Schmidt liest Proust
Mittwoch, 6. September 2006

Berlin - II S.508-529

Er ist ein Kollege aus einem kleinen Land in Osteuropa, das mit Erfolg Autoren in den Westen exportiert. Obwohl er erst ein Buch geschrieben hat, ist er in seinem Land weltbekannt. Als Kind mußte er viel kämpfen, weil das Gebiet, wo er wohnte, einmal seiner adligen Familie gehört hatte, und die Gleichaltrigen ihn deshalb herausforderten. Bei den landesweiten Schulwettbewerben war er immer der beste, erzählt er ohne falsche Bescheidenheit. Später flog er von der Schule, weil er bei einer Feier ein stalinistisches Gedicht aufsagen sollte und sich weigerte, nicht, weil es stalinistisch war, sondern weil es ihm als Gedicht nicht gefiel. Egal, was man ihm erzählt, er kontert mit einer besseren Geschichte. Es wirkt so, als habe er noch nie etwas interessantes von jemand anderem gehört. Wenn man erwähnt, man sei zufällig am 11.September in New York gewesen, erzählt er, daß er zu dieser Zeit im East Village gelebt habe. Wenn man berichtet, daß man im "Memorialul victimelor comunismului şi al rezistenţei" in Sighet im Norden Rumäniens gewesen ist, wo man die Zelle des rumänischen Zwischenkriegspolitikers Julius Maniu. sehen kann, dessen originaler Hut dem Museum vom ehemaligen Gefängnisdirektor, der immer noch im Ort wohnt, seit Jahren vergeblich zum Kauf angeboten wird, erzählt er einem, daß er im Süden der USA in einem Historischen Museum den originalen Kinderschädel des minderjährigen Napoleon ausgestellt gesehen habe. Er ist ein Kollege, und er leidet unter der für heutige Menschen typischen Unfähigkeit, sich für andere zu interessieren, wenn sie nicht wichtig genug scheinen, um der eigenen Karriere zu nützen. Vielleicht kann man es in diesem Beruf nur so zu etwas bringen. Er ist ein Jahr älter als ich, und ich hoffe, es ist nicht das eine Jahr, das mich noch davon trennt, so zu werden.

S.508-529 "...daß ich, wenn ich auch bei kühlem Nachdenken glaube, besonders am Leben zu hängen, doch jedesmal, wenn ich mich im Laufe meines Daseins von seelischen Problemen bedrückt oder auch nur von einer nervösen Unruhe befallen fühlte, die manchmal so kindisch war, daß ich nicht wagen würde, hier davon zu sprechen, dann aber ein unvorhergesehener Zufall die Möglichkeit eines gewaltsamen Todes für mich heraufführte, diese neue Sorge mit den andern verglichen mir so unbedeutend schien, daß ich ihr fast mit einem Gefühl der Erleichterung, ja der Heiterkeit ins Auge sah." Ein eigenartiges Phänomen, daß einem der sofortige Tod weniger schrecklich erscheint, als meinetwegen die Steuererklärung, oder ein Bewerbungsgespräch, oder auch nur die Notwendigkeit, einmal die Wohnung zu wischen. Was wird dann erst, wenn man unglücklich verliebt ist, oder jemanden betrauert? Oder wenn der Selbsterhaltungstrieb gefragt ist, meinetwegen in einem Straflager?

Endlich ist er mit Elstir am Strand, er überlegt sich Vorwände, um ihn in der Gegend aufzuhalten, wo ihm das Auftauchen der "kleinen Schar" am wahrscheinlichsten scheint. Schließlich kommen sie tatsächlich: "...die aussahen, als bemerkten sie mich nicht, obwohl sie sicher gerade über mich ironische Bemerkungen austauschten." Es fällt schwer, sich klar zu machen, daß nicht ständig alle anderen über einen reden. Besonders unangenehm ist das ja im Ausland, wenn man die Sprache kaum versteht, und plötzlich der ganze Bus sich über einen lustig macht, jedenfalls wirkt es so.

Gleich werden die sportlichen Mädchen Elstir begrüßen und dieser wird Marcel dazurufen und ihnen vorstellen, und da das so unvermeidlich scheint, wendet sich Marcel "wie ein Badender um, der die Welle über sich hinwegfluten lassen will." Denn am Ziel seiner Wünsche verlassen ihn mal wieder seine Wünsche: "Die Gewißheit, den jungen Mädchen vorgestellt zu werden, hatte zum Ergebnis, daß ich Gleichgültigkeit gegen sie nicht nur heuchelte, sondern empfand. Seitdem das Vergnügen, sie kennenzulernen, unvermeidbar war, schrumpfte es in sich zusammen..." Wieder einmal kann er nur begehren, was sich ihm entzieht. Ein eigenartiger Komplex. Oder ist er nur konsequent? Er spielt ja das "Fort-da"-Spiel, das Freud am Kleinkind beobachtet, wenn es eine Spule aus dem Ställchen wirft und wieder hereinzieht. Die Spule steht für die Mutter, deren Anwesenheit dem Kind Lust und deren Abwesenheit ihm Unlust bereitet. Da es das Verhalten der Mutter nicht kontrollieren kann, benutzt das Kind die Spule, um sich das Lust-Unlust-Gefühl nach belieben zu verschaffen. Sie immer im Ställchen zu behalten, wäre reizlos, denn Freud schreibt: "Was man im strengen Sinne Glück heißt, entspringt eher der plötzlichen Befriedigung aufgestauter Bedürfnisse und ist seiner Natur nach nur als episodisches Phänomen möglich. Jede Fortdauer einer ersehnten Situation ergibt nur ein Gefühl von lauem Behagen." Marcel müßte also eine Art seelisches Gummiband konstruieren, an dem er die Mädchen vor und zurückschnipsen lassen kann, um ihre An- und Abwesenheit zu kontrollieren. Und tatsächlich: "Dementsprechend aber erlangte sie [die Freude] in gleichsam elastischem Zurückschnellen ihren früheren Umfang zurück, sobald der Druck der Gewißheit wich, als ich mich nämlich entschloß, doch einmal den Kopf zu wenden, und Elstir ein paar Schritte von mir entfernt bei den Mädchen stehen, sich aber gerade von ihnen verabschieden sah." Da hat er zu lange gezögert, jetzt sind sie wieder weg, aber die Unlust deswegen ist ja nur die Kehrseite der Lust.

"Das Gesicht derjenigen, die ihm am nächsten war, hatte in seiner breiten, vom Schimmer der Augen erhellten Form das Aussehen eines flachen Kuchens, durch den man an zwei Stellen ein wenig Himmel sah." Ich versuche mir gerade ein Mädchengesicht, das wie ein flacher Kuchen mit durchscheinendem Himmel aussieht, vorzustellen, das in irgendeiner Weise attraktiv ist, aber es gelingt mir nicht. "Was kannte ich von Albertine? Eine oder zwei vor das Meer gestellte Profilansichten, die bestimmt wenige schön waren als die der Frauen von Veronese, die ich nach rein ästhetischen Gesichtspunkten ihnen hätte vorziehen müssen." Aus rein ästhetischen Gesichtspunkten müßte man natürlich jeder Frau eine Differentialgleichung oder die axiomatische Begründung der Euklidischen Geometrie vorziehen. "...ich hatte mit dem, was ich als 'sie' bezeichnete, einen langen, inneren Dialog geführt, in dem ich sie fragen, antworten, denken, handeln ließ, und in der unendlichen Serie der vorgestellten Albertinen, die in mir stündlich aufeinanderfolgten, kam die wirkliche Albertine, die ich am Strande erblickt, nur am Anfang vor, so wie die Schauspielerin, die eine Rolle kreiert hat, der 'Star', im Verlaufe einer langen Reihe von Aufführungen nur in den ersten auftritt." In der Liebe weiß der andere oft nicht, was er in der Phantasie des anderen schon verbrochen hat. Aber irgendwie macht man ihn dann trotzdem dafür verantwortlich. Das muß der Partner verstehen.

Und nun dazu, wer die Frau auf dem Porträt war, das vor Madame Elstir versteckt werden mußte. Nämlich keine andere, als die junge Odette! Natürlich sieht sie auf dem Bild noch nicht so aus, wie sie sich später selbst stilisiert hat. Denn wie arbeiten Maler? "Die ganze künstlerische Harmonie, die eine Frau ihren Zügen gleichsam aufzwingt und deren Weiterbestehen sie im Spiegel überwacht, wobei sie der Neigung des Hutes, der Anordnung des Haars, der Munterkeit des Blicks die Aufgabe zuweist, immer wieder den gleichen Effekt zu erzielen, löst der Blick des Malers sekundenschnell in ihre Bestandteile auf; sein Auge nimmt an ihrer Stelle in den Besonderheiten des Modells eine Umgruppierung vor, so daß es eher einem weiblichen oder künstlerischen Ideal entspricht, das er in sich trägt." Das gilt natürlich auch für geschriebene Porträts, und es ist riskant, die ihren Zügen von einer Frau aufgezwungene künstlerische Harmonie nach dem eigenen Ideal aufzulösen und umzugruppieren. Aber während die Frau sich am liebsten in einem Kleid photographieren läßt, in dem ihre Figur so vorteilhaft zur Geltung kommt, daß sie wie "die Tochter ihrer Tochter aussieht", wird der Maler "im Gegenteil alle nachteiligen Züge hervorheben, die sie selbst sorgfältig zu verstecken sucht, die aber, wie beispielsweise ein gelblicher oder sogar grünlicher Teint, ihn erst recht zur Wiedergabe reizen, weil sie 'charakterisieren'..." Ich habe ja einmal die Frechheit besessen, einen Leberfleck für erwähnenswert zu halten, aber "grünlicher Teint", das wäre selbst mir zu heiß gewesen.

Elstir hat eine dunkle, vielleicht etwas peinliche Vergangenheit, derer er sich nicht schämt. "...weil nur sicher sein kann, daß er – soweit wie möglich – ein Weiser geworden ist, wer durch alle Inkarnationen der Lächerlichkeit oder Schändlichkeit hindurchgegangen ist..." (wieder ein Kommentar zu Grass).

Saint-Loup muß zurück in die Garnison und schreibt Marcel von dort einen Brief: "Am liebsten hätte ich die Erinnerung an die mit ihnen verbrachte Zeit an diesem ersten Tage ganz für mich genossen, ohne Ihnen zu schreiben. Aber dann fürchtete ich, Ihr erlesener Geist und Ihr übersensibles Herz könnten befremdet sein, wenn Sie keinen Brief bekämen, wofern sie überhaupt geruhen, Ihre Gedanken bis zu dem rauhen Reitersmann schweifen zu lassen, der Ihnen noch manches aufgeben wird, bis er weniger ungehobelt, kultivierter und Ihrer würdiger ist." Das geht runter wie Öl, obwohl man gar nicht gemeint ist. Welcher meiner ungehobelten Freunde schreibt mir solche einsichtigen Briefe?

Verlorene Praxis: - seinen schönsten Spazierstock bei sich führen.

  • aus jeder einen selbst oder andere betreffenden Begebenheit "zur Belehrung der jüngeren Menschen den Teil an Wahrheit herausstellen, den sie enthält."

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