte man die "träumerische Süße" an der Frau vergessen, erstaunt sie einen durch einen anderen Zug, den man dann in der Erinnerung zu stark hervorhebt, um beim nächsten mal wieder über die träumerische Süßte zu staunen. So schaukelt man immer hin und her.

Der Moment, in dem die Verliebtheit in alle Mädchen aus der kleinen Schar in Liebe zu Albertine umschlägt, ist wieder eine Inszenierung des désir triangulaire. Sie spielen "Ringlein, Ringlein, du mußt wandern", und neben Albertine steht ein junger Mann in der Runde, der ihre Hände berühren darf. Die sind zwar nicht so schön, wie die von Andrée, aber der Mann berührt eben Albertines. Außerdem: "Sie gehörte zu den Frauen, deren Hand zu drücken eine so große Freude erweckt, daß man der Kulturentwicklung dankbar ist, weil sie das 'shakehands' zu einem erlaubten Akt der Begegnung zwischen jungen Männern und Mädchen gemacht hat." Mit intrigantem Geschick schafft er es, neben Albertine zu stehen zu kommen, die ihm zuzwinkert und "ihren streichelnden Finger" unter seinen gleiten läßt. "Mit einem Schlag kristallisierten sich in mir eine Menge bislang verworrener Hoffnungen..." Doch gleich darauf benimmt er sich, verwirrt von Albertine, im Spiel so ungeschickt, daß sie sich lauthals über ihn beschwert und in Zukunft nicht mehr mit ihm spielen will. Die reifere Andrée nutzt den Moment und zieht ihn fort zu einem Spaziergang, auf dem er einen Weißdornbusch sieht. Er bleibt davor stehen, um "mit den Blättern des Weißdorns zu reden", seiner ersten großen Liebe, noch vor Gilberte. Und während das zärtliche Gespräch zwischen Marcel und dem Weißdornbusch sich entfaltet, ziehen wir uns taktvoll zurück.

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