Schmidt liest Proust
Dienstag, 5. September 2006

Berlin - II S.487-508

Wie Capote sich für seinen Tatsachenroman über zwei Mörder, obwohl er sich mit der Zeit mit seinen Rechercheobjekten angefreundet hat (jedenfalls in der Filmversion), das Todesurteil wünscht, weil es den einzigen möglichen, den perfekten Schluß für sein Buch darstellen würde, und einen Beleg für die unschlagbare Erzähllogik der Wirklichkeit, so muß der Autor eines Proust-Blogs sich ebenfalls etwas wünschen, was ihm das Gewissen belastet, ein Urteil nicht gegen jemand anderen, sondern gegen sich selbst, nämlich sich unsterblich zu verlieben. So würde aus dem einfachen Kommentar des Gesunden der Expeditionsbericht eines Betroffenen, alles, was beim Lesen Theorie bleibt, würde in der Praxis getestet, so wie die großen Ärzte des 19.Jahrhunderts sich einen Cocktail aus Krankheitserregern injiziert haben, um die Reaktion ihres Immunsystems zu studieren. Im Rahmen eines Studiums der Literaturwissenschaften müßten die Studenten eigentlich zum Durchleben von emotionalen Grenzsituationen gezwungen werden, um in sich den Erfahrungsschatz anzulegen, den man braucht, um große Texte zu verstehen. Aber nichts steht dem behaglichen Genuß eines Buchs mehr im Weg, als wirkliche Emotionen. Nur, wenn man sich wohlig zurücklehnen kann, weil man seine Gefühle zeitweise durch die anästhesierende Wirkung der Gewohnheit unter Verschluß halten kann, hat man die nötige Aufmerksamkeit für die Lektüre. Wie zufrieden war der Kleine Herr Friedemann mit seinen Büchern und einem guten Glas Wein, bis die grausame Gattin des neuen Rittmeisters im Ort auftauchte und ihn daran erinnerte, daß er ein Mann war. Ist Liebe nicht eine Krankheit, für deren Behandlung man Ärzte ausbilden sollte? Sollte es nicht unter Strafe gestellt werden, den Zustand ausbalancierter Empfindungslosigkeit, den sich jemand mühsam aufgebaut hat, weil er die Ausschläge des Pendels fürchtet, leichtfertig zu zerstören? Für manche Menschen ist es ratsam, sich vorsichtig zu bewegen, viel zu schlafen, und sich seelisch gegen Erschütterungen zu polstern, wie ein Glasknochenpatient seine Arme und Beine. Ihren Kopf transportieren diese Menschen mit ängstlicher Vorsicht durchs Leben wie ein Ei beim Eierlauf. Und sie hoffen täglich auf einen Grund, sich ins Unglück zu stürzen.

S.487-508 Nun also doch zu Elstir, endlich ein Atelierbesuch, die arbeitsame Atmosphäre, in der man studieren kann, wie ein Maler Fragmente der Welt sammelt und verwandelt, macht Marcel zunächst "vollkommen glücklich". Elstir erklärt ihm auch, warum das Portal der Kirche von Balbec doch nicht so banal war, wie Marcel gedacht hatte, man braucht solche Begegnungen, um sich zu entwickeln. Marcel bedankt sich bei Elstir für die Einladung und benutzt dabei das Wort "Ruhm", was Elstir traurig zu stimmen scheint: "Menschen, die glauben, daß ihre Werke die Zeiten überleben werden – und das war bei Elstir der Fall-, nehmen die Gewohnheit an, sie in einer Epoche zu sehen, da sie selbst zu Staub zerfallen sind. Indem er sie aber in dieser Weise an das Nichts zu denken zwingt, stimmt der Gedanke an den Ruhm sie traurig, da er von dem an den Tod nicht zu trennen ist."

Und wie das Leben spielt, lange hatte Marcel den Besuch aufgeschoben, um am Strand die sportlichen Mädchen nicht zu verpassen, und jetzt sieht er ausgerechnet hier "im Rahmen des kleinen Fensters" eine von ihnen auftauchen, und nicht nur das, sie begrüßt den Maler, denn sie und ihre Freundinnen kommen regelmäßig ins Atelier. Es ist die mit "den munteren, etwas forsch verweilenden Blicken", und sie heißt Albertine Simonet. Das war mal wieder so ein dem Leben abgeguckter Effekt, denn jetzt treffen sich ein bereits eingeführter Name mit einer bereits eingeführten Person. Albertine ist doch nicht die Freundin eines Radrennfahrers oder Preisboxers, sondern ihre Familie stammt aus "der Sphäre der Industrie und des Geschäftslebens", was Marcel bei jeder anderen natürlich abgeschreckt hätte.

Wobei die Erinnerung eine autonome Existenz hat, man gewinnt verschiedene Eindrücke von Menschen, und in jedem von ihnen handelt es sich eigentlich um eine andere Person, die man nie wiedersehen wird: "...das junge Mädchen mit den runden Wangen, das mir so kühn in die Augen blickte an der Ecke, wo die kleine Gasse auf den Strandweg stieß, und von dem ich glaubte, ich könne vielleicht ihre Liebe erlangen, habe ich im wahrsten Sinne des Wortes niemals 'wiedergesehen'."

Elstir wird mit ihm spazierengehen, und Marcel hofft, daß sie den Mädchen begegnen, und er ihnen von Elstir vorgestellt wird. Aber der Aufbruch verzögert sich, und Marcel betrachtet in seiner Ungeduld das Porträt einer jungen Frau, deren Identität später noch aufgeklärt wird. Es wird schon dunkel, sie werden die Mädchen verpassen... Als Madame Elstir auftaucht, muß das Porträt schnell versteckt werden. Elstirs Frau mißfällt Marcel: "Ich fand sie sehr langweilig; freilich hätte sie schön sein können, wäre sie zwanzig Jahre jünger gewesen, und hätte vielleicht einen Ochsen durch die Campagna geführt..." Das ist natürlich tragisch, wenn es einen kleidet, Ochsen durch die Campagna zu führen, und man in der Bretagne die Frau eines Malers ist. Aber Marcel versteht schnell, daß Madame Elstir die Inkarnation des vorher in Elstirs Werk dargestellten Idealtyps ist, weshalb dieser sie so rührend verehrt: "Welches Ausruhen für ihn, seine Lippen auf dies Schöne zu drücken, das er bis dahin so mühevoll aus sich selbst ziehen mußte, das sich nun aber, geheimnisvoll Leib und Fleisch geworden, zu immer neuer heilspendender Kommunion ihm bot!" Denn mit dem Alter wird man bedürftiger für materielle Schönheiten, weil "die Verwirklichung des Ideals", die man in der Jugend allein aus der "Macht des Gedankens" erwartet, infolge einer gewissen Ermüdung des Geistes nicht mehr gelingt, und man "zu vermehrter Beeinflußbarkeit durch passiv empfangene Eindrücke" neigt: "...es ist das Alter, in dem wir gern die Schönheit mit den Blicken streicheln..."

Unklares Inventar: - ein weißer Plastron.

Verlorene Praxis: - das Thema wechseln, um "die Wolke stolzer Schwermut wieder zu zerstreuen", die man auf der Stirn eines Künstlers heraufbeschworen hatte.

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