Schmidt liest Proust
Montag, 23. Oktober 2006

Berlin - IV Sodom und Gomorra - Seite 130-150

Nachruftermin bei Frau Vampiro in Westend, wo die Geschäfte noch "Schuh Treff" und "Mode Truhe" heißen, und Ehepaare vor den Auslagen vom Tchibo die neuen Angebote studieren. Frau Vampiro hat den Verstorbenen, über den ich schreiben soll, in den letzten Jahren gepflegt, und ich muß nun für die schreiende Ungerechtigkeit büßen, daß er mit seinen 96 Jahren zuletzt fast vergessen war, jedenfalls herrscht sie mich immer wieder an. Sie ist aus Sizilien, ihr Vater ist früh gestorben, und sie hat "meinä Arrnoldä" als ihren neuen Vater adoptiert, spätestens, als sie herausgefunden hatte, daß er im selben Jahr geboren war und auch im selben Monat und sein zweiter Name der gleiche war, wie der ihres Vaters. Außerdem habe er, genau wie ihr Vater, aus Höflichkeit immer etwas auf dem Teller übrig gelassen, es bestehe also kein Zweifel, daß hier das Schicksal am Werk sei: "Verstehen ßie!?"

Mich trifft es ja immer wie der Schlag, wenn ich mich bei diesen Nachrufterminen in den Wohnungen der Hinterbliebenen in einer Hölle aus Rauchglas, Goldrahmen und Nippes wiederfinde. In Wirklichkeit lebt wohl der größte Teil der Menschheit unter solchen Bedingungen, wir sind da keinen Schritt weitergekommen. Bei Frau Vampiro habe ich etwas neues gesehen: auf der Sofakante arrangierte Ziertassen aus Porzellan, wobei nur die mittlere und die äußeren beiden aufrecht standen, die anderen waren auf der Untertasse auf die Seite gelegt, mit der Öffnung zum Betrachter.

Ich bekam dicke Aktenordner mit Korrespondenzen des Verstorbenen vorgelegt, der als Zeitungskritiker und Feuilletonjournalist gearbeitet und Bücher über Thomas Mann, Rilke und Virchow geschrieben hat. Durchschläge von Briefen aus der Nachkriegszeit an Hans Mayer und Thomas Mann ("Wir wollen deutsche Weltbürger sein und sehen mit ihnen, Herr Thomas Mann, in einem Weltstaat den letzten Versuch, unseren Planeten und seine Kultur zu erhalten." Ob Thomas Mann sich damit einverstanden erklärt hat, den Planeten zu erhalten? Offenbar, denn es gibt ihn ja noch.) So ist das: am Ende bleiben Aktenordner, die niemand durchzusehen schafft. Sogar eine Leserpostkarte von '49 an die Redaktion der Zeitung ist sorgsam mit eingeheftet, ein "Oscar Bauernfeind" aus Bayern äußert sich zu einem Artikel des Verstorbenen über die deutsche Kollektivschuld: "Ist ihnen noch nicht klar, daß der einzige Kampf der des Untermenschen gegen den Kulturmenschen ist?" Neben der Briefmarke klebt eine 2-Pfennig-"Notopfer Berlin"-Steuermarke, damals hat man die Stadt als Revanchist aus dem Bundesgebiet wenigstens noch finanziell unterstützt.

Wenn man so alt wird, ist die Gefahr groß, seinen eigenen Ruhm zu überleben: "Wer sprichtä über meinä Arnoldä? Juberall steht juber diese Mann aus Türkei, der Preis bekommt für ein Buch nur! Aber meinä Arnoldä hat ßoviel gemacht für dieße Berlin, dieße Berlin hat immer gerufen, verstehen ßie?" Damit meint sie, daß er immer zurückgekehrt sei in diese Stadt, auch nach der ersten Verhaftung in der Nazizeit. Und das mit der fehlenden Würdigung soll ich nun ändern, indem ich seine Bibliothek auswerte, Dutzende Aktenordner mit Korrespondenz durchsehe und die handgeschriebenen Tagebücher abtippe und redigiere.

Mehr als die Korrespondenz interessiert mich aber, was sie nebenbei über seine letzten Jahre sagt, in denen sie ihn jeden Abend ins Bett gebracht, und mit ihm "Guten Abend, gute Nacht" gesungen hat. Er habe sich immer wieder bitter beschwert, daß seine Mutter im ersten Weltkrieg sein Schaukelpferd versetzt habe. Über die Schläge in den 18 Monaten Haft unter den Nazis hat er dagegen nicht gesprochen, niemand wußte, daß er viermal in Haft gewesen ist. Seinen Peiniger hat er einmal nach dem Krieg in der U-Bahn gesehen und laufen lassen.

Mit der jüngeren Schwester, die im Erdgeschoß wohnte, hat er sich anscheinend nicht verstanden, er war der Schöngeist, der sich mit Geldfragen und Ämtern nicht befassen wollte, und sie hat das Haus unterhalten. Am Ende gab es juristische Geplänkel um das Erbe mit ihr, und er hat deshalb beschlossen, zu sterben und nichts mehr gegessen, sonst hätte er 100 werden können.

Auf dem Rückweg durch Westend kommt angesichts der unverschämt großen Villen ein belebender Sozialneid bei mir auf. Ich habe noch nie darüber nachgedacht, so eine Villa zu besitzen, also habe ich das auch noch nie vermißt, aber ich habe früher auch nie darüber nachgedacht, mir einfach, wie letzte Woche wieder, den guten Ziegenkäse zu leisten. Ich muß eigentlich nur 10000 dieser Nachrufe schreiben und das Geld sparen, dann kann ich mir meine Villa kaufen, also ca. 30 Jahre lang jeden Tag ein Nachruf, andere arbeiten härter.

Was muß man tun, damit man nicht mit 96 von allen vergessen stirbt? 6-7 Bücher haben bei ihm nicht gereicht, auch nicht das Bundesverdienstkreuz und der Status als Verfolgter des Naziregimes. Die Redaktion seiner Zeitung, für die er 30 Jahre gearbeitet hat, war erstaunt: "Ach, der hat noch gelebt?" Man muß also rechtzeitig sterben, damit diejenigen, die die Nachricht interessieren könnte, noch am Leben sind. Man muß machtbewußt sein und sich Einfluß in Institutionen verschaffen, um den Nachwuchs fördern zu können, der einem dann ewig dankbar ist und sich um den Nachlaß kümmert. Man muß, anders als er, viele Kinder kriegen (Warum er keine Frau und keine hatte, konnte ich ja schlecht fragen. So, wie alles, was einen Menschen wirklich bestimmt, niemanden etwas angeht.)

Ich lebe ja immer noch in der Vorstellung, das ganze Land werde einst meine Agonie mit angehaltenem Atem begleiten, wie das jugoslawische Volk die von Tito. Monatelang hat sich sein Sterben hingezogen, täglich wurde darüber in den Nachrichten berichtet. Es gibt ein Bild mit auf die Meldung von seinem Tod hin unter Tränen mitten auf dem Fußballplatz zusammengebrochenen jugoslawischen Spielern. Als der Zug mit seinem Leichnam von Ljubljana nach Belgrad fuhr, standen an der ganzen Strecke die Menschen. Die größten Diktatoren haben immer am meisten Angst vor dem Tod, daher das ganze Theater mit dem Personenkult.

Auf dem Spandauer Damm endlich wieder häßlichere Häuser, sogar mehrere Bestatter nebeneinander, u.a. der-billigbestatter.com, bei dem man aber auch mindestens 750 Euro einplanen muß. Inzwischen ist es dunkel geworden, und ich grüble immer noch über die richtige Strategie, unsterblich zu werden. Die Schönheit der heranrasenden Autos auf der Stadtautobahn.

Seite 130-150 Marcel möchte doch gerne von Swann persönlich hören, wie dessen Unterredung mit dem Prinzen abgelaufen sei, und ob das Gerücht stimme, bei ihm zu Hause sei ein den Prinzen parodierender Einakter von Bergotte aufgeführt worden. Swann berichtet Wort für Wort, was der Prinz zu ihm gesagt hat, und man bewundert sein Gedächtnis, und die Bereitschaft des Zuhörers, sich das so haarklein wiedergeben zu lassen, wo man heute nur sagen würde: "Na er hat sich ausgelassen, wegen Dreyfus und bla..." Außerdem wird Swann in seiner Erzählung immer wieder unterbrochen und dann muß er sich setzen: "Er war bei jenem Grad der Ermüdung angelangt, in dem der Körper des Kranken nur noch eine Retorte ist, in der man chemische Reaktionen beobachten kann."

Charlus zieht Marcel mit Madame de Surgis in eine Nische, in der sich beim Vorbeigehen auch Madame de Saint-Euverte einklemmt, was Charlus Gelegenheit gibt, vor der Surgis mit Bosheiten über die Saint-Euverte zu glänzen: "Die Nähe dieser Dame genügt, damit ich mir plötzlich sage: 'Ja, zum Kuckuck, sollte meine Abortgrube schadhaft geworden sein?'" Aber die so beleidigte ist viel zu versnobt, um sich zu wehren: "Leider sind in der Gesellschaft ebenso wie in der Welt der Politik die Opfer so feige, daß man den Henkern nicht lange böse sein kann." Sie bittet Marcel sogar, Charlus am nächsten Tag zu ihrer Garden-party mitzubringen.

Zurück beim müden Swann spricht dieser über seine vergangenen Eifersuchtsgefühle, Marcel kennt so etwas noch nicht (aber das wird sich wohl noch ändern): "Jetzt, wo ich etwas zu müde bin, um mit anderen zu leben, scheinen mir diese alten, mir so ganz allein zugehörigen Gefühle, die ich durchlebt habe, wie es nun einmal die Manie aller Sammler ist, unerreichbar an Wert. Ich schließe mir selbst mein Herz auf, als wäre es so etwas wie eine Vitrine und betrachte eine nach der anderen alle die Arten von Liebe, welche die anderen nicht kennengelernt haben." Ja, der Mensch ist gegen Ende seines Lebens eine unscheinbare Hülle für wertvolle, für andere unsichtbare Erinnerungen, eine Art Museum, das während seiner gesamten Existenz nur einen einzigen Besucher einläßt.

Währenddessen baggert Charlus bei den Söhnen von Madame de Surgis. Arnulphe erklärt mit einer lispelnden Stimme "die zu beweisen schien, daß mindestens seine geistige Entwicklung noch nicht vollständig abgeschlossen war", eher als für Balzac interessiere er sich "für Golf, Tennis, Fußball, Wettlauf und vor allem Polo." "'Ah!' antwortete Monsieur de Charlus mit dem entzückten Lächeln des Intellektuellen, der sich nicht einmal die Mühe macht, seine Ironie zu verbergen, sich aber noch dazu den anderen so überlegen fühlt und auch die Intelligenz der keineswegs Dummen derart verachtet, daß er kaum zwischen ihnen und denen einen Unterschied macht, die es hochgradig sind, in dem Augenblick, wo sie ihm auf andere Art angenehm sein könnten. Monsieur de Charlus fand, daß er den Grafen Arnulphe, indem er mit ihm sprach, mit einer Rangerhöhung bedachte, die jedermann erkennen und ihm neiden müsse." Manchmal sind die Rangerhöhten aber gar nicht so blind, zumindest reicht es immerhin dafür, ständig zu argwöhnen, man nehme sie nicht ernst. Man muß Witze nicht immer verstehen, um zu bemerken, daß es sich um Witze gehandelt hat.

Swanns Müdigkeit ist echt und nicht nervös: "Gewiß gehörte Swann nicht durchaus zu jenen unermüdlichen Erschöpften, die bei ihrer Ankunft erledigt, zerschlagen, sich kaum noch aufrecht zu halten vermögen, dann aber in der Unterhaltung sich von neuem beleben wie eine Blume, die man ins Wasser stellt, und stundenlang aus ihren eigenen Worten Kräfte schöpfen, die sie leider auf ihre Zuhörer nicht zu übertragen imstande sind, so daß diese in dem Maße abgespannter wirken, wie der Sprecher munterer wird."

Aber die größte Müdigkeit und die Nähe des Todes verhindern nicht, daß man an einem Dekolleté nicht vorbeigehen kann, ohne hineinzulugen: "Die Marquise kehrte sich um und wendete ein Lächeln und einen Händedruck an Swann, der sich erhoben hatte, um sie zu begrüßen. Doch fast ohne jede Verhüllung – vielleicht weil er bei seinem stark vorgeschrittenen Leben durch Gleichgültigkeit gegenüber der Meinung anderer die moralische Kraft oder durch Übersteigerung der Begehrlichkeit und ein Nachlassen der Fähigkeit, sie zu verbergen, das physische Vermögen dazu verloren hatte – ließ Swann, sobald er die Hand der Marquise ergriff und aus der Nähe, von oben herab ihres Busens ansichtig wurde, einen aufmerksamen, ernsthaft vertieften, ja beinahe besorgten Blick in ihren Taillenausschnitt hinabgleiten, und seine Nasenflügel, vom Duft der Frau berauscht, erbebten wie ein Falter, der ich auf der von weitem erspähten Blume niederzulassen gedenkt. Jäh riß er sich aus dem Schwindel zurück, der ihn erfaßt hatte, und Madame de Surgis selbst erstickte, wenn auch befangen, ein tiefes Aufatmen, so ansteckend kann zuweilen physisches Begehren sein." Was für eine schöne Szene. Das Spiel mit den Nasenflügeln muß ich noch üben, aber ich kann schon sehr gut besorgt in Taillenausschnitte blicken.

Und das bei einem Mann, der jederzeit sterben kann. Swann hofft eigentlich nur noch, nicht vor dem Ende der Dreyfus-Affäre zu sterben, er möchte noch erleben, wie die Gerechtigkeit siegt. "Von einem gewissen Grad der Abspannung an, ob diese nun durch Alter oder Krankheit verursacht ist, wird jedes Vergnügen, das auf Kosten des Schlafes geht oder sich auch nur außerhalb unserer Gewohnheiten abspielt, jede Regelwidrigkeit, zu schwerem Mißvergnügen."

Swann lädt Marcel ein, doch wieder einmal Gilberte zu besuchen. "Ich liebte Gilberte nicht mehr. Sie war für mich wie eine Tote, die man lange beweint hat, dann ist das Vergessen gekommen, und wenn sie jetzt wieder auflebte, würde sie sich nicht mehr in ein Leben eingliedern, das nicht länger für sie gemacht erscheint. Ich hatte keine Lust, sie zu sehen, aber auch nicht einmal mehr, ihr ausdrücklich darzutun, daß sie zu sehen mir nicht mehr wichtig sei, was ich mir doch vorgenommen hatte, als ich sie noch liebte, ihr täglich zu verstehen zu geben, sobald ich sie einmal nicht mehr lieben würde."

Katalog kommunikativer Knackpunkte: - "Andererseits entheben einen die Leute, die so ausgiebig über ihre eigenen nicht einmal komischen Worte lachen, dadurch der Notwendigkeit, an einer Heiterkeit teilzunehmen, die sie ganz aus eigenen Mitteln bestreiten."

  • Heimliche Liebe: "Ich hatte wohl mit Staunen bemerkt, daß, wenn ich etwas erzählte, was mich selbst betraf, und mitten in meinem Bericht Monsieur de Charlus erwähnte, die Aufmerksamkeit der Prinzessin auf der Stelle in der Weise intensiver wurde wie die eines Kranken, der, solange wir von uns selbst sprechen, folgerichtig zerstreut und lässig zuhört, dann aber plötzlich den Namen des Übels zu vernehmen glaubt, von dem er selbst betroffen ist, was ihn dann gleichzeitig interessiert und freut." Das ist traurig, wenn einem die Rache am Ende gar keinen Spaß mehr macht.

Verlorene Praxis: - Sich nicht enthalten können, auf ihren Ausschnitt "mit weitaufgerissenen und begehrlichen Augen lange Kennerblicke zu werfen."

  • Arm auf seinem Besitzungen leben.
  • Die schlaffen Zügel seiner Aufmerksamkeit von neuem in die Hand nehmen.

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