Schmidt liest Proust
Donnerstag, 19. Oktober 2006

Berlin - IV Sodom und Gomorra - Seite 49-69

Im Kindergarten war ich wieder neidisch, als ich den Wochenspeiseplan las: "Tomatennudeln mit Reibekäse und Saftschorle" "Serbische Reispfanne mit Buttermilch" "Straußengulasch mit Apfelrotkohl und Petersilienkartoffeln" "Erbseneintopf" "Milchnudeln und Früchtecocktail" "Gebratenes Seelachsfilet mit Eisbergsalat und Kartoffelpüree" Jeden Tag was anderes, damit fängt es schon an, aber dazu auch noch fast immer drei Komponenten, was ich zu Hause immer noch nicht durchsetzen konnte, weil ich es dann ja kochen müßte. Bei mir gab es wieder gebratene Zwiebeln mit einer Dose Tomatenfisch und als Nachtisch einen Hustenbonbon.

Auf der Heimfahrt einen weiteren Datenberg ausgemacht, den bisher noch niemand sichert: Wann, wo und unter welchen Umständen man auf der Straße Auskunft über den Weg zu einer anderen, oder sogar (selten) derselben Stelle in der Stadt geben sollte. Mich haben mal in Tschernjachowsk, als ich gerade eine Kirche fotografierte, zwei russische Polizisten nach dem Weg zum Gerichtsgebäude gefragt. Heute, etwas weniger aufregend, Schönhauser/ Ecke Wörther, zwei 7-Tage-Bartträger und Pilotenbrille: "Der Helmholtzplatz, wo isn der?" Es wirkte fast, als machten sie mich dafür verantwortlich, daß der Helmholtzplatz so weit weg von ihnen war. Wenn alle Menschen diese Auskunftsdaten zusammentragen würden, könnte man eine Art Suchanfragen-Top 10 erstellen: "Die häufigsten nicht gefundenen Orte der Welt".

Die Zeitung übertrifft sich mal wieder selbst: "Anwohner fordern breitere Zufahrtsstraße." In einer Zeitung, die nur für die Anwohner dieser schwer zugänglichen Straße produziert würde, wäre das sicher eine Topmeldung gewesen, in der Berliner Zeitung war es immerhin noch eine Meldung. Noch bekommt ja nicht jeder seine eigene Zeitung mit den für ihn wichtigsten Meldungen konfiguriert. Warum lesen sich Menschen freiwillig und für Geld täglich die Meldungen anderer Leute durch?

In der Kaufhalle wieder bedauert, daß ich keine Radiergummis brauche, wo man die heute so billig bekommt.

Als ich mich gerade zur Arbeit ins Bett gelegt, den Kaffee, ohne etwas zu verschütten, auf den Bauch balanciert, die zwei Stütz-T-Shirts für das Buch auf ausgerichtet, und den ersten Satz zu lesen begonnen hatte, rief wieder jemand an, der falsch verbunden war, in letzter Zeit meist für eine "Anja Pohlmann". Wenn es Männer sind, spürt man richtig, wie wenig sie einem über den Weg trauen. Beim nächsten mal werde ich sagen: "Anja Pohlmann ist jetzt mit mir zusammen, wir sind sehr glücklich, und ich soll ihnen ausrichten, daß sie bitte damit aufhören sollen, sie zu belästigen, die Jahre mit ihnen waren für Anja die Hölle."

Tag der Technik:

  1. Ich bin zu Googlemail umgestiegen, obwohl Google, laut befreundeten Paranoikern Experten, sein Angebot nur eingerichtet hat "um an einen Mailkorpus ranzukommen". "Die lesen deine Mails!" hieß es, als würde mir das etwas ausmachen. Im Gegenteil, dann verschicke ich demnächst meine Texte als Attachement an mich selbst und kann sagen, daß ich Leser in Amerika habe.
  2. Aus einer Laune heraus noch einmal versucht, den neuen Drucker an den alten Rechner anzuschließen, diesmal aber, bevor ich den Rechner angeschaltet hatte. Wie nicht anders zu erwarten, hat der Rechner den Drucker erkannt. Offenbar erkennt er neue Hardware nicht, wenn er schon hochgefahren ist. Wieder einmal etwas, was ich mir als Mensch nicht erlauben dürfte, das ist doch, als würde ich Frauen nur bemerken, wenn sie schon morgens beim Aufwachen neben mir gelegen haben und alle anderen in der Wohnung übersehen, selbst wenn sie ganz neu sind.
  3. Weil heute alles zu klappen schien, habe ich auch noch herausgefunden, wie ich mit Acdsee eine Fotopräsentation machen kann, ohne daß die Bilder automatisch weiterlaufen. Ich habe einfach den "Verzögerungsschalter" auf "10 Tage" gesetzt. Sollte ich einmal einen Diavortrag halten, bei dem ich für die Erläuterungen zu einem Bild länger als 10 Tage brauche, müßte ich mir natürlich etwas anderes überlegen. Vielleicht können neuere, schnellere Rechner ja auch schon 20 Tage verzögern. Jetzt bleibt nur noch die philosophische Frage, ob eine Diashow, bei der die Dias alle 10 Tage wechseln, überhaupt noch eine Diashow ist, oder nicht schon Kunst.

Seite 49-69 Der zweite Teil von Sodom und Gomorra beginnt mit einer Würdigung des Obelisken auf der Place de la Concorde, in der Abendsonne einem Ding "das wie rosa Nugatmasse anzusehen war", bis er "schlanker und nahezu elastisch geworden schien." Ein Schelm, wer böses dabei denkt. Immer noch unsicher, ob er einem Aprilscherz aufgesessen ist, wenn er der Einladung zur Soirée der Prinzessin von Guermantes folgt, betritt Marcel das Palais. Zur Sicherheit hat er sich für Mitternacht mit Albertine verabredet "Gewiß war ich keineswegs in sie verliebt; wenn ich sie heute abend kommen ließ, so gehorchte ich einzig einem Verlangen meiner Sinne..." Er rechnet nämlich darauf, sich an ihrer Seite "von dem sehnsüchtigen Verlangen zu befreien, das sicherlich in mir viele bezaubernde Gesichter zurücklassen würden..."

Nun kommt wieder eine Sturmbahn der Peinlichkeiten auf ihn zu. Am Eingang steht nämlich ein sogenannter "Beller", der die Namen der eintreffenden Gäste ruft. (Ohne zu wissen, mit wem er zu tun hatte, war dieser vor kurzem in den Champs-Elysées dem Herzog von Châtellerault begegnet und hatte ihn reizend gefunden: "Alle Gunst, von welcher der Bediente geglaubt hatte, er müsse sie einem so jungen Herrn seinerseits erweisen, hatte er gerade umgekehrt empfangen." Soll man hier wirklich seine Phantasie anstrengen, um sich vorzustellen, was damit gemeint ist? Der Herzog hatte sich ihm übrigens anschließend als Engländer ausgegeben und hartnäckig mit "I don't speak french" geantwortet.)

Die Prinzessin hat eine Neuigkeit eingeführt, nach dem Abendessen werden bei ihr die Stühle umgestellt, und die Gäste setzen sich in kleine Gruppen, teilweise einander den Rücken zukehrend. Die Prinzessin gesellt sich kurz und zwanglos zu jeder dieser Gruppen. "Innerhalb von dreiviertel Stunden hatten alle Gruppen ihren Besuch erhalten, der jedesmal einzig durch Zufall und momentane Laune bestimmt zu sein schien, vor allem aber den Zweck hatte, ins rechte Licht zu setzen, mit welcher Natürlichkeit eine große Dame einen Empfang zu gestalten weiß." Die Gäste stehen Schlange, um von ihr begrüßt zu werden, sie läßt dabei ein paar Floskeln fallen: "Zu manchen sagte sie sogar nichts, sondern begnügte sich damit, ihnen ihre wundervollen Onyxaugen zuzuwenden, als sei man nur zu einer Ausstellung kostbarer Steine gekommen."

Nun erkennt Châtellerault (allein der unbequem zu tippende Name dürfte verhindern, daß er jemals zum Helden eines meiner Romane werden wird) zu seinem Schrecken, den "Beller" an der Tür wieder. Was für ein pikanter Moment, wird dieser Schlingel Verschwiegenheit wahren? (So eine Angst muß doch auch jeden Abend den Freund dieses einen Tagesschausprechers gepeinigt haben, daß der, sofern er ihn einmal gereizt haben sollte, sich eines abends vergißt und vor der Nation etwas kompromittierendes ausposaunt.)

Danach ist Marcel dran, unter die "furchtbaren Befugnisse dieses wie ein Henker schwarz gekleideten Funktionärs", des Bellers, kennenzulernen. Er weiß ja immer noch nicht, ob er nur veralbert wurde, lieber würde er hier unauffällig eindringen, um im Ernstfall ebenso unauffällig wieder verschwinden zu können. "Der 'Beller' befragte mich nach meinem Namen. Ich nannte ihn ebenso mechanisch, wie sich der zum Tode verurteilte auf den Bock schnallen läßt", und dann "brüllte er die beunruhigenden Silben mit einer Macht heraus, von der die Wölbung des Palais hätte erbeben können." Da beweist Proust doch wieder einen kafkaschen Sinn für Slapstick.

(Es folgt die Anekdote, oder das Fallbeispiel, einer Frau, die immer, wenn ihr in Gesellschaft ein Fauteuil angeboten wurde, darin einen alten Herrn sitzen sah, und sich nie sicher war, ob sie sich die einladende Geste einbildete, oder den alten Herrn, auf dessen Knie sie sich setzen sollte. Ihre Erleichterung, als sie sich schließlich zu setzen wagte und den Fauteuil leer vorfand gleiche der von Marcel, als sein Name erschallt und keine Katastrophe eintritt.)

Die Prinzessin begrüßt ihn sehr aufmerksam: "Ich erwartete fast, sie werde mir wie eine Anführerin beim Kotillon einen Spazierstock mit Elfenbeingriff oder eine Armbanduhr überreichen."

Eine weitere Slapstickszene: "Von Beruf zu Beruf errät man einander, von Laster zu Laster ebenfalls. Monsieur de Charlus und Monsieur de Sidonia hatten auf der Stelle jeder das des andern erspürt: für alle beide bestand es darin, in Gesellschaft dem Monolog in einer Weise zu huldigen, daß kein Unterbrechen möglich war." Deshalb ist, da keiner nachgeben will, bei ihrem Gespräch "das wirre Geräusch zustande gekommen, das in den Komödien Molières von mehreren Personen hervorgebracht wird, die zu gleicher Zeit verschiedene Dinge äußern."

Eine typische Szene auf Partys, plötzlich sucht man, in Ermangelung anderer bekannter Gesichter und von Peinlichkeit getrieben, das Gespräch mit Personen, die man sonst meiden würde. So geht es Professor E..., dem Arzt, der am Nachmittag ihres ersten Anfalls der Großmutter eine düstere Diagnose gemacht hatte. "Da er absolut niemand in diesen Salons kannte und nicht unbegrenzt lange wie ein Gesandter des Todes allein darin umherirren konnte, hatte er bei meinem Anblick zum ersten Mal in seinem Leben verspürt, daß er mir unendlich viele Dinge zu sagen habe, was ihm gestattete, sich eine Contenance zu geben, und einen der Gründe bildete, weshalb er auf mich zugetreten war." Der Arzt erfährt nun, daß die Großmutter tatsächlich gestorben ist, "...ohne Befriedigung zu äußern, ja vielleicht sogar, ohne sie zu verspüren." Denn es hätte ihn natürlich schon gewurmt, wenn sich seine Diagnose als falsch herausgestellt hätte. "Gern werden ernste, aber nur funktionelle Störungen einer eingebildeten Krebsgeschwulst zugeschrieben. Es hat keinen Zweck, weitere ärztliche Visiten zu machen, es handelt sich um ein unausweichliches Übel, das auch durch sie nicht mehr behoben werden kann. Wenn dann der sich selbst überlassene Patient es mit einer rigorosen Diät versucht, schließlich wieder gesundet oder wenigstens weiterlebt, so wird der Arzt, wenn er in der Avenue de l'Opéra von jemand gegrüßt wird, den er seit langem auf dem Père-Lachaise vermutete, in dessen Hutschwenken eine Gebärde heimtückischer Bosheit erblicken. Ein Schwurgerichtspräsident würde kaum in größeren Zorn geraten, wenn er einen Schelm, über den er zwei Jahre zuvor das Todesurteil verhängt hat, ohne alle Scheu vor seinen Augen einen Spaziergang machen sähe."

Monsieur de Vaugoubert, ein Diplomat, der nach gleichgeschlechtlicher "kindisch planloser Ausschweifung" in seiner Jugend zu absoluter Enthaltsamkeit gekommen ist, um eine Laufbahn am Quai d'Orsay zu machen (was für ein Land, in dem man seit 100 Jahren Quai d'Orsay sagen kann, wenn man das Außenministerium meint, eine Kontinuität, die wir ga nicht mehr kennen.) Bei ihm und seiner Gattin ist er die Frau und sie der Mann. Dabei gibt es zwei Varianten, die, daß der Mann, der eigentlich Männer liebt, eine Frau heiratet, die wie ein Mann wirkt, oder den zweiten Fall, "bei dem man es mit einem der rührendsten Mirakel der Natur" zu tun hat, der in diesem Fall "das Menschenreich dem Pflanzenreich naherückt." Nämlich "wenn die Frau zunächst keine männlichen Züge hat, nimmt sie sie nach und nach sogar unbewußt an, um ihrem Mann in jener Art von Mimikry zu gefallen, durch die gewisse Blumen sich das Aussehen der Insekten geben, die sie anlocken wollen. Der Kummer, nicht geliebt, kein Mann zu sein, läßt sie männlich werden."

Leider hilft ihm die Marquise auch nicht weiter, auch sie kann ihn dem Prinzen nicht vorstellen, weil sie Marcels Namen nicht weiß. Das ist nun ein gänzlich verschollenes Problem, auf einer Party unter der Peinlichkeit zu leiden, niemanden zu haben, der einen dem Gastgeber vorstellen könnte.

Endlich findet er eine ihm bekannte Madame, die ihn dem Prinzen vorstellen könnte, aber sie "benutzte einen Moment, in dem die Blicke des Hausherrn nicht auf uns gerichtet waren, mich mütterlich um die Schultern zu fassen und dem abgewendeten Gesicht des Prinzen, dr sie nicht sehen konnte, zulächelnd, mich mit einer angeblichen protegierenden, aber willentlich unwirksamen Geste zu ihm hinzuschieben, so daß ich eigentlich hilflos wie zuvor noch immer am Ausgangspunkt stand."

Unklares Inventar: - Routs

  • Alfanzereien.

Verlorene Praxis: - Sich "mit der Geschicklichkeit, die man durch die Gewohnheit des Reitens bekommt" langsam in seinem Sessel umwenden, und so ohne seine Nachbarn zu stören seinem Hintermann beinahe gegenübersitzen.

  • Innerlich an den Mißhelligkeiten einer Karriere würgen, "in der es keine Beförderung, wohl aber die ständige Drohung der Versetzung in den Ruhestand gab."

Selbständig lebensfähige Sentenz: - "Aber manchmal wohnt die Zukunft schon in uns, ohne daß wir es wissen, und unsere Worte, die zu lügen meinen, bezeichnen eine nicht ferne Wirklichkeit."

  • "Medizin ist keine exakte Wissenschaft."
  • "Ein wirklicher Schriftsteller, der nicht die törichte Eigenliebe so vieler Literaten besitzt, hat, wenn er den Artikel eines Kritikers liest, der ihm immer die größte Bewunderung gezollt hat, nun aber die Namen von mittelmäßigen Autoren zitiert und den seinen verschweigt, nicht de Muße, sich bei etwas aufzuhalten, was für ihn ein Gegenstand der Verwunderung sein könnte, denn durch seine Bücher werden seine Kräfte vollkommen in Anspruch genommen." Eine selbstbewußte Aussage, oder eher Selbstbeschwörung? Da man weiß, daß Proust die heute verpönte Praxis nicht gescheut hat, Autoren schlechter Kritiken mit langen Berichtigungsbriefen zu beehren, wohl eher letzteres.

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