Schmidt liest Proust
Freitag, 20. Oktober 2006

Berlin - IV Sodom und Gomorra - Seite 69-90

Als Firma nimmt man alle Aufträge an und unterbietet, um noch mehr Aufträge zu bekommen, in den Lieferzeitversprechungen die Konkurrenz, um, weil das am Ende unmöglich zu schaffen ist, Studenten und Praktikanten einzustellen, die in letzter Minute alles hinbiegen müssen. Aber in meinem Beruf wäre die Einarbeitung eines Ersatzmanns komplizierter, als alles selbst zu erledigen. Neben dem elenden, täglichen Proustpensum, ist das in den nächsten zwei Wochen:

  • "Pjöngjang" von Guy Delisle übersetzen, den Nachfolgeband von "Shenzhen". Ich bin zwar schon einmal durch, aber ich habe überall ein Sternchen hingeschrieben, wo ich mir noch unsicher bin, auf 170 Seiten 246 Sternchen. Der Verlag drängelt plötzlich, nachdem ich bisher das Gefühl hatte, es wäre ihnen lieber, wenn ich die Übersetzung erst im nächsten Jahr machen würde, weil sie es sowieso nicht so bald drucken können.

  • Als Gastredakteur für den neuen Salbader 150 Kurzgeschichten lesen (gestern kam der Anruf, ich hätte einfach nur Nein sagen müssen. Das kommt mir heute wie eine phantastische Idee vor. Aber ich leide an der romantischen Vorstellung, vielleicht einem jungen Talent, das von allen anderen bisher übersehen wurde, endlich zum Durchbruch zu verhelfen. Dabei wäre es vom professionellen Standpunkt her viel sinnvoller, sollte mir so ein Talent unterkommen, mit allen Mitteln zu verhindern, daß es seinen Weg macht, denn dann hätte ich ja noch einen Konkurrenten mehr. Vielleicht der eigentliche Grund, warum ich beim Salbader mitmache.)

  • Ein Exposé für ein Buch über die DDR schreiben. (Wobei ich die Wahl habe, dieses Projekt ernst zu nehmen und gut zu machen, und es zwei Jahre nach Erscheinen bei Wohltats auf dem Wühltisch wiederzufinden, oder es so zu machen, wie die anderen Autoren bisher und es zwar ebenfalls bei Wohltats wiederzufinden, aber zumindest reich geworden zu sein.)

  • Jeden Donnerstag zwei neue Texte für die "Chaussee". (Wie oft werde ich gefragt, was ich denn zur Zeit mache. Diesen Punkt erwähnt man nie, weil das irgendwie nicht als Tätigkeit zählt, und weil die Fragesteller noch nie im Publikum saßen.)

  • Ein Szenario für einen Comic, das ich meinem momentanen Lieblingszeichner vorschlagen will. (Was für ein Irrsinn, Comics sind eine Literaturform, mit der man sich in Deutschland schon von vornherein aus den Regalen der großen Buchhandlungen katapultiert. Also warum wäre es für mich fast eine größere Erfüllung, ein nach meinem Text gezeichnetes Buch in der Hand zu halten, als ein eigenes Buch?)

  • Ein Theaterstück für das DT schreiben, das sie - obwohl sie es dort nur lesen, weil sie meinen Namen auf dem Manuskript mit dem eines anderen Autors verwechselt haben-, so nachhaltig in ihren Grundannahmen über das Theater der Zukunft erschüttert, daß sie es sofort anstelle des von mir kürzlich verrissenen "Neue Leben" aufführen lassen, oder zumindest erst einmal den Spielbetrieb an ihrem Haus einstellen, bis ich die Zeit habe, mich um ihr Theater zu kümmern, also frühestens nach der Latinumsprüfung im Februar.

  • Die Sammlung "Meine wichtigsten Körperfunktionen" redigieren und um eine mir bis jetzt noch nicht deutliche, entscheidende Dimension bereichern. So Gott will, wird das mein nächstes Buch und eigentlich müßte es, nachdem alles besprochen war, jetzt schon lektoriert werden, aber der Verlag hat seit einer Weile seine ohnehin spärliche Korrespondenz mit mir gänzlich eingestellt.

  • Den neulich erwähnten Nachruftext recherchieren. Erste Anrufe haben eine romanreife (oder sagen wir "deutscherfernsehkrimireife") Verstrickung erkennen lassen (hier hätte man auch "Gemengelage" sagen können, wenn man wert darauf legt, von mir verachtet zu werden.) Ein mit fast hundert Jahren verstorbener Autor, dessen Wohnung ich aber nicht besichtigen darf, weil die 90jährige Schwester, die das Erdgeschoss desselben Hauses bewohnt, im Streit mit Frau Vampiro, der italienischstämmigen Pflegerin ihres Bruders liegt, die die Wohnung versiegeln lassen hat. Jetzt kann ich mir wieder überlegen, ob ich den Nachruf routinemäßig abwickle, und damit auf ca. 15 Euro Stundenlohn komme, oder ob ich Schwester und Pflegerin einzeln besuchen gehe und dazu die Bücher des Autors lese, um sein Leben in einen 120-Zeilentext zu pressen, wobei ich über das spannende gerichtliche Nachspiel, das mich im Moment am meisten interessiert, natürlich kein Wort verlieren darf. Aber immerhin hat mir Frau Vampiro in Aussicht gestellt, mich, wenn die Grundbuchfrage geklärt sein sollte, in die Wohnung zu lassen: "Sie konne da rreinschnuffeln." Das wäre dann ein dritter Besuch, und der Stundenlohn würde sich auf ca. 3 Euro senken.

Wenn man all diese beruflichen Attacken aus der sicher ausgebauten Stellung eines ereignislosen und emotional unaufwendigen Privatlebens fahren könnte, würde man sich nicht um mich beunruhigen müssen. Aber bei dem, was sich im Moment bei mir abspielt, kann es jederzeit zum Durchbruch der feindlichen Truppen durch meine Linien kommen. Dann hänge ich wieder von hereinsickernden SMS ab, wie der Kreislauf eines Todkranken vom Tropf. Und das alles, damit irgendwann einmal ein junger Zeitungsschreiber, der nichts von mir weiß und nichts von mir gelesen hat von meiner bulgarischen Pflegerin in meine Wohnung gelassen wird, um dort ein bißchen zu "schnuffeln", und noch auf dem Rückweg in der S-Bahn zu resümieren: "Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte Jochen Schmidt zurückgezogen von der Öffentlichkeit in den Wänden seiner Berliner Wohnung, in der die Zeit stehen geblieben zu sein schien. Er war müde geworden vom gesellschaftlichen Leben, müde auch von den periodisch wiederkehrenden Auseinandersetzungen mit dem weiblichen Geschlecht, aus denen er jedesmal körperlich weiter geschwächt, aber mit einem neuen Manuskript in der Hand hervorgegangen war, Manuskripten, die natürlich längst niemand mehr druckte. Die Zeit war über ihn hinweggegangen, nur noch wenige Spezialisten erinnerten sich seiner. Mit 120 Jahren hat ein Autor auch die letzten der Leser, die ihn von seinen Anfängen her begleitet haben, an den Tod verloren. Sich so ein Leben vor Augen zu führen, mit seinen Eitelkeiten, Erfolgen, Niederschlägen und Verletzungen, macht demütig. Dieser Erfahrung sollten wir uns aber stellen, halten wir uns also ein wenig bei Jochen Schmidt und seinem Schicksal auf, und nehmen sein Beispiel zum Anlaß, unser eigenes Glück wieder zu schätzen zu lernen."

Seite 69-90 Wir sind immer noch auf der Soirée der Prinzessin von Guermantes. Marcel wurde dem Prinzen, ihrem Mann, noch nicht vorgestellt. Auch Madame d'Arpajon, die nächste Hoffnungsträgerin, die das übernehmen könnte, fällt aus, zumal Marcel ihr Name nicht einfallen will. Gelegenheit für Gedanken zum Mysterium der Gedächtnisarbeit, bei denen mir wieder einfällt, daß ich doch gerade vor ein paar Tagen so verzweifelt den Namen dieses Redakteurs vom TIP gesucht hatte. Was ich dabei durchgemacht habe, wird von Proust sehr schön beschrieben. Der Name war weg. "Dennoch war er da [..] Ich verspürte ungefähr seinen Umfang, sein Gewicht, aber was seine Form anlangte, so mußte ich mir, wenn ich sie mit dem düsteren Gefangenen, der sich im Dunkel meines Innern barg, verglich, immer wieder sagen: 'Der richtige ist das noch nicht.'" Mein Gedächtnis als Gefängnis, in dem Lebenslängliche, vergessen von der Welt, schmachten, bis ein autobiographisches Projekt vorbeikommt und wie die Delegation einer internationalen Menschenrechtsorganisation eine Inspektion durchführt.

Er könnte sich viel schwierigere Namen ausdenken, als den, der ihm nicht einfällt, aber: "Jede Tätigkeit des Geistes ist leicht, wenn sie nicht der Wirklichkeit untergeordnet werden muß." Man könnte natürlich so frei sein, und immer irgendeinen Namen verwenden, der einem besser zu passen scheint. Das Verfahren des Ausbilders in "Full metal jacket". Aber man forscht und bohrt und stellt Hypothesen auf, "Etappennamen", und wie und ob wir von ihnen aus schließlich zum richtigen Namen gelangen, ist ganz unergründlich, da sie mit diesem gar nichts zu tun haben. Als Autor kann man aber auch aus solch einem ärgerlichen Defekt noch einen Nutzen ziehen, denn die Dialektik der Erkenntnis liegt ja darin, daß nur wer an Schlaflosigkeit leidet sich Gedanken über das Wesen des Schlafs macht, und: "Ein lückenloses Gedächtnis ist kein sehr mächtiger Anreger, um die Phänomene des Gedächtnisses zu studieren."

Jedenfalls stellt die Madame d'Arpajon Marcel nicht vor, sie ist auch ganz in Anspruch genommen von der Erscheinung ihrer Nachfolgerin im Herzen des Herzogs von Guermantes, der Herzogin von Surgis-le-Duc, die auf einem Balkon posiert: "Unter dem leichten Tüll, der sie vor der nächtlichen Kühle schützte, erkannte man den geschmeidigen, den beschwingten Leib einer Siegesgöttin." Deren Sturz natürlich schon in den Kalendern des Schicksals verzeichnet steht. Ein komisches Bild, wenn man sich das Herz eines Mannes vorstellt, in dem sich die Geliebten ablösen, entweder mit einer geordneten Büroübergabe, oder per Räumungsbefehl, bis man dann, eines Tages, ein beschwingtes Ehemaligentreffen veranstaltet, das unter dem Zeichen der Versöhnung und dem gemeinsamen Lästern über die aktuelle Göttin steht.

Später wird die Madame d'Arpajon zu allem Unglück durch einen lauen Windstoß von der Wassersäule des Springbrunnens überflutet und völlig durchnäßt. Daraufhin erhebt sich "ein rhythmisches Grollen, so stark, daß eine ganze Armee es hätte hören können, doch im Wechsel an- und abschwellend, so als wende es sich nicht an alle zusammen, sondern nacheinander an jede einzelne Kompanie." Dieses Grollen ist das Lachen des Großfürsten Wladimir, womit nach den Deutschen, auch die Russen in ziemlich grobkörniger Weise charakterisiert worden wären. Für ihn war die durchnäßte Madame "eine der lustigsten Sachen, erklärte er späterhin gern, denen er jemals in seinem Leben als Zuschauer beigewohnt hatte." Kein Wunder beim schwer nachvollziehbaren Humor der zur damaligen Zeit gedruckten russischen Humoristen.

Die Herzogin von Guermantes läßt beim Betreten des Salons in ihren Augen "geistvolle Flammen aufzucken", sobald sie einen Freund begrüßt, behält den Ausdruck bei großen Empfängen, wie diesem, aber permanent bei, weil sie es "ermüdend gefunden hätte, jedesmal inzwischen das Licht erlöschen zu lassen." "Ein Feinschmecker der Literatur, der ins Theater geht, um eine Neuschöpfung eines Meisters der dramatischen Kunst anzusehen, bezeugt ebenfalls eine Gewißheit, keinen schlechten Abend zu verbringen, dadurch, daß er, während er noch seine Sachen der Garderobiere übergibt, schon die Lippen zu einem klugen, verstehenden Lächeln kräuselt und seine Blicke in einer durch Boshaft gewürzten Art der Anerkennung belebt." Wenn das kein Spitzweg-Tableau ist!

Die oberflächliche Freundlichkeit hermetischer Kreise. Vielleicht nur ein Mißverständnis, wenn man darüber gekränkt ist, die Regeln sind ja klar definiert: "'Aber Sie sind doch dasselbe wie wir, wenn nichts Besseres', schienen durch alle ihre Handlungen die Guermantes ausdrücken zu wollen; sie sagten es in der nettesten Art, die man sich vorstellen kann, damit man sie liebte, bewunderte, doch nicht, damit man ihnen glaubte; daß man den rein fiktiven Charakter dieser Liebenswürdigkeit durchschaute, galt in ihren Augen als ein Zeichen der Wohlerzogenheit; diese Liebenswürdigkeit für echt zu halten, galt als schlechte Erziehung."

Unklares Inventar: - Springbrunnen von Hubert Robert.

  • Anaphylaxie.
  • "Er ist schon versehen worden."

Verlorene Praxis: - Sich bei der ersten Begegnung durch "eine eindrucksvolle Kundgebung der Gleichgültigkeit", in dem Wunsch, später die Beziehung voranzutreiben, "den Vorteil einer Eingangsattacke sichern, so wie die Souveräne, bevor sie eine diplomatische Aktion beginnen, diese durch eine militärische zu untermauern belieben."

  • Eine Frage kurz beantworten, da sie nur aus Liebenswürdigkeit gestellt wurde.
  • "Balsam auf das Inferioritätsbewußtsein derer zu gießen", die sich unter einem befinden.

Selbständig lebensfähige Sentenz: - "Es ist viel schwieriger, ein Meisterwerk zu verschandeln, als es hervorzubringen."

  • "...auf dem Grunde unserer freundschaftlichen oder auch nur rein gesellschaftlichen Beziehungen [besteht] eine vorübergehend geheilte, aber anfallsweise wiederkehrende Feindseligkeit."

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