Schmidt liest Proust
Donnerstag, 5. Oktober 2006

Berlin - III Die Welt der Guermantes - Seite 457-478

Ich war nach der Wende enttäuscht, als ich erfuhr, daß es bei der Stasi keine Aufzeichnungen über mich gab, ich hätte gern darin gelesen, schließlich hatte ich selbst nie etwas aufgeschrieben. Meine Mutter hat mir nun die Kopie ihres "Übersichtsbogens zur operativen Personenkontrolle" gegeben, ich soll mich davon überzeugen, wieviel freier ich heute bin. Mir kommt diese Textsorte aber sehr literarisch vor (was natürlich nicht sehr originell ist), und ich kann mich nicht richtig abgeschreckt fühlen. "Gründe für das Einleiten: Abklärung der Person / Ziel der operativen Personenkontrolle: Schaffung einer Übersicht zur Person". Für jemanden, den Fachsprachen begeistern, ist das nunmal eine Form von Poesie, denn es macht, was auch die Poeten (und manche Soziologen) versuchen: Dinge, die jeder kennt, aber nie benannt hat, möglichst genau ausdrücken, und zwar so, daß man nicht von selbst darauf gekommen wäre, es aber danach immer so sagen will. Die Genauigkeit bewirkt dabei diese komische Ungelenkheit, als würde man sich mit dem Körper genau der Form eines Stuhls anpassen, weil einem das Wort dafür nicht einfällt. Amtsdeutsch ist sowieso schon immer halb poetisch, man muß es ja nur als Fundstück aus seinem Kontext lösen. "Schaffung einer Übersicht zur Person", so wird meine Autobiographie heißen.

Der Text liest sich dann lakonisch knapp und dabei doch leicht umständlich, wie die Prosa meines Schweizer Kollegen Michael Stauffer: "Die Sch. arbeitet überwiegend zu Hause. Sie schreibt zu Hause. Montags ist sie im Betrieb. Der Ehemann der Sch. welcher im gleichen Betrieb arbeitet, ist montags zu Haus und kümmert sich dann um die Kinder und Häuslichkeiten." So fangen doch alle deutschen Nachkriegsromane an. Und ich muß sofort an die damalige Einteilung meines Lebens denken, in Montage, an denen der Vater zu Hause war, und den Rest, an dem man die Mutter hatte. Bemerkenswert, was an Lebenswirklichkeit hinter solch einer sachlichen Beschreibung steckt. Und daß ich auf diese Art auch ein bißchen in dem Text vorkomme.

"Im allgemeinen Umgang ist die Sch. ein freundlicher und sehr hilfsbereiter Mensch. Ihr Wesen ist angenehm und berührt sehr. Für jeden hat sie ein gutes Wort." Das ist doch eine sehr nette Würdigung. "Die Kleidung wird für durchschnittlich gehalten befunden." Nunja... "Am Weißenseer Weg war früher ein Stück Pachtland vorhanden gewesen. Dieses existiert nicht mehr." Doch, als vages Bild in meinem Kopf, ein Gartengrundstück, das irgendwann für ein Neubauviertel planiert worden ist. Der Weg dorthin führte immer über die Eisenbahnbrücke am hinteren Teil des S-Bahnhofs Frankfurter Allee, manchmal wurde man dort vom Dampf einer durchfahrenden Lok eingehüllt. Aber dieses existiert nicht mehr.

"Der Bruder der Sch. befindet sich in der BRD. Seine Pakete haben die Sch. nicht befriedigt." Das kann eigentlich nicht sein. "Der Mutter der Sch. paßte der Geldumtausch nicht. Sie sagte, daß, was sie eintauschen muß, könne sie auch den Kindern zu gute kommen lassen." Und das hat sie ja auch: Pfefferminzdrops, ein Schaumgummiball, Biene-Maja-Aufkleber, Brausepulverbonbons, Micky-Maus-Hefte... Ich lese im übrigen mit Befremden, daß meine Oma in diesem Jahr 111 würde, und mein Opa 127.

"Innerhalb der Hausgemeinschaft gibt es eine Frau XXX, welche zeitweilig auf die Kinder der Sch. aufpaßt. Die Sch. und die XXX sitzen oft gemeinsam auf dem Balkon der Sch. und unterhalten sich." Oma Krüger, die kein Klo hatte und deshalb den Nachttopf in die Regenrinne entleerte, weil sie zu faul war, immer zu ihrem Schwiegersohn zu gehen, der Parterre wohnte. Leider wurden ihre schweinischen WItze nicht protokolliert. "Betreffs Republikfluchten konnte keine Klarheit geschaffen werden." Nein, darüber war man sich ja selbst nie ganz klar.

Sogar an unseren Trabi wird erinnert: "Farbe weiß, Baujahr 1974" Und "IX 62-27", das Nummernschild, das man heute noch im Schlaf aufsagen könnte, während man sich die Telefonnummer vom Handy auch nach zwei Jahren nicht merken kann.

Und dann steht dort plötzlich mein Name, mit Geburtsdatum, es hat mich also wirklich gegeben.

Unterschrieben haben "Leiter des Referates 2 Major Marstalerz" und "Leutnant Okonek". Zweimal polnisch "Pferdeknecht" (?) und "Barsch". Die Wirklichkeit läßt sich schwer übertreffen.

Seite 457-478 Albertine muß erst einmal zurückstehen, jetzt ist Madame de Stermaria dran, deren Anhimmelung ja schon in Balbec begründet worden ist. Mit ihr will er sich nicht irgendwo treffen, sondern auf der Insel im Bois de Boulogne. Andere Frauen kommen im Moment nicht in Frage, denn "...ich hatte schon die große Landstraße der allgemeinen Begierden verlassen und den Seitenpfad einer ganz besonderen eingeschlagen." Nicht die Frau bestimmt die zur ihr passende Szenerie, sondern die Begleitumstände verlangen nach der geeigneten Frau. "Als Geschöpfe solcher vorgeschaffenen Begleitumstände kommen gewisse Frauen nicht ohne das große Bett in Frage, in dem man an ihrer Seite den Frieden finden kann, andere verlangen für die ihnen in geheimer Absicht gespendeten Zärtlichkeiten Blätter und Wind und Quellen in der Nacht, sind leicht und flüchtig, wie sie." Daraus ergibt sich eine Übung für zu Hause: denken sie sich zu jedem ihrer Möbelstücke und zu jedem beliebigen Punkt in der Stadt die dazu passende Frau aus. "Ich könnte mir vorstellen, dich zu lieben, aber nur in einer Raumstation". Eine gute Ausrede? Für das Fräulein de Stermaria kommt jedenfalls nur die Insel im Bois in Frage, denn diese, beliebt bei Liebespaaren, war ihm schon vorher "besonders geeignet für Liebesfreuden erschienen, weil ich einmal dort die Trauer darüber ausgekostet hatte, daß es bei mir nichts dergleichen zu verbergen gab." Eine Liste solcher Orte dürfte natürlich in Wirklichkeit etwas länger ausfallen. Immerhin immer eine schöne Vorstellung, im Triumphzug dorthin zurückzukehren.

Es ist das Ende der Saison, es regnet etwas und der Wind zerrt schon an den Blättern. Wahrscheinlich wird es auf der Insel kalt sein. Zu diesem Wetter paßt die kleine Bretonin: "Aber wenn ich umschlungen mit Madame de Stermaria im Düster der Insel am Ufer des Sees spazierenginge, würde ich es machen wie andere, die, da es nicht angeht, in ein Kloster einzubrechen, wenigstens eine Frau, bevor sie sie besitzen, als Nonne verkleidet sehen wollen." Selbstverständlich will er sich schon am Tag vorher dorthin begeben, um "das Menü für den folgenden Abend zu bestimmen". Aber da platzt wieder Albertine herein, die für solche unerwarteten Auftritte ein Händchen zu haben scheint. Er hält es nicht einmal für nötig, sich für sie zuende zu rasieren, wo er ihr doch in Balbec noch so gefallen wollte. Solche Wechsel in der Wertschätzung anderer gehen äußerst rasch vonstatten. Er bittet sie sogar, ihn zum Restaurant zu begleiten, sie wisse wenigstens etwas "von Küche". Und er überlegt, ob er nicht, für den Fall daß sein Abendessen mit Madame de Stermaria "kein weiteres Ergebnis hätte", schon einmal eine spätere Verabredung mit Albertine treffen sollte, um sich eventuell von ihr trösten zu lassen. Es steht nämlich zu befürchten, daß das erste Treffen mit der Bretonin ganz belanglos verlaufen wird, das hätten erste Treffen leider so an sich.

"Als ich wieder allein bei mir zu Hause war und daran dachte, daß ich heute nachmittag eine Spazierfahrt mit Albertine gemacht, am übernächsten Tag bei Madame de Guermantes zu Abend essen würde und einen Brief Gilbertes zu beantworten habe – alle drei Frauen hatte ich ja geliebt -, sagte ich mir, daß unser Leben unter anderen Menschen einem Maleratelier voll beiseite gelegter Skizzen gleicht, da es mit allen jenen angefüllt ist, an welche wir einmal einen Augenblick lang unser Verlangen nach einer großen Liebe glaubten heften zu können; doch wurde mir dabei nicht bewußt, daß manchmal, wenn die Skizze noch nicht allzulange geruht hat, wir sie am Ende noch einmal vornehmen und ein ganz anderes, vielleicht bedeutenderes Werk daraus machen, als wir ursprünglich planten."

Nun kommt der schönste Moment jedes Rendezvous', die Zeit vor dem Aufbruch: "...diese fruchtlose Stunde, die wie die tiefe Vorhalle des Genusses war." So hatte er in Balbec abends vor den Belustigungen in Rivebelle allein auf dem Zimmer die hereinbrechende Dunkelheit beobachtet, in dem Wissen, daß er nur wenig später wieder in einem strahlend erleuchteten Saal sitzen würde. In diesem Moment ist es schon gar nicht mehr so sehr die Madame de Stermaria, die er sehen will, sondern eigentlich wieder die Frauen von Rivebelle. Er macht "einen kleinen Vergnügungsspaziergang durch die Wohnung", die Eltern sind ja nicht da. Die Wohnung mit ihren Geheimnissen paßt zur Jahreszeit. Ein in der Küche aufheulendes Wasserrohr hatte er anfangs für einen Hund gehalten. "Die Haustür aber schloß sich nur sehr langsam von selbst unter dem Luftzug im Treppenhaus, und immer nur, indem sie Bruchstücke aus den wonnetrunkenen Klangfolgen hören ließ, die über dem Pilgerchor gegen Ende der Tannhäuser-Ouvertüre schweben." Eine bemerkenswerte Haustür! Viel schöner als ein Melodie-Gong.

In diese Stimmung platzt Françoise mit einem Brief von der Vicomtesse Alix de Stermaria. Es sei etwas dazwischengekommen, schreibt sie, sie könne nicht mit ihm essen. Später werde sie ihm eingehender schreiben. "Ich stand regungslos, tief betroffen von diesem Schlage da. Karte und Umschlag waren mir vor die Füße gefallen wie die Hülse aus dem Gewehr, nachdem der Schuß losgegangen ist." Was tut man bei so einem Brief (oder einer SMS)? Man studiert ihn noch hundertmal und versucht, sich ein Bild von den wahren Gedanken der Autorin zu machen. War es der Bois, der sie abgeschreckt hatte? Wie hätte sie ihm abgesagt, wenn er ihr keinen Kutscher geschickt hätte? Damit hatte sie doch nicht rechnen können? Die Nachricht zerstört ihn, trotzdem "bereitete ich mich instinktiv noch immer für den Aufbruch vor, so wie ein Schüler, der im Examen bereits durchgefallen ist, noch eine weitere Frage beantworten möchte."

Nun hat er sie in seiner Phantasie schon hundertmal besessen und war ihrer dabei schon fast wieder überdrüssig geworden (und ohne sie überhaupt je allein getroffen zu haben), und dann kommt sie nicht! Damit hat der Winter auch für ihn begonnen, die Eltern werden wiederkommen und er wird in dieser Jahreszeit nicht mehr ausgehen. Statt Mädchen wird man auf den Champs-Elysées Spatzen sehen. Und das schlimmste: es ist anzunehmen, daß die Bretonin im Gegensatz zu ihm nicht ein einziges Mal an das Essen im Bois gedacht hat. Damit können "Enttäuschung und Zorn" diese Liebe "endgültig festigen".

"Wie viele solche Gesichter von Mädchen und jungen Frauen gibt es wohl in unserer Erinnerung, und wieviel mehr noch in der Zone der Vergessenheit, die alle voneinander verschieden sind und die wir mit Zauber und unserem leidenschaftlichen Verlangen, sie wieder vor uns zu sehen, nur deshalb bedacht haben, weil sie im letzten Nu unseren Blicken wieder entzogen wurden?" Man kann sich aber nicht helfen, man stellt sich diesen schrecklichen Moment trotzdem irgendwie heimelig vor. Er ist in der großen, dunklen Wohnung seiner Eltern, von beruflichen Sorgen offenbar immer noch nicht berührt, nach der Dienerschaft, die im Hintergrund an seinem Wohlbefinden werkelt, braucht er nur zu schellen. Es ist Herbst, die beste Zeit, um sein "zentrifugales Wesen" auf sich selbst zu konzentrieren. Da liegt er auf einem "enormen Stapel von nicht aufgerollten Teppichen" und schluckt Staub und Tränen "wie die Juden, die sich zum Zeichen der Trauer Asche aufs Haupt streuten". Und außerdem tritt ja genau in diesem Moment der wackere Saint-Loup ein, um ihn zum essen abzuholen, er sei für einen Tag in Paris.

Nun hat Marcel schon früher betont, für wie überschätzt er Freundschaften hält. Wie konnte Nietzsche meinen "...die Wahrheit werde sich in wesensmäßig so verworrenen und unangemessenen Ausdrucksformen verwirklichen, wie es das Handeln im allgemeinen und im besonderen Freundschaften sind"?

"In Balbec war ich so weit gekommen, das Vergnügen, mit jungen Mädchen zu spielen, als weniger verderblich für das geistige Leben, mit dem es einfach gar nichts zu tun hat, zu erachten als die Freundschaft, deren ganzes Bestreben es ist, den einzigen wirklichen und (es sei denn durch das Mittel der Kunst) nicht mitteilbaren Teil unserer selbst einem oberflächlichen Ich zum Opfer zu bringen, das nicht wie das andere Freude in sich selber findet, sondern eine verschwommene Rührung dabei verspürt, wenn es von außen her gestützt und in eine fremde Individualität gleichsam gastlich aufgenommen wird, wo es dann, beglückt über den ihm zuteil gewordenen Schutz, sein Wohlbehagen in Billigung ausströmen läßt und Vorzüge bewundert, die es an sich selbst als Fehler bezeichnen und zu korrigieren bemüht sein würde." Eine radikale, asketische Position, unerbittlich gegen "verschwommene Rührung", nur dem Teil in sich selbst geweiht, der sich ausschließlich durch Kunst zum Ausdruck bringen läßt.

Zudem ist die Herzlichkeit solcher Freunde, wie "Diplomaten, Forschern, Fliegern oder Militärs" eine paradoxe Sache. Wie können sie so tun, als sei man ihnen wichtig, aber am nächsten Tag schon wieder ganz woanders sind? "Eine Mahlzeit mit uns, also etwas ganz Natürliches, schenkt diesen Reisenden das gleiche ungewöhnlich köstliche Vergnügen wie unsere Boulevards irgendeinem Asiaten." Trotzdem, und obwohl Freunde ja so etwas überflüssiges sind, ist es doch gut, statt Tränen und Staub zu schlucken, mit jemandem zu essen, "der unser ganzes stagnierendes Sein mit seiner frischen Lebensenergie und seiner Zuneigung neu befruchtet..."

Noch auf der Treppe denkt er, weil Saint-Loup neben ihm geht, wieder an den Besuch in Doncières zurück, und ein vergessenes Detail fällt ihm wieder ein. Dort hatte er einmal in einem kleinen Gasthaus gegessen, die Bedienerin brachte das Essen aufs Zimmer. Irgendwie streifte seine Hand ihren "nackten Unterarm" (wieder dieser nackte Arm, wie schon bei der Herzogin, eine für die Epoche reizvolle Zone, die inzwischen an Wirkung eingebüßt hat.) Und weil die Bedienerin nicht zurückzuckte "schlug ich ihr vor, mich nach Geld zu durchsuchen". Ein kühner Schachzug, warum ist man nie darauf gekommen? Marcel jedenfalls hatte sich damals mit dieser Frage für eine Weile tägliche Liebesfreuden verschafft.

Verlorene Praxis: - Der Frau einen Wagen schicken.

  • Auf die Nachricht vom Brand im Louvre einen Freund aufsuchen und mit ihm weinen.

Selbständig überlebensfähige Sentenz: - "Wir nehmen selten unser Leben wahr..."

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