Schmidt liest Proust
Sonntag, 3. September 2006

Berlin - II S.445-467

Das umeinander herum Schleichen fremder Menschen auf Partys. Ein flüchtiger Blick ins Wohnzimmer, und man weiß, daß alle anderen oberflächlich sind. Trauben von Männern umgeben die wenigen Frauen, wie der Bienenschwarm die Königin. Manchmal löst sich einer, aber die freigewordene Stelle wird sofort von einem anderen besetzt. In der Küche sind die, die auch keinen kennen. Während eine Wuppertalerin aufzählt, welche Prominenten aus ihrer Stadt kommen, aus der man nur fliehen könne - nach jedem Namen staunt man gemeinsam, daß es möglich ist, bei einer solchen Herkunft etwas zu werden-, muß man immer wieder auf das hinter ihr an der Wand hängende Plakat sehen, das Bilder von einem Costa-Gavras-Film über Folter zeigt. Drei Frauen besprechen einen Film über einen Vergewaltiger, der dauere zwar drei Stunden, gehe einem aber noch lange nach, obwohl er gar nicht so nah bei den Figuren sei, wie es scheine. Aber wichtig sei, daß er einlöse, was er sich vorgenommen habe. Alle Gäste schreiben Drehbücher, arbeiten aber im Moment für Telenovelas. Die Regisseure suchen noch nach der Finanzierung für das Projekt, mit dem sie das Geld verdienen wollen, um das Projekt zu finanzieren, an dem sie eigentlich arbeiten. Nach zehn Minuten möchte man gehen. Wenn man sie alle nacheinander zu sich einladen würde, könnte man sicher mit jedem ein gutes Gespräch führen, aber unter den Bedingungen einer Party muß man sich langweilen. Der Sänger einer Rockband aus der eigenen Jugend, ob es ihn beleidigt, immer auf seine früheren Leistungen angesprochen zu werden? Oder fühlt er sich schon so vergessen, daß es ihn freuen würde? Im Kopf sagt man sich seine Songtexte auf, man kennt sie noch auswendig. Er schleicht an einem vorbei und scheint nicht so sehr zu überlegen, ob er einen kennt, sondern ob man ihn kennt. Zum Glück ist man nicht nicht mehr berühmt, sondern nur nicht berühmt.

Wohnungen, in denen die Bücher in den Flur verbannt wurden.

Nach drei Stunden ist man immerhin so weit, daß man den richtigen Moment abpassen muß, um unbemerkt zu verschwinden, bis dahin wäre das sowieso unbemerkt geblieben. Es müßte doch jede Gesellschaft in Unruhe versetzen, wenn man nicht mehr da ist. Auch jede Gesellschaft, die einen gar nicht kennt, sollte verzweifelt nach einem fehlenden Element suchen, erst, wenn man dazutritt, atmen alle auf und fühlen sich von einer ziellosen Unrast befreit.

Im Hausflur den Wodkabecher in die Kiste für Werbung geworfen und dabei das übliche Unbehagen empfunden, wenn man Restflüssigkeiten in öffentliche Behälter tut.

S.445-467 Inzwischen ist im Hotel alles gar nicht mehr so schlimm, selbst der Direktor ist eigentlich ganz sympathisch: "...seitdem ich in Balbec war, hatte meine verstehende Aufmerksamkeit sein Gesicht gleichsam mit konservierenden Mitteln behandelt und allmählich verwandelt, als handle es sich um ein Präparat für den Naturgeschichtsunterricht." Marcel hat also allein durch seine verstehende Aufmerksamkeit daran gearbeitet, aus dem Direktor einen besseren Menschen zu machen. Aber dafür braucht man eben Wochen, und die paar Stunden, die man bei einer Party hat, reichen nicht aus. Aber jetzt fällt einem wieder ein, warum man dort immer so enttäuscht ist, weil man einfach mit in überzogenen Erwartungen hingegangen ist: "Ich hegte in mir alte Kindheitsträume, in denen die ganze Liebe, welche in meinem Herzen, aber, wenn ich sie fühlte, von ihm selbst ganz ununterscheidbar, enthalten, mir von einem Wesen entgegengebracht würde, das von mir so verschieden wie möglich wäre." Das schöne ist, daß, wenn einen schon ein Wesen, das so verschieden wie möglich von einem ist, liebt, einen logischerweise ja auch all die anderen, die nicht so verschieden von einem sind, lieben müssen. Man schlägt also mehrere Fliegen mit einer Klappe.

Von Saint-Loup, mit dem erzum Abendessen nach Rivebelle fährt, ist nicht viel Ausschweifung zu erwarten, denn er leidet momentan unter "einer abergläubischen Überzeugung, von seiner eigenen Treue hänge die seiner Mätresse ab." Marcel hat zwar noch nichts geleistet und auch wenig mehr dafür getan, als seine Umwelt und sein Seelenleben zu beobachten, aber auch davon braucht er eine Pause. Seltsamerweise kann man sich zu großem berufen fühlen, ohne das geringste in der Hand zu haben: "Seit einiger Zeit hatten mir Bergottes Worte, er sei entgegen meiner Behauptung überzeugt, daß ich vor allem für die Freuden des Geistes bestimmt sei, eine gewisse Hoffnung auf eine künftige Leistung zurückgegeben, die jeden Tag von neuem durch die Unlust zuschanden gemacht wurde, mit der ich mich an den Schreibtisch setzte, um eine kritische Studie oder einen Roman zu beginnen." In solchen Zeiten ist man natürlich um so empfänglicher für die Worte wichtiger Leute, die in einem mit ihrem Kennerblick das erkennen, woran man selbst noch gar nicht glaubt. Vielleicht würde man, wenn man nie durch so jemanden angestiftet würde, ja einen vernünftigen Beruf ergreifen.

Wenn Marcel etwas erreichen will, muß er kräftiger werden. Er stellt "alle Vergnügungen jenem einen Zweck nach, den ich für unendlich viel wichtiger hielt als sie, nämlich kräftig genug zu werden, um das Werk zu schaffen, das ich vielleicht in mir trug..." Aber mit der Askese ist es in Rivebelle vorbei: "...wir traten in den Speisesaal unter den Klängen einer kriegerischen Marschmusik, die die Zigeuner spielten, und gingen auf die Reihen gedeckter Tische zu wie auf einer bequem vor uns sich öffnenden Via triumphalis, und obwohl wir fühlten, wie die Rhythmen des Orchesters, das uns solche militärischen Ehren und einen so unverdienten Triumph bereitete, unsern Körper mit einem Feuer des Glücks durchdrangen, verbargen wir unsere Gefühle unter einer ernsten, eisigen Miene und einer lässigen Art des Schreitens, um nicht den gewissen schneidigen Chansonetten zu gleichen, die zum Absingen eines übermütigen Couplets auf eine kriegerische Melodie in der martialischen Haltung eines siegreichen Generals auf die Bühne stolzieren." Ein großer Opernauftritt ist das mindeste, was man erwarten darf, wenn man zu einer fremden Gesellschaft stößt. Wie üblich verliert er kein Wort darüber, wer ihm eigentlich diese Vergnügungen bezahlt und es geht ihm nie der Gedanke durch den Kopf, ob es eigentlich gerecht ist, daß er hier schlemmt, während seine Altersgenossen ihn bedienen: "Einige Bediente, noch zu jung und schon abgestumpft durch die Ohrfeigen, die die Oberkellner ihnen im Vorbeigehen gaben, richteten melancholisch ihre inneren Blicke auf einen fernen Traum..."

Marcel trinkt Bier, Champagner und Portwein "...weniger auf Grund des Behagens, das ich mir von weiteren Gläsern versprach, als vielmehr dank der Wirkung der schon genossenen." Und er genießt durch die Musik und den Alkohol befeuert eine eigenartig euphorische Vision seiner Unwiderstehlichkeit: "Meine Liebe kam mir nicht mehr wie etwas vor, das unerwünscht sein, zum Lachen reizen könnte, sondern schien mir die rührende Schönheit und Verführungsgabe dieser Musik zu haben..." Die "Beseligung der gegenwärtigen Minute" sticht einmal die "Verwirklichung der Träume jener Vergangenheit" aus. "Infolgedessen geschah es, daß ich auf Grund eines nur scheinbaren Widerspruchs gerade in dem Moment, da ich ein einzigartiges Glücksgefühl in mir verspürte, da ich meinte, mein Leben könne herrlich sein, da es also in meinen Augen besonders wertvoll hätte sein müssen, alle Sorgen von mir warf, die es mir so lange bereitet hatte, und es ohne Zögern dem Risiko eines jederzeit möglichen Unglücks aussetzte. Ich tat dabei im übrigen nichts anderes, als auf einen einzigen Abend die ganze Sorglosigkeit zu konzentrieren, die sich bei andern Menschen in verwässerter Form auf das ganze Dasein verteilt..." Dazu kann ich gar nichts sagen, ich gönne es ihm einfach auch einmal. "...wäre jemand forthin mit der Absicht, mich umzubringen, gekommen, so hätte ich, da ich alles nur noch in nebelhafter Ferne sah: meine Großmutter, meine künftige Existenz, die Bücher, die ich schreiben wollte, da ich ganz dem Duft der Frau am Nebentisch, der Höflichkeit des Kellners, der Melodienführung des Walzers, der eben gespielt wurde, hingegeben war, an das Bewußtsein des Augenblicks geheftet ohne Erstreckung über ihn hinaus und ohne andern Zweck, als mich von ihm nicht zu lösen, hätte ich, sage ich, im Angesicht dieser Stunde mich töten, mich ohne Widerstand niedermachen lassen, reglos wie eine Biene, die vom Tabak betäubt den Instinkt verliert, ihren Stock zu schützen." Deshalb sollten Dichter nicht trinken, weil sie sich dann, ihren Bienenstock vernachlässigend, dem nächstbesten Mörder in die Klinge zu stürzen pflegen.

Unklares Inventar: - Gallégläser

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