Schmidt liest Proust
Samstag, 16. September 2006

Berlin - III Die Welt der Guermantes - III Seite 68-88

Je mehr ich gereist bin, umso schwieriger wird es für mich, mir über meine Sympathien im Fußball klarzuwerden. Die Ergebnisliste vom UEFA-Cup liest sich wie eine einzige Invitation au voyage. Daß es sich um Fußball handelt, ist dabei völlig zweitrangig, ich lese die Namen der Städte und fühle mich in alle Richtungen gleichzeitig zerfließen. Man kann direkt froh sein, daß die Raumfahrt noch nicht so weit ist, die Vielfalt unserer Sehnsüchte auch noch auf die verschiedenen Sterne zu richten.

Rubin Kasan - FC Parma 0:1 (0:0) Nach Kasan sind bei meinem zweiten Moskauaufenthalt einige der anderen Studenten gefahren. Ich war vermutlich krank oder in Vokabeln vertieft, jedenfalls habe ich die Exkursion verpaßt und denke deshalb oft an Kasan.

Levadia Tallinn - Newcastle United 0:1 (0:1) Nach Tallinn wollte ein polnischer Mitstudent Anfang der 90er mit mir fahren, ich kannte ihn gar nicht richtig und habe ihn nie wiedergetroffen. Inzwischen sieht es dort vermutlich ganz anders aus. Schade, daß sie nicht gewonnen haben.

Legia Warschau - Austria Wien 1:1 (1:1) In Warschau bin ich das erste mal allein im Ausland gewesen, es gab Saft in kleinen Plastetüten. Ich denke immer einmal wieder darüber nach, mit dem Zug nach Warschau zu fahren, es liegt ja so nah. Aber ich mache es nicht, eher würde wohl ein Zug von Wahrschau zu mir fahren.

Slovan Liberec - Roter Stern Belgrad 2:0 (1:0) In Liberec haben wir mit der Klasse einen Berg mit einem Turm bestiegen. Die schöne, blonde Kellnerin vom Aussichtsrestaurant hat uns dann ignoriert. Jetzt haben sie also gegen Belgrad gewonnen, eine der Städte, in denen ich gerne geblieben wäre. Schon weil es dort ein Hotel gab, das "Moskau" hieß.

AO Xanthi - Dinamo Bukarest 3:4 (2:3) In Bukarest habe ich mich die ersten beiden Nächte übergeben. Tagsüber habe ich auf sie eingeredet, weil mir plötzlich mein halbes Leben wieder einfiel.

Chernomorets Odessa - Hapoel Tel Aviv 0:1 (0:0) Um das Stadion von Chernomorets bin ich in diesem Sommer jeden Tag gelaufen, es roch dort nach Pferden. In Tel Aviv wohnt Udi, der gesagt hat: "True love exists, we see it on our monitors".

Start Kristiansand - Ajax Amsterdam 2:5 (1:2) In Amsterdam habe ich mich nur einmal wohl gefühlt, als es regnete, und ich gezwungen war, im Café Kattoen zu bleiben und zu schreiben.

Lokomotive Moskau - SV Zulte-Waregem 2:1 (1:0) Vor Moskau habe ich keine Angst mehr, und es ist mir unbegreiflich, wie ich einmal welche haben konnte. Aber auch das hatte seinen Reiz.

Artmedia Bratislava - Espanyol Barcelona 2:2 (2:1) In Barcelona weckte uns 3 Wochen lang ein Mann, der durch die Gassen ging und "Tan" rief, als suche er einen Hund. Aber er brachte nur die Butan-Gas-Flaschen, die man an einer Schnur in die Wohnung zog.

Besiktas Istanbul - ZSKA Sofia 2:0 (0:0) In Istanbul gab es Ayran auf der Fähre nach Asien. Alle Stadtviertel hießen wie türkische Fußballklubs.

ZSKA Sofia - Besiktas Istanbul -:- (-:-) In Sofia habe ich mich immer zuhause gefühlt.

AZ Alkmaar - Kayserispor 3:2 (2:1) Auf dem Weg nach Lunteren sind wir in Alkmaar umgestiegen, niemand kannte den Ort. Der Bahnhof war zu einem Möbelgeschäft umgebaut worden.

FC Basel - Rabotnicki Skopje 6:2 (4:0) In Basel bestieg ich zum ersten mal einen ICE. Die Scheiben rechts und links wirkten wie Panoramafenster, hinter denen man den Sonnenuntergang sah. Man konnte die Schuhe ausziehen, weil es einen Teppich gab. Ich war 4 Wochen mit 20 Km/h durch Europa gefahren, jetzt rauschte draußen eine Tagesstrecke vorbei, deren Eigenheiten auf diese Weise für mich bedeutungslos wurden. Deshalb war ich ein wenig traurig.

Rabotnicki Skopje - FC Basel -:- (-:-) Zu Silvester sahen wir in Sofia fern, es gab auch einen Sender aus Skopje, wo sie es schafften, noch ein wenig seltsamer zu wirken, als in Bulgarien.

Slavia Prag - Tottenham Hotspur 0:1 (0:1) In Prag gab es Hörnchen, Streichkäse, eine Dire-Straits-Platte und einen Zeltplatz voller Sachsen.

Sporting Braga - AC Chievo Verona 2:0 (1:0) Vom Garda-See nach Verona war es nicht weit. Es war dort viel zu windig zum Zeitunglesen.

Dinamo Zagreb - AJ Auxerre 1:2 (0:1) Von Zagreb fuhr der Bus nach Sarajevo, ich war sehr ängstlich. Es war so neblig, daß ich nichts von der Stadt sah. In Wirklichkeit sah ich aber viel mehr.

Wisla Krakow - Iraklis Saloniki 0:1 (0:1) In Krakau hatte ich einen Balkon aus Holz. In der Stadt hat einen nichts gestört.

Maccabi Haifa - Litex Lovech 1:1 (1:0) In Lovech ist Steffka zur Schule gegangen. Ihre Freundin im Internat sprang abends immer auf dem Bett auf und ab und rief: "Iskam musch! Iskam musch!"

FC Sion - Bayer Leverkusen 0:0 (0:0) Aus Leverkusen kommen meine Tabletten.

Eintracht Frankfurt - Bröndby IF 4:0 (0:0) In Frankfurt war ich in einer Halle voller Bücher, es war eine Art Hölle.

RB Salzburg - Blackburn Rovers 2:2 (1:2) In Salzburg war ich dienstlich, einen anderen Grund kann es dafür nicht geben.

Olympique Marseille - FK Mlada Boleslav 1:0 (1:0) In Marseille wurden wir von der Polizei kontrolliert, die bei uns Haschisch vermutete. Am nächsten Morgen wachten wir in Ajaccio auf. Jetzt wohnt sie in Berlin.

Panathinaikos Athen - Metalurg Saporoschje 1:1 (1:0) Der Saporosch war auf unseren Straßen ein seltenes Auto. Aber er war eines unserer Autos.

III Seite 68-88 Der Parcours, den er morgens bewältigen muß, um allen Milchmädchen und Christenlehre-Heimkehrerinnen, denen er zufällig einmal begegnet ist, zufällig wieder zu begegnen, wird immer komplizierter, und dann ist da ja auch noch die Madame, das eigentliche Ziel. Er prüft in seinem Geist schon, wie sie sich als neue Besetzung der weiblichen Hauptrolle in seinen romantischen Vorstellungen machen würde. Und er wünscht, Gott würde ihren völligen Ruin bewirken, so daß sie "ohne Haus und Heim und von niemand mehr gekannt, bei mir Zuflucht suchte." Eine interessante Farge, ob er die Madame, ohne ihren Prunk und ihre gehobene Position auf der gesellschaftlichen Leiter wirklich noch wollen würde?

Françoise ist über diesen Spleen etwas ungehalten, und ihr Charakter wird im Alter sowieso immer seltsamer. Das ist aber kein Wunder, denn: "Gewisse Formen der Existenz sind so wenig normal, daß sie naturgemäß gewisse Verbildungen hervorbringen müssen, beispielsweise die Existenz, die der König von Versailles unter seinen Höflingen führte, seltsam wie die eines Pharao oder Dogen, und weit mehr noch als die des Königs die der Höflinge. Die Existenz der Dienstboten aber ist vielleicht von einer noch monströseren Seltsamkeit, die nur die Gewöhnung uns verbirgt." Jeder Beruf bringt seine Verbildungen hervor, ich warte noch auf ein "Museum der Berufskrankheiten".

"Denn damals stellte ich mir noch vor, daß man die Wahrheit an andere durch Worte weitergibt. Auch die Worte, die man zu mir sagte, prägten sich mit ihrer unveränderlichen Bedeutung so tief in mein empfängliches Gemüt ein, daß ich ebensowenig für möglich hielt, daß jemand, der mir gegenüber, er liebe mich, mich in Wahrheit nicht liebte, wie etwa Françoise daran gezweifelt hätte, nachdem sie es in einer Zeitung gelesen, daß ein Priester oder irgendein anderer Mensch nicht imstande sei, uns auf briefliche Anforderung gratis ein unfehlbares Mittel gegen alle Krankheiten oder eine Anweisung zu schicken, wie wir unser Einkommen vervielfältigen könnten." Und wenn man diesen Glauben erst verloren hat, gelingt es einem kaum, noch irgendeine Äußerung wörtlich zu nehmen. Das wäre ja auch naiv, weil es zwar einen Willen geben kann, die Wahrheit zu sagen, aber niemand wissen kann, was für ihn die Wahrheit in Wirklichkeit ist.

Noch absurder, als sich selbst zu erkennen, wäre die Hoffnung, andere zu erkennen. Jeder Mensch ist ein "dunkles Schattengebilde [..] über das wir uns zwar zahllose Meinungen bilden mit Hilfe von Worten oder sogar Handlungen, die beide jedoch uns nur unzulängliche und widerspruchsvolle Auskünfte erteilen, ein Schattengebilde, hinter dem wir mit annähernd gleicher Wahrscheinlichkeit das Auffunkeln des Hasses wie der Liebe vermuten können." Glücklich, wem es gelingt, immer das bessere zu vermuten.

Er besucht Saint-Loup in seiner Garnison, schon im voraus von der Angst geschüttelt, dort in einem Hotel übernachten zu müssen. Und da Saint-Loup Wochendienst hat, wird er ihm im Hotel keine Gesellschaft leisten können, es scheint also eine schier unerträgliche Nacht vor ihm zu liegen. "Sie werden ja ganz blaß...", sagt Saint-Loup zu ihm und runzelt die Brauen "...aus Verdruß über die Lage, aber auch infolge der Anspannung, mit der er wie ein Arzt auf Linderung meiner Leiden sann." Wie gewinnt man solche Freunde?

Marcel wartet auf Saint-Loups Stube, auf dem Weg dorthin gleitet er auf beinahe jeder der genagelten Stufen aus und stört sich an einem groben, faden, gärigen Geruch wie von Schwarzbrot. Im Zimmer tickt eine Uhr, aber, erst, als er sie vor sich stehen sieht, weiß er, woher das Geräusch kommt. Denn "Töne haben keinen Ort". Geräusche sind ein großes Thema, und wenn man mit Proust Werbung für ein Produkt machen könnte, dann sicherlich für Ohrstöpsel. Die Art, wie sich die Welt durch ihren Gebrauch verwandelt, konnte von Proust nicht unbemerkt bleiben. Wenn ein mit Ohrstöpseln bewehrter Kranker ein Buch liest "...werden die Seiten des Buchs sich lautlos wenden, als blättere ein Gott sie für ihn um." Ich hatte neulich die Idee, auf die nächste Party mit Ohrstöpseln zu gehen. Isolierter als so würde ich mich damit auch nicht fühlen. Es ist vielleicht ein ähnlicher Effekt, wie der, den ich sonst immer beobachte, weil ich als einziger kaum trinke. Dadurch entfernt man sich immer mehr von der Gegenwart der anderen. Mein bleibt sozusagen taub für den Partyrausch, in den sie sich hineinsteigern. Hier und da stützt man einen Schwankenden oder fängt reaktionsschnell ein Glas kurz vor dem Aufprall auf, aber sonst wird man für die Menge immer unsichtbarer. Man ist dann wie der Getränkeassistent in einer Talk-Show, der einzige, der sich nicht von der aggressiven Stimmung unter den Streitenden anstecken läßt.

Ohrstöpsel und Liebe, es erfordert keinen großen Gedankensprung, um vom einen zum anderen zu kommen: "Bei dieser Gelegenheit kann man sich fragen, ob man in der Liebe [..] nicht wie die, die dem Geräusch in der Weise begegnen, daß sie nicht seine Beendung ersehnen, sondern sich einfach die Ohren verstopfen, handeln sollte; man würde dann ja, ihrem Beispiel folgend, seine Aufmerksamkeit und seine Widerstandskraft in sich selbst verlegen und beiden Eigenschaften als Objekt für ihre verminderte Kraftaufwendung nicht das geliebte Wesen außer einem zuweisen, sondern die eigene Fähigkeit, durch dieses Wesen zu leiden." Den Satz verstehe ich einfach nicht, obwohl er mir gefällt. Ich weiß nicht, was mit "beiden Eigenschaften" gemeint ist.

Man kann die Abschottung noch steigern, indem man die Kugel tiefer in den Gehörgang führt, oder sie "mit einer fetten Substanz" tränkt. Dann schlägt die Wattekugel "gleichsam den Klavierdeckel" des Piano übenden Mädchens aus der Nachbarschaft zu. Und es wäre schön, möchte man hinzufügen, wenn das so unerwartet geschieht, daß sie nicht mehr die Zeit hat, ihre Finger in Sicherheit zu bringen.

Unnklares Inventar: - Libertyseide.

Vertraute Praxis: - In den Wagen steigen "mit dem achtlosen Schwung eines Menschen, der, da er aufgehört hat, über Entschlüsse nachzudenken, aussieht, als wisse er, was er will..."

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