Schmidt liest Proust
Montag, 25. September 2006

Berlin - III Die Welt der Guermantes - Seite 252-273

Dieser Film war wieder ein Beispiel für die plotorientierter Erzählweise häufig anhaftende Ödnis. Eine Geschichte, die sich mit klarer Logik aus der geschickt arrangierten Anfangskonstellation ergibt, ein Mann, im größten Gestank geboren, der zu einer miserablen Existenz verurteilt war, aber eine Gabe hat, seine Nase. Dafür stürzt er alle ins Unglück, die ihm begegnen (denn wie im Märchen muß man für jede Gabe bezahlen). Er kann zwar bezaubern, aber nur durch seine Kunst, er selbst ist gefühllos, bzw. geruchlos (logisch), obwohl er die erlesensten Gerüche zu komponieren versteht. Echte Leidenschaft empfindet er nur für seine Kunst, also für das flüchtigste an den Dingen, ihren Geruch, der ihre Essenz enthält. Am Ende kann er die Menschen mit seinem Werk verführen, sogar den Vater seines letzten Opfers zwingt er durch sein Parfüm, ihn zu lieben (Höhepunkt der Verführungsmacht, wie er logischer nicht sein könnte). Aber sie lieben ja nur seine Kunst, nicht ihn, und deshalb beschließt er zu sterben und läßt sich am Ort seiner Geburt (wo sonst?) von den Aussätzigen fressen, um spurlos zu verschwinden.

Die Handlung kannte man schon aus den Kritiken, der Film hätte also nur mit dem überraschen können, was sich zwischen den Plotpunkten abspielte. Aber, ob er nun in Schwarz-Weiß gedreht gewesen wäre, als MTV-Clip oder als Dogma-Film, es hätte nichts geändert, denn bis auf den Plot war an der Geschichte alles austauschbar. Ein Roman, der die Forderungen der Filmdramaturgie erfüllt, der sein Thema schulbuchmäßig durchdekliniert, aber, was als Text vielleicht sogar Stoff für eine Fabel ergeben würde, wirkt als Film so spannend wie ein 90minütiger Werbetrailer für ein Haarwasser. Man hätte bei der Ausstattung viel Geld sparen können, denn daß man sich in "Frankreich" befand, wurde ja, wie immer in deutschen Synchronfassungen, schon aus der Tatsache deutlich, daß die Töchter ihre Väter "Papá" nannten und nicht Pappa.

Seite 252-273 Es ist soweit, es gibt einmal nichts zu sagen, so langweilig waren also die Pariser Salons zu Prousts Zeiten. Bloch benimmt sich daneben, man lästert über Saint-Loups Geliebte, Monsieur de Norpois erscheint verspätet und greift sich, um zu kaschieren, daß er als Hausfreund der Madame de Villeparisis die ganze Zeit in einem anderen Zimmer ihre Papiere sortiert hat, im Flur einen Hut, ohne es zu ahnen den von Marcel. Naja... Als Diplomat schafft er es, sich lebhaft dafür auszusprechen, daß Marcels Vater einen Akademiesitz bekommen solle, aber gleichzeitig anzukündigen, daß er selbst im Moment noch dagegen stimmen würde. Dem schreibenden Marcel gibt er den Rat, daß es "dem Romanschriftsteller besser ansteht, eine Intrigue zu schürzen..." (vielleicht hätte ihm der oben erwähnte Film gefallen)

Katalog kommunikativer Knackpunkte: - Etwas in dem enthusiastischen Ton bekräftigen "mit dem man immer nur Überzeugungen vertritt, die man sich nicht selbst gebildet hat."

  • Die "reizend vorgeschobene Unterlippe einer Philosophin und in ihrem Gefühlsleben enttäuschten Frau".

Unklares Inventar: - Pflanzendekokt.

Verlorene Praxis: - Einer Sitte folgend, die gerade Mode ist, seinen Zylinderhut neben sich auf den Boden stellen.

  • Dem deutschen Botschafter gegenüber einen eigenen Standpunkt in der chinesischen Frage vertreten.
  • Sich beim Eintreten in einen Salon "mit vorsichtig stutzender Langsamkeit" voranschieben, als fürchte man "auf Schleppen zu treten oder Gespräche zu stören."
  • Der Gastgeberin dabei zusehen, wie sie Moosrosen, Zinnien und Venushaar aquarelliert.

Selbständig überlebensfähige Sentenz: - "Ein Künstler, mag er auch noch so bescheiden sein, verträgt immer, daß man ihm vor seinen Rivalen den Vorrang gibt..."

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