Schmidt liest Proust
Mittwoch, 13. September 2006

Berlin - III Die Welt der Guermantes S.1-28

Man beginnt einen neuen Band, als sei der Autor kurz verreist gewesen, man fragt sich, was den Zwischenraum zwischen zwei Bänden füllt. Ich habe bei Startrek lange die Art der Pausen bewundert, wenn die Musik kurz anschwillt und ein Schnitt kommt, danach aber an derselben Stelle weitergemacht wird. Das hatte immer etwas erlösendes, man konnte sich neu konzentrieren. Später wurde mir klar, daß es nur die Stellen waren, bei denen im amerikanischen Fernsehen die Werbung kommt.

Es zwingt einen keiner, zwischen zwei Bänden eine Pause zu machen, und trotzdem verändert die Tatsache, daß ein Buch beendet und ein anderes begonnen wurde, das Lesegefühl. Es gibt die narrative Pause, die Zeit, die in der Zwischenzeit innerhalb der Erzählung vergangen ist - vielleicht ja gar keine-, und es gibt meine Pause, ich kann ja ein Jahr warten, bis ich weiterlese. Lesen ist ja wie Filme auf Video gucken, man kann das Tempo selbst bestimmen, man muß sich nicht nach einem von anderen bestimmten Leseprogramm richten, das einem wie das Fernsehprogramm vorschreibt, was man wie schnell zu lesen hat. Man könnte sogar versuchen, das Buch genau parallel zur Erzählzeit zu lesen, also an Stellen, wo steht: "Zwei Monate darauf..." zwei Monate warten, immer genau im Takt mit Prousts Lebensalter. Wenn man das dann als Kunstprojekt deklarieren würde, bliebe nur noch die Frage, ob man dafür in die Künstlersozialkasse kommt.

Ein eigenartiges Gefühl, das neue Buch zu beginnen, wie früher am ersten Schultag nach den Ferien das neue Hausaufgabenheft. Ich habe immer zufällig irgendwo einen Strich gemacht, um mich, wenn ich im Lauf des Jahres darauf stoßen würde, an den Moment zu erinnern, als ich den Strich gemacht habe. Vielleicht sollte ich mir wieder Hausaufgabenhefte kaufen und damit arbeiten. Manchmal verdeckte man einen Tag mit einem Zettel und schob ihn dann Zeile für Zeile zur Seite, in der Hoffnung, darunter keinen Eintrag zu finden. Es gab wenige solcher Tage, an denen nichts zu tun war. Das Ziel im Leben war immer, die Anzahl dieser Tage zu erhöhen.

Der dritte Teil der Recherche wird mich jetzt mindestens einen Monat begleiten. Den letzten habe ich begonnen, als ich aus Odessa wiedergekommen bin, was natürlich schon wieder ein halbes Leben her ist. Noch eine Stadt mehr, bei der ich auf der Wetterkarte gucke, wieviel Grad dort sind. Und wenn man jemanden trifft, der auch schon einmal dort war, kann man eines dieser enttäuschenden Gespräche führen, bei denen man eigentlich nur in seinen eigenen Erinnerungen schwelgen will, und den anderen als Katalysator benutzt. Nichts ist ernüchternder, als mit Menschen, für die man keine Leidenschaft empfindet, Leidenschaften zu teilen.

S.1-28 Die Familie ist umgezogen, weg aus dem sechsten Arrondissement. Ich war nur einmal im Leben drei Tage in Paris, nachdem man ja seine ganze Jugend über gedacht hatte, Paris sei das entscheidende Reiseziel, das einem verwehrt wurde. Ich habe aber immer noch niemanden kennengelernt, der dort lebt und mich einladen könnte, und ich finde, Paris ist es mir schuldig, mich wie einen Gast zu behandeln und nicht wie einen Touristen. Von meinem einzigen Aufenthalt erinnere ich mich vor allem an ein Restaurant mit einem Aquarium voller Hummer vor der Tür, den Tieren waren die Scheren zugebunden, damit sie sich nicht zerfetzten. Es sah in Paris eigentlich aus, wie überall in Frankreich, das Land ist ja in vielen Dingen stärker standardisiert, als die DDR. Der kurze Besuch hat nicht gereicht, um eine Vorstellung von den verschiedenen Arrondissements zu bekommen, deren Zahlen ja irgendwie zur Allgemeinbildung gehören. Ich kann also nicht kennerhaft die Augenbrauen heben, wenn jemand sagt, daß er vom 5. in den 12. gezogen ist, oder das der 7. der neue 9. ist. Für Marcel muß ein Umzug eine Zumutung sein, nicht umsonst beginnt er einen eigenen Band damit. Und tatsächlich: "...während ich infolge des Umzugs noch 'Temperatur' hatte und ähnlich einer Boa constrictor, die einen ganzen Ochsen verschluckt hat, mich beim Anblick einer langen Truhe, welche ich erst 'verdauen' mußte, peinlich geschwollen fühlte..."

Es folgen gedächtnispsychologische Erwägungen zu den verschiedenen Tönungen, die man mit einem Begriff verbindet, und die in Schichten im Bewußtsein lagern, manchmal sieben oder acht übereinander. Wobei es passieren kann, daß "durch irgendeinen Zufall der Name Guermantes nach so vielen Jahren noch einmal eine Sekunde lang den von dem heutigen so ganz verschiedenen Klang annimmt..." Und die schönsten Schichten sind die ältesten, vor allem die erste, die noch aus reiner Phantasie besteht. Man genießt die "...seltenen Augenblicke, in denen wir plötzlich die ursprüngliche Wesenheit zitternd weben..." die in den toten Silben wieder ihre einstige Form annimmt "...im schwindelnden Wirbel des täglichen Lebens, in dem sie nur noch eine rein praktische Verwendung finden..."

Wenn ich denke, wie oft ich in Brest oder Sofia war, und jeder Aufenthalt hat seine eigene Tönung, aber es wird immer schwerer, sie sauber zu trennen oder jeden für sich zu rekapitulieren. Reisen dorthin sind anstrengende seelische Übungen, weil man sich sein jeweiliges Ich, und den Eindruck von der Stadt aus den entsprechenden Epochen wieder ins Gedächtnis rufen will, mit allen damit verbundenen nostalgischen Gefühlen. Wozu macht man das überhaupt? Weil man an die Doktrin glaubt, daß alles, was man einmal gefühlt hat, wertvoll ist, als seien Emotionen der Honig, den man als Mensch produziert.

Noch ein bemerkenswertes Zitat: "Françoise hatte noch nicht begriffen, daß unsere gefährlichsten Gegner nicht diejenigen sind, die uns widersprechen und uns zu überreden versuchen, sondern die, welche Nachrichten übertreiben oder erfinden, die uns Kummer bereiten, diesen aber dabei nicht einmal einen Anschein von Berechtigung geben, der unsern Jammer lindern und uns vielleicht etwas wie Achtung vor einer Partei einflößen würde, die solche Leute uns vielmehr um jeden Preis, damit unsere Qual vollkommen sei, als erbarmungslos und unbegrenzt mächtig vor Augen stellen." Wenn Horkheimer/Adorno schreiben "Zufall und Planung werden identisch" (allerdings habe ich das Zitat nur aus einem Taz-Artikel geklaut) dann ist das eigentlich mein Programm für dieses Blog. Denn, was mich interessiert, und was ich versucht habe, durch die Spielregeln zu planen, ist, wie sich durch Zufall Realität und Buch überschneiden. Und dieses Zitat klingt so kurz nach dem 11.9. wie ein Kommentar zu unseren Medien, die unser Feind sind, weil sie "Nachrichten übertreiben" und Mächte als "erbarmungslos und unbegrenzt" hinstellen.

Selbständig lebensfähige Sentenz: "Mit der angeblichen Sensibilität der Nervösen nimmt ihr Egoismus zu; sie können von seiten der anderen das Zurschaustellen eines Unbehagens, dem sie bei sich selbst in ständig zunehmendem Maße Beachtung schenken, einfach nicht ertragen."

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