Schmidt liest Proust
Freitag, 15. September 2006

Berlin - III Die Welt der Guermantes - Seite 48-68

Gestern habe ich bei der "Chaussee der Enthusiasten" einen Text gelesen, den ich Proust verdanke, auch wenn man das nicht gemerkt haben wird. Es ging um das Minimum an Entgegenkommen, das ausreicht, um zu denken, jemand sei in einen verliebt, wobei man sich selbst dieses kleine Zeichen oft genug schon nur einbildet. Mir ging das so im Alter von 12 Jahren, aber als Proust-Leser wird einem ja irgendwann klar, daß man im Leben nur immer dieselbe Liebesgeschichte wiederholt. Ein kleiner Text, von Wehmut nach einer Zeit getränkt, in der man noch nicht wußte, daß man nie weniger Sorgen haben würde, der aber in der Übertreibung der gedanklichen Verschrobenheit des Helden schon wieder komisch wirkt. Wie alle Texte, die mir gelungen vorkommen, hat er sich von ganz allein geschrieben hat, bzw. er war schon da, ich mußte ihn nur ausformulieren. Das war besonders angenehm, weil ich, durch das Beispiel Prousts ermutigt, mir wieder einmal das Recht genommen habe, eine Kleinigkeit aus dem eigenen Leben so ernst zu nehmen, daß sie etwas exemplarisches bekommt. Man denkt immer, das Erfahrungsmaterial sei schon erschöpft, dabei hat man noch gar nicht richtig angefangen. Bei meinem marktbedingten derzeitigen Veröffentlichungsrhythmus würde so ein Text allerdings frühestens in sechs Jahren erscheinen. Vielleicht ist man noch kein richtiger Autor, wenn einen so etwas noch ungeduldig macht.

III Seite 48-68 Immer noch in der Oper. Das eigentliche Schauspiel stellen für ihn schon die Zuschauer dar. Der Marquis de Palancy sucht seinen Logenplatz: "...und schien das Publikum im Parterre ebensowenig zu sehen wie ein Fisch, der ohne das leiseste Bewußtsein von der Menge neugieriger Zuschauer hinter der Glasscheibe eines Aquariums träge entlanggleitet. Manchmal hielt er, ehrwürdigen Alters, kurzatmig und bemoost, einen Augenblick in der Bewegung inne, und die Zuschauer hätten dann nicht sagen können, ob er Beschwerden hatte, schlief, schwamm, gerade Eier legte oder auch einfach nur atmete."

Damals bei der Berma hatte Marcel seinen Geist in Bereitschaft gehalten "...wie jene empfindlichen Platten, welche Astronomen in Afrika oder auf den Antillen zum Zweck der exakten Beobachtung eines Kometen oder einer Sonnenfinsternis aufstellen..." und sich vor jeder Wolke geängstigt, die das Licht, das von dieser Sonne ausging verfälschen könnte. So habe ich meinen Geist nur in meiner Kindheit in Bereitschaft gehalten, wenn am Sonnabend "Wetten Dass" kam und man ein komplexes Arrangement des Komforts aufgebaut hatte, um den Genuß der Sendung zu verstärken. Der Rest der Familie war außer Haus, man hatte also den guten Fernsehsessel für sich, und es wäre nicht verstiegen gewesen, zu behaupten, daß dieser Sessel, den im Jahr 1900 ein Tischler in einem Dorf in der Nähe von Coburg angefertigt hatte, von ihm in einem Akt unergründlicher Vorahnung genau für diesen Moment gedacht gewesen wäre. Ich hatte ihn in die perfekte Distanz zum Fernseher gerückt, mit derselben Sorgfalt, mit der Glenn Gould seinen Klavierhocker zu justieren pflegte, denn ich wollte gut sehen, fürchtete aber von den Scherben der Bildröhre durchbohrt zu werden, falls sie implodieren sollte, in einer Wissenschaftssendung hatten sie das demonstriert. Alles, was ich in zwei Stunden zu essen und zu trinken brauchen würde, stand auf der breiten Lehne des Sessels bereit, wenn Weihnachten kurz zurück lag, standen auch die wichtigsten Geschenke in Reichweite. Der Abend konnte nur perfekt werden, wenn es mir gelänge, ihn ohne einmal aufstehen zu müssen zu verbringen. Der zweitbeste Fernsehsessel, auf dem sonst ich saß, war jetzt nur für meine Füße da, und konnte so nah herangerückt werden, daß meine Beine an keiner Stelle über dem Nichts schweben mußten, und ich vor allem, was auf dem Boden kroch in Sicherheit war. Wird man je wieder solch einen Grad von Vorfreude und Geborgenheit erleben, oder ist das höchste Glück, das man erreichen kann, schon, das verlorene Glück in Worte zu fassen?

Wie für mich "Wetten dass" in den Hintergrund gerückt ist, so wechseln auch für Marcel die "Gegenstände seiner Selbstverleugnung". Die Berma, Gilberte, Balbec, Venedig, zuletzt gotische Wandteppiche, es ist immer dasselbe Schema, immer die Suche nach der "Idee der Vollkommenheit". Aber das Glück kommt in Momenten, in denen man sich nicht darauf konzentriert, darin liegt ja auch das Elend der Tourismusindustrie, die Immanenzerfahrungen garantieren will und dabei so erbärmlich scheitert, wie jemand, der sich durch Kerzen und Kuschelrock-CD in romantische Stimmungen versetzen möchte, wo doch jeder weiß, daß die wahre Romantik darin liegt, zerlumpt und ausgeraubt auf der Bank irgendeiner Vorstadtbushaltestelle aufzuwachen, aus den herumliegenden Kippen eine Zigarette zusammenzubasteln und sich auf der Suche nach Feuer auf eine lange, ereignisreiche Wanderung zu begeben (obwohl diese Form von Romantik natürlich inzwischen auch schon wieder ein von der Werbung ausgebeutetes Klischee ist.)

Aber gerade, weil Marcel sich nichts mehr vom Auftritt der Berma erhofft, wird ihr Talent für ihn in dieser "Stunde der Gleichgültigkeit" plötzlich augenfällig. Er wäre damals, beim ersten mal, schon aus rezeptionsästhetischen Gründen nicht in der Lage gewesen, ihre Größe zu erkennen, weil ihr Spiel ja ohne Vergleich war. "Und deshalb müssen gerade die wahrhaft schönen Werke, wenn man ihnen ohne Selbsttäuschung lauscht, uns am meisten enttäuschen, da es in unserer Sammlung von Ideen keine einzige gibt, die einem individuellen Eindruck entspricht." Schlimm genug für die Schöpfer wahrhaft schöner Werke.

Das Publikum ist begeistert, nur eine Neiderin sitzt neben Marcel, eine gealterte, gescheiterte Schauspielerin, die "die Muskeln ihres Gesichts zur Unbeweglichkeit" zwingt und nicht mitklatscht "um also einen Protest, den sie für aufsehenerregend hielt, der aber unbemerkt blieb, recht wirksam zu dokumentieren."

Das eigenartige ist, daß die Kunst der Berma nicht nur bei einem Text wie der Phädra funktioniert, sondern auch bei den Versen des Modeschriftstellers, die sie im Anschluß spricht. "Da wurde mir klar, daß das Werk des Schriftstellers vom Standpunkt der Tragödin aus gesehen nur der an sich belanglose Rohstoff für das von ihr zu schaffende Meisterwerk der Darstellungskunst ist, so wie der große Maler, dessen Bekanntschaft ich in Balbec gemacht hatte, Elstir, zum Vorwurf zweier gleichwertiger Bilder im einen Falle ein ganz banales Schulgebäude, im andern eine Kathedrale gewählt hatte, die in sich bereits ein Meisterwerk war." Daher sicher das Mißtrauen vieler Dramatiker gegenüber ihren Schauspielern. Heiner Müller hat ja immer versucht, sozusagen die Seele des Schauspielers aus seinem Spiel auszutreiben. Lieber ein schlechter Schauspieler für einen guten Text, oder ein guter Schauspieler für einen schlechten Text?

Das Zentrum des ganzen Opernsaals, der ja in seiner Sitzhierarchie selbst eine soziale Inszenierung darstellt, ist Madame de Guermantes in ihrer Loge. Neben ihr sitzen die anderen Vertreter des Hochadels, während das Publikum im Parkett nur "Korallenbauten" für diese Meeresgötter darstellt. Marcel sieht sich im Vergleich gar als "jeder individuellen Existenz bares Protozoon", dem aber zu seiner Verblüffung die Madame mit ihrer weißbehandschuhten Hand zuwinkt, um auf ihn "den blitzenden, himmlischen Funkenregen ihres Lächelns" fallen zu lassen.

Daraufhin benimmt er sich in der nächsten Zeit wieder wie ein Verliebter, er steht früh auf und wartet an der Ecke der Straße, wo er die Madame erwartet, und, sobald sie erscheint "ging ich zerstreuten Blicks und nach der anderen Seite schauend zurück und hob meine Augen erst zu ihr auf, wenn ich mich mit ihr auf gleicher Höhe befand, als habe ich keineswegs erwartet, sie plötzlich vor mir zu haben."

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