Schmidt liest Proust
Freitag, 8. September 2006

Berlin - II S.549-569

Es ist wirklich ein Jammer, daß man nicht radikal autofiktional schreiben kann, ohne seine Umwelt zu irritieren oder sogar Klagen auf sich zu ziehen. Als sähe sich ein Verhaltensbiologe genötigt, seine Erkenntnisse über die Springmäuse einem fiktiven Verhaltensbiologen unterzuschieben, nur um die Springmäuse nicht zu verärgern. Es ist schade, daß die meisten Menschen so wenig Vertrauen in einen haben, daß sie einem nicht zugestehen, daß für einen selbst die Texte und die Wirklichkeit, bzw. was man über diese Menschen schreibt, und was man für sie fühlt, zwei völlig verschiedene Dinge sind. Sie scheinen ein Verhältnis zur Schrift zu haben, das irgendwie noch magisch ist, als handle es sich um Zaubersprüche, die mit der Wirklichkeit ein Kraftfeld bilden. Dabei sind es nur Zeichen, reine Geometrie. Mich interessiert, ob alle Puzzleteile zusammenpassen, nicht, was auf dem Bild zu sehen ist, es könnte ein Chaos sein, oder gar nichts, weil ich mit umgedrehten Puzzleteilen spiele. Ich habe Ausländerinnen erlebt, die tief beleidigt waren, weil man sich über eine von ihnen leicht verdrehte deutsche Wendung gefreut hat, wie man sich über alles freut, worauf man von selbst nicht gekommen wäre. Sie konnten sich nicht vorstellen, daß solch ein "Fehler" ein wertvolles Fundstück für einen darstellt und einem einen anderen Blick auf die Sprache eröffnet. Man hat doch nicht nur eine Verpflichtung den Menschen gegenüber, sondern auch gegenüber der Kunst bzw. Wissenschaft. Ein Motiv ungenutzt zu lassen ist doch ein Verbrechen. Und die Wirklichkeit übertrifft sich eben immer wieder selbst mit ihren Kombinationen. Einmal traf ich zufällig eine jüdische Isralin, deren Vorfahren aus Odessa (!) und Weißrußland stammen, die Philosophie und Lacan studiert, besessen vom Holocaust ist, Sprüche von Marx zitiert, die ich seit der Schule vergessen hatte, jiddisch versteht und die Filme von Woody Allen in der richtigen Reihenfolge bewertet. Wer mich kennt, weiß, daß das klingt, als hätte die Stasi einen IM sorgfältig auf mich zugeschneidert, um mich zu manipulieren und mein Leben zu zerstören. Mich interessiert das aber nur als Motiv aus der Sitcom, die mein Leben darstellt, und die nun schon die 36. Staffel erlebt, mit mir selbst hat das, wenn ich darüber schreibe, nichts zu tun. Und da muß man sagen, gab es dieses Motiv bereits in einer früheren Staffel, und die Zuschauer könnten enttäuscht sein. Die Frage ist, ob man die Handlung in seinem Leben so zu gestalten versucht, daß sie dramaturgischen Ansprüchen genügt, oder ob man eine Serie für das größere, weniger anspruchsvolle Publikum produziert, das sich freut, wenn mit leichten Variationen immer das gleiche passiert. Es ist schon seltsam, man schreibt zwar, weil man sonst nicht mehr leben könnte, aber je radikaler man schreibt, umso schwerer macht man sich das Leben. Vielleicht ist nur eines sicher, egal, was man macht: "Das Leben weitergeht" (sorry, mußte sein...)

S.549-569 Mit einer Schnur hebt Albertine "einen merkwürdigen Gegenstand in die Höhe [..] das Ding nannte sich 'Diabolo' und ist derart aus der Mode gekommen, daß vor dem Porträt eines jungen Mädchens mit einem solchen Gegenstand künftige Kommentatoren gelehrte Ansichten werden äußern können, nicht anders als darüber, was irgendeine der allegorischen Figuren in der Arenakapelle in der Hand halten mag." Hier irrt der Autor (zum ersten mal wahrscheinlich), das Ding ist leider wieder in Mode gekommen und hält junge Mädchen nach wie vor vom Erlernen nützlicher Tätigkeiten ab. Schade, daß aus Prousts Zeit ausgerechnet das Diabolo überlebt hat, und nicht z.B. das Korsett.

Nach und nach pirscht sich Marcel auch an die anderen Vertreterinnen der "kleinen Schar" heran. Gisèle z.B., die am Strand den armen Greis verspottet hatte, und ihm deshalb zu den grausamsten unter ihnen zu gehören schien, ist in Wirklichkeit "ein scheues Kind". Sie läßt einmal flüchtig ein Lächeln aufblitzen, worauf er sofort Feuer fängt, und sich sagt, sie habe in den letzten Tagen nur "mißmutig ausgesehen, weil es ihr nicht gelang, meine Bekanntschaft zu machen." Das ist natürlich eine radikale Umdeutung, wie sie nur einem Ego, wie Marcel es besitzt, gelingen kann.

Albertine ist eigentlich die unattraktivste von ihnen allen: "Ich hatte an diesem Morgen gesehen, wie sie wegging und mir fast den Rücken kehrte, um mit Gisèle zu sprechen. Auf ihrem mißmutig geneigten Kopf hatte hinten das Haar in einer mir fremden Weise geglänzt, als wenn sie eben aus dem Wasser käme. Ich hatte an ein nasses Huhn denken müssen..." Einer dieser Momente, über die man erschrickt, weil man sich dabei so grausam vorkommt. Ich glaube, es hat mit Freuds Todestrieb zu tun, kenne mich aber zu wenig damit aus. Man kann nicht bewundern, ohne einen Rückstoß zu erzeugen, der sich in solchen Momenten zeigt. Bei neuen Bekanntschaften fürchtet man nichts mehr, als, daß die Frau plötzlich wie ein nasses Huhn aussieht, auch wenn erst danach das richtige Leben beginnt.

Er will nun Albertine vernachlässigen, um Gisèle, die in Paris ihre Prüfungen ablegen wird, nachzueilen, und sie im Zug zu treffen. "...denn in den Epochen meines Lebens, in denen ich nicht verliebt war, es aber gern gewesen wäre, trug ich nicht nur ein körperliches Schönheitsideal in mir, das ich, wie man gesehen hat, in jeder Vorübergehenden wiederzuerkennen glaubte, wenn sie mir nur genügend fern blieb, damit ihre undeutlichen Züge dieser Identifizierung nicht widerstreben konnten, sondern außerdem auch noch ein – stets zur Verkörperung bereites – seelisches Klischee der Frau, die sich in mich verlieben und mir in der Liebeskomödie, die ich seit meiner Kindheit fertig im Kopf hatte und in der, wie ich mir einbildete, jedes halbwegs liebenswürdige junge Mädchen gern mitgespielt hätte, wofern sie für die Rolle die geeigneten körperlichen Voraussetzungen besaß, das Stichwort geben würde." Ich will einmal behaupten, daß ich von fast jeder Frau, oder auch von fast jeder Gruppe von Frauen, heftig attackiert würde, wenn ich ihnen im Gespräch solch ein inneres Szenario beichten würde. Es hat auch schon Männer gegeben, die sich da unnachgiebig gezeigt haben. Aber Proust ist für solche Erörterungen berühmt geworden und darf sich ewigen Ruhmes erfreuen, ist das nicht ungerecht?

Er weiß, daß "unter der rosigen Blüte einer Albertine, Rosemonde, Andrée, ihnen selber unbekannt und durch die Umstände noch zurückgehalten, eine dicke Nase, ein derber Mund, eine Körperfülle wohnten, die überraschen würden, aber in Wirklichkeit schon in der Kulisse warteten, bereit auf die Bühne zu treten..." Unter diesen Umständen ist es ihm natürlich nur um so höher anzurechnen, wenn er sich mit den Mädchen abgibt, obwohl er die dicken Nasen, die sie einmal haben werden, schwerlich ignorieren kann. "Wie bei einer Pflanze, an der die Blüten zu verschiedener Zeit zu Früchten reifen, sah ich am Strande von Balbec bereits die alten Damen, die harten Fruchtschoten, die schwammigen Wurzelknollen der Augen, zu denen meine Freundinnen eines Tages zwangsläufig werden mußten." Wer schon die "harten Fruchtschoten" vor sich sieht, wenn er mit Abiturientinnen plaudert, kann eigentlich nicht glücklich genannt werden.

Übrigens hat Marcel Gisèles Zug wegen einer Schranke und einer Fahrplanänderung um fünf Minuten verpaßt. So arbeitet das Schicksal, dieser Roman wird ungeschrieben bleiben. Wie gesagt, wenn sich in der Recherche Wendungen ergeben, oder, wenn sie ausbleiben, dann durch Unfälle und Pannen. Aber im Grunde ist es ja egal, welchen Roman Marcel am Ende erleben wird, denn Albertine, Gilberte, alle sind sich irgendwie ähnlich, man wählt sich Wesen: "...welche mit uns kontrastieren und uns zugleich entsprechen, das heißt sich eignen, unseren Sinnen zu genügen und uns Leiden des Herzens zu bereiten [..] So könnte ein Romanschriftsteller in der Lebensgeschichte seines Helden dessen aufeinanderfolgende Liebeserlebnisse fast genau gleich darstellen..." Und tut Proust das nicht auch?

Noch etwas Technikgeschichte: "...Finden sie es auch hübsch, was die Frauen jetzt im Automobil tragen? –'Nein', antwortete Elstir. 'Aber das wird schon noch kommen. Übrigens gibt es dafür bisher nur wenige Schneiderateliers, ein oder zwei, Callot, der aber noch ein bißchen viel mit Spitze wirtschaftet, Doucet, Cheruit, manchmal auch Paquin. Die andern sind schauderhaft.'" Eine Zeit, in der man zum Autofahren noch spezielle Kleidung anlegte, wie zum reiten oder schwimmen. Wenn die Frauen erst in Wimbledon in Jeanshosen antreten, wird alles vorbei sein.

Unklares Inventar: - Linon

  • Drell
  • Barègekleid

Verlorene Praxis: - ein Mädchen, während ihre Miss ein Schläfchen macht, im Durchgangswagen des Zugs in eine dunkle Ecke ziehen, um mit ihr eine Begegnung in Paris zu verabreden.

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