Schmidt liest Proust
Sonntag, 1. Oktober 2006

Berlin - III Die Welt der Guermantes - Seite 377-397

Das Haustürschloß war wieder kaputt, ich war wahrscheinlich der letzte, der es nicht bemerkt hatte und die Tür immer noch mit dem Schlüssel öffnete, statt sie einfach aufzudrücken. Das erste mal fiel es mir bei einem Paketboten auf, der durch die Tür in den Hausflur geplatzt kam, kurz überlegte ich, ob ich ihn zur Rede stellen sollte, aber ich sah ihn nur entrüstet an. Jedesmal, wenn das Schloß repariert wird, schlagen sie die Rechnung auf die Betriebskosten, und ich muß alles mitbezahlen. Aber als ich merkte, daß auch die Hausbewohner die Tür einfach aufdrückten, kamen mir Zweifel. Warum machte ich mir als einziger die Mühe, meine zwei schweren Einkaufsbeutel abzusetzen und in der Hosentasche nach meinem Schlüssel zu kramen, wenn es auch einfacher ging? Wenn ich schon dafür zahle, will ich auch etwas davon haben. Aber ich wollte nicht, daß man mich dabei erwischte, wie ich die Tür aufdrückte, schließlich war ich immer gegen diese Methode gewesen, und wenn man mich erwischte, wäre ich immer noch dagegen, ich wollte nur nicht als einziger der Dumme sein. Aber der Unterschied zwischen ihrer verantwortungslosen Haltung und meiner, die ja eher mit Selbstschutz zu tun hatte, würde ihnen sicher nicht aufgehen. Es ist wichtig, daß das Schloß funktioniert, denn als es das letzte mal kaputt war, hat irgendwer die Spiegel aus dem Hausflur geklaut und bis in den zweiten Stock die Wände beschmiert. Außerdem stelle ich mein Fahrrad immer in den Hausflur, obwohl die Hausverwaltung schon einmal einen Aushang angebracht hatte, sie würden alle unrechtmäßig im Hausflur abgestellten Fahrräder kostenpflichtig entfernen. Die meisten stellten ihre Fahrräder daraufhin in den Hof, wo sie dem Regen ausgesetzt sind, ich machte das auch eine Weile mit, bis der Aushang verschwunden war, und ich wieder dazu überging, das Fahrrad in den Flur zu stellen, schließlich benutzte ich es jeden Tag und es störte nun wirklich nicht. Das ging auch so lange gut, bis diese eigenartigen Mieter aus dem Parterre nachzogen, und ihre Räder auch in den Flur stellten, und zwar ziemlich rücksichtslos, manchmal war gar kein Platz mehr für mein Rad. Als ich neulich gerade mein Fahrrad anschloß, sprach mich eine Mieterin an, die Fahrräder im Flur würden stören. Da sie mich mit dem Rad mit Kindersitz sah, rechnete ich auf ihr Mitleid, sie wußte ja nicht, daß von mir schon ein anderes Rad an der Wand lehnte. Außerdem fand ich ja auch, daß die anderen Fahrräder störten, mein ganz sorgfältig und platzsparend an die Wand gestelltes hatte man ja lange genug toleriert. Die Mieter aus dem Parterre sind schuld, aber die anzusprechen, würde sie sich bestimmt nicht trauen, die hören immer so laute Musik und sehen ausländisch aus. Und wenn ich mein Fahrrad auf den Hof schiebe, bleiben deren Räder trotzdem im Weg stehen, vielleicht fühlen sie sich sogar ermutigt, noch mehr Räder anzuschaffen. Außerdem habe ich die Tür nie aufgedrückt und mir dadurch eine Vergünstigung verdient. Aber sie hatte nun mal mich erwischt, im Moment, wie ich mein Fahrrad anschloß. Ich hätte vielleicht vorsichtiger sein sollen, aber da ich ganz oben wohne, begegne ich auf dem Weg zur Wohnung eben immer wieder Nachbarn, die sich mein Gesicht merken. Das ließe sich nur vermeiden, wenn ich im Parterre wohnen würde, dann könnte ich ganz schnell rein und raushuschen. Dann könnte ich mein Fahrrad immer im Flur abstellen und niemand würde ahnen, daß es von mir ist. Wenn jemand über die Fahrräder schimpfen würde, könnte ich mitschimpfen, und würde mich dadurch sogar noch unverdächtiger machen. Ich wollte aber immer ganz oben wohnen, soll ich jetzt nach ganz unten ziehen, nur, weil ich mein Fahrrad im Hausflur abstellen will? Außerdem könnte ich es dann ja auch einfach in die Wohnung schieben und hätte gar nichts davon, daß ich im Parterre wohne.

Seite 377-397 Über die Rückfahrt mit der schwerkranken Großmutter sagt Marcel: "Sie war noch nicht gestorben, und ich war schon allein." Er schleppt sie zu Professor E..., den er zufällig beim Warten auf eine Droschke erkennt, und der ihnen widerwillig eine Viertelstunde seiner kostbaren Zeit gewährt, er will abends beim Handelsminister speisen, hat noch einen Patienten, sein Frack ist entzwei, "und der andere hat kein Knopfloch für die Orden." Die Großmutter wartet auf einer Bank: "Doch damit ein lebendes Wesen sich aufrecht hält, selbst auf einer Bank oder in einem Wagen, bedarf es einer Kraftanstrengung, die wir gewöhnlich nicht stärker wahrnehmen als (weil er nach allen Richtungen wirkt) den atmosphärischen Druck." Dabei erfordert: "...das unbewegliche Verharren in dem, was wir gemeinhin als die passive Haltung einer Sache ansehen, wenn man nur dabei einen normal erhobenen Kopf und ruhigen Blick bewahren will, vitale Energie und wird zum Gegenstand eines erschöpfenden Kampfes." Das muß man sich klarmachen, bevor man die Menschen in der U-Bahn wegen ihrer mißmutigen Gesichter und ihrer gebeugten, unförmigen Körper zu Zombies erklärt. Schon dieses Aussehen und diese Haltung fordern ihnen alles ab. Professor E... untersucht die Großmutter eingehend und sagt Marcel: "Ihre Großmutter ist verloren." Dann bekommt er im Nebenzimmer einen Wutanfall, weil das Knopfloch für seine Orden noch nicht fertig ist.

Zu Hause warnt Marcel die Mutter vor, die ein verzweifeltes und resigniertes Gesicht macht: "Ich begriff, daß meine Mutter diesen Ausdruck seit Jahren für einen noch ungewissen Schicksalstag schon vollkommen fertig in sich trug." Doktor Cottard verordnet Morphium und setzt es, wenn der Eiweißbefund es erfordert, wieder ab: "Dieser so unbedeutende, so gewöhnliche Mann hatte dann in kurzen Augenblicken des Überlegens, in denen er die Gefahren der einen und anderen Behandlung in sich gegeneinander abwog, die Größe eines Feldherrn, der, im übrigen Leben vulgär, durch seine Entscheidung Bewunderung erregt, wenn er im Moment der höchsten Gefahr für das Vaterland nach kurzem Überlegen, was militärisch das Richtige sei, den Befehl: 'Front nach Osten' gibt." Die Großmutter hat Schmerzen und Lähmungserscheinungen. Ihr Gesicht verfällt: "Ihre Züge schienen sich wie bei den Modellsitzungen in einem Bildhaueratelier in einseitiger und ausschließlicher Bemühung einer Vorlage anzupassen, die uns unbekannt war." Man ruft auf Empfehlung noch den Spezialisten X... hinzu (also schon der vierte Arzt). Weil die Großmutter eine Untersuchung ablehnt, ist es der Familie peinlich, diesen Spezialisten umsonst bemüht zu haben. Deshalb lassen sich alle von ihm "mit seinem Arztbesteck, in dem die Erkältungen seiner sämtlichen Patienten ruhten wie Winde im Schlauch des Äolus" an der Nase untersuchen. "Er behauptete, daß alles, ob Migräne oder Koliken, Herzkrankheiten oder Diabetes, nichts als ein verkapptes Nasenleiden sei." Am nächsten Tag haben sie alle einen Katarrh.

Bergotte kommt in dieser Zeit regelmäßig, Marcel zu besuchen. "Er hatte immer gern eine Zeitlang hintereinander ein und dasselbe Haus aufgesucht, wo man an ihn keine Ansprüche stellte. Früher aber hatte er es getan, um dort pausenlos reden zu können, jetzt, um lange zu schweigen, ohne daß ihn jemand zum Sprechen aufforderte." Denn er baut langsam ab. "Ich weiß nicht, woraufhin er ein erstes Mal gekommen war, dann aber geschah es jeden weiteren Tag, weil er es am Vortage so gehalten hatte. Er kam zu unserem Hause, wie er in ein Café gegangen wäre, damit niemand mit ihm sprach, damit er – selten genug – sprechen konnte..." Während er langsam dahingeht, wohnt er noch zu Lebzeiten "...dem Aufstieg seiner Werke zum Ruhme bei. Ein verstorbener Autor kann wenigstens ohne Ermüdung berühmt sein [Bergotte aber] bewegte sich noch, aber freilich mit Mühe, während seine Werke, munter umherschwirrend wie geliebte Töchter, deren ungestüme Jugend und geräuschvolle Heiterkeit einen müde macht, täglich neue Bewunderer bis an sein Krankenbett führten." Dabei wird er in Marcels Bewunderung gerade von einem anderen Autor abgelöst, dessen Unklarheit ihn fasziniert. Die Wissenschaft schreitet voran, und so auch die Kunst, was gestern noch begeistert hat, wirkt heute aus denselben Gründen fade. Ein "originaler Maler, ein originaler Künstler" muß "vorgehen wie etwa ein Augenarzt. Die Behandlung durch ihre Malerei, ihre Prosa ist nicht immer angenehm. Wenn sie beendet ist, sagt der, der sie ausgeführt hat, zu uns: Jetzt sehen sie einmal! Und nun kommt uns die Welt (die nicht einmal erschaffen wurde, sondern so oft, wie ein Künstler von persönlicher Eigenart aufgetreten ist) ganz anders vor als die frühere, jedoch überzeugend und klar." So eine Anpassung der Wahrnehmung ist keine friedliche Angelegenheit, sondern eine Schocktherapie: "Das ist die neue, vergängliche Welt, die jetzt erschaffen wurde. Sie wird bis zur nächsten erdgeschichtlichen Katastrophe dauern, die durch einen neuen Maler und einen neuen Schriftsteller von originaler Prägung heraufgeführt werden wird." (Schreibt jemand, der sich nicht ganz zu Unrecht Hoffnung auf diesen Titel gemacht haben dürfte.) Bergotte hält von dem neuen Mann übrigens nicht viel, er liest auch beinahe nichts mehr: "Schon war der größere Teil seines Denkens aus seinem Hirn in seine Bücher übergegangen. Er hatte durch sie an Substanz verloren, als seien sie aus ihm herausoperiert." Am Ende liegt der Künstler im Sarg, wie ein ausgelutschter Regenwurm.

Unklares Inventar: - Urämie.

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