Schmidt liest Proust
Dienstag, 26. September 2006

Berlin - III Die Welt der Guermantes - Seite 273-293

Bevor ich zur Schule kam, hatten wir Mädchen nur angefaßt, um sie festzuhalten und ihnen den Rücken mit zerdrückten Hagebutten einzureiben, was angeblich jucken sollte. Die größeren unter uns, die schon etwas schreiben konnten, spielten dann ein neues Spiel, bei dem einer dem anderen mit dem Finger Buchstabe für Buchstabe ein Wort auf den Rücken schrieb, das es zu raten galt. So kam es, daß ich, weil ich unbedingt mitspielen wollte, schreiben gelernt habe, auf Mädchenrücken.

Seite 273-293 Es gibt ja die Theorie, daß das menschliche Gehirn erst gewachsen ist, und sich unsere Sprachkompetenz entwickelt hat, als die Horden, in denen die Urmenschen lebten, eine bestimmte Größe überschritten. Ursprung der Sprachkompetenz sei also das Verlangen, über andere zu reden, bzw. zu lästern. Im Salon der Madame de Villeparisis nutzt man sein Gehirn zu nichts anderem: Bloch lästert über Saint-Loup, die Madame de Guermantes lästert über Odette, alle lästern über Rahel, die Madame de Guermantes lästert über ein Stück von Maeterlinck (wofür Marcel sie verflucht, mit Worten, die "das Gegenteil von meinen Gedanken" darstellten, "es waren Äußerungen, wie man sie in der Konversation tut, wie wir dergleichen in Augenblicken sagen, in denen wir, zu ruhelos, um für uns zu bleiben, mangels eines anderen Gesprächspartners mit uns selbst so unaufrichtig wie mit einem Fremden zu reden das Bedürfnis verspüren"), und immer noch die Madame de Guermantes lästert über die Madame de Cambremer ("dieses riesige Huftier").

Dann kommt man auf die Dreyfus-Affäre zu sprechen, und es fallen die Namen von Zola, Oberstleutnant Henry, Oberstleutnant Picquart, Fezensac, Duras, Esterhazy, Paty de Clams, Cavaignac, Cuignet, Reinach, Boisdeffre, Rochefort, des Prinzen von Orléans, der Prinzessin Clementine, des Prinzen Ferdinand, des Fürsten von Bulgarien, des Prinzen von Joinville. Sie alle haben zur Frage, ob Dreyfus schuldig ist oder nicht, etwas beizutragen. Man wird fast ein wenig ungeduldig und fragt sich, ob Proust nicht gut daran täte, wieder einmal ein wenig "Intrigue zu schürzen". Aber nein, solche Gedanken muß man in sich niederzuringen wissen, es ist alles nur eine Prüfung, bei der sich die Spreu vom Weizen unter den Lesern trennt. 20 Seiten sind doch das mindeste, was man uns als Autor aufgeben geben kann, wenn man uns dafür mit einem kleinen Satz belohnt, nicht einmal einem besonderen Satz, nur einem schlichten und wahren Gedanken: "Aber ein anderes Gesetz der Sprache besteht darin, daß von Zeit zu Zeit, so wie gewisse Krankheiten kommen und gehen, von denen man später nichts mehr hört, Redewendungen auf ganz ungeklärte Weise entweder spontan oder dank einem Zufall entstehen wie dem, der in Frankreich ein Unkraut aus dem im Plüsch einer Reisedecke aus Amerika mitgeführten Samen entsprießen ließ, der auf die Eisenbahnböschung fiel, Redwendungen, die man innerhalb eines Jahrzehnts aus dem Munde der verschiedensten Menschen vernimmt, die sich bestimmt nicht darüber verständigt haben." Redewendungen, die sich wie Krankheiten ausbreiten, und heute ja nicht mehr nur über Reisedecken, sondern durch die Medien ("unter der Woche", "an Ostern", "O-Saft", "auf jeden"...), das ist zu einem ernsten Problem für die seelische Gesundheit der wenigen geworden, die bemüht sind, zu reden, wie sie selbst, und nicht wie ihre Zeit. Man müßte diese Redewendungen eben auch wie Krankheiten bekämpfen, indem man jeden, der sie verwendet, liquidiert oder zumindest solange knebelt, bis die Gefahr einer Seuche gebannt ist.

Unklares Inventar: - Ein Pronunciamento-General.

... Link


Online for 8032 days
Last update: 14.08.11, 11:14 Mehr über Jochen Schmidt
status
Youre not logged in ... Login
menu
search
calendar
recent updates
Neues Blog
Ein Aufenthalt in Bukarest hat mir Lust gemacht, wieder ein Blog zu beginnen....
by jochenheißtschonwer (14.08.11, 11:14)
Das Buch ist da
Lange war es nur ein Blog, jetzt ist es endlich ein...
by jochenheißtschonwer (28.09.08, 19:19)
Gibt es ein Leben nach
dem Proust? Liebe Blogleser, ich danke jedem einzelnen von Euch...
by jochenheißtschonwer (30.01.07, 21:50)
Berlin - VII Die wiedergefundene
Zeit - Seite 427-447 (Schluß) - Was ham wirn heute...
by jochenheißtschonwer (28.01.07, 16:25)
Berlin - VII Die wiedergefundene
Zeit - Seite 407-427 Eisiger Wind blies mir ins Gesicht,...
by jochenheißtschonwer (27.01.07, 01:37)
Berlin, Warschauer Straße, Firstbase-Internet-Café -
VII Die wiedergefundene Zeit - Seite 387-407 Warum hört man...
by jochenheißtschonwer (25.01.07, 19:02)

RSS Feed

Made with Antville
Helma Object Publisher