Schmidt liest Proust
Mittwoch, 11. Oktober 2006

Berlin - III Die Welt der Guermantes - Seite 588-608

Zum ersten mal dienstlich im DT gewesen, und es war natürlich ernüchternd, obwohl sich ein Kreis schloß. In den 80ern, wo ich ständig im Theater war, wäre Kritiker mein Traumberuf gewesen, weil ich damals das Privileg, umsonst an Karten zu kommen, wohl stark überschätzt habe. Hauptdarsteller, Regisseur, Autor und Kritiker, so viele dieser Funktionen wie möglich wollte ich damals auf mich konzentriert sehen. Dabei konnte ich nicht mal sächsisch nachmachen, hatte noch nie erreicht, daß jemand meine Anweisungen befolgte, war zu faul zum schreiben und sah, wenn ich ehrlich war, am liebsten fern. In der Schule mußten wir einen Aufsatz zu einem freien Thema schreiben, und ich hatte die Aufgabe wieder bis zum letzten Moment vor mir hergeschoben. Es war mir schon damals unmöglich, irgendetwas zu tun, bevor es dafür zu spät war, das muß am System gelegen haben. Am Abend vor der Abgabe ging ich ins DT, in "Die Fliegen" von Sartre, und mir blieb nichts anderes übrig, als meinen Aufsatz über das Stück zu schreiben. Ich brauchte die halbe Nacht, es war eine elende Quälerei, mir fiel plötzlich auf, daß ich gar nicht deutsch konnte und ständig verfiel ich in diesen altklugen Theaterkritikerton. Ich hatte das Stück zwar schon mehrmals gesehen, und sogar einmal gelesen, aber immer noch keine Ahnung, worum es eigentlich ging. Wir waren einfach begeistert vom ekligen Bühnenbild gewesen, dessen Highlight eine riesige an der Wand klebende Fliege war. Und die Erinnyen zischten so morbide. Es wurde viel geschrieen, und wie immer im Theater wurde es gegen Ende etwas zäh und man war froh, wenn der Vorhang endlich fiel, vielleicht schaffte man ja eine Bahn früher und konnte noch ein bißchen fernsehen.

Diesmal litt ich auch wieder mit bei dieser demütigenden Applauszeremonie, wenn die Schauspieler einzeln vortreten müssen, um sich ihre Beurteilung abzuholen, und sich bei den einen Jubelrufe ins Klatschen mischen, während es bei den anderen merklich stiller wird. Es war zwar eine Premiere, aber alle sahen sehr bedrückt aus. Es gab wie so oft eine Gruppe Schauspielstudenten in Nebenrollen, denen man auf der Schauspielschule schon diese hysterische Art antrainiert hatte, mit höchster körperlicher Spannung dem ganz normalen Dialogtext eines anderen "aufmerksam zu folgen". Sie wanken auch immer so eigenartig breitbeinig voran, als fürchteten sie, jederzeit von einer Flutwelle weggespült zu werden.

Ich muß inzwischen bei solchen subventionierten Kulturereignissen immer etwas zwanghaft durchzählen, wieviel Zuschauer gekommen sind und ausrechnen, wie hoch der Eintrittspreis sein müßte, damit man unter normalen Bedinungen alle Beteiligten anständig bezahlen könnte. Subvention ist doch Wettbewerbsverzerrung, wenn nicht Diebstahl, sage ich, solange ich selbst nicht davon profitiere. Ich sage ja nicht, daß Theater insgesamt abgeschafft gehören, Puppentheater erfüllt z.B. ganz zweifellos seinen Zweck, aber beim Erwachsenentheater würde ich zumindest behaupten, daß es sehr schnell niemand mehr vermissen würde.

Das war damals natürlich anders. Es ist oft gesagt worden, in der DDR hatte man im Theater ein bißchen Luft zum atmen, die verstärkte Aufmerksamkeit des Publikums war spürbar, man genoß das Gefühl, daß man mit denen da oben in einem Boot saß, und sie sich stellvertretend für uns Sachen herausnahmen, die man sich selbst nicht traute. Außerdem lebten sie ein etwas glanzvolleres Leben, um das man sie beneidete. Aber es kam auch noch dazu, daß sich am DT die besten Schauspieler des Landes sammelten, fast jeder hatte seinen eigenen Stil entwickelt, einen Manierismus, mit dem er seine Rollen spielte. Man erkannte sofort, ob jemand dort hinpaßte oder nicht, ob er ein echter DT-Schauspieler war, oder nur ein angestrengter Rezitator. Wenn ich mir das Informationsheft des Theaters jetzt angucke und - wie ich in den 90ern noch lange in Drittligamannschaften nach Namen aus der DDR-Oberliga gesucht habe-, nach mir bekannten Namen suche, sind nur wenige von früher geblieben, und nicht unbedingt meine Favoriten.

In der Wendezeit standen wir einmal an einem Sonnabendnachmittag vor dem DT in der Vorverkaufsschlange für den nächsten Monat, als Ulrich Mühe eine Bockwurst essend aus dem Theater kam. Er blieb auf dem Vorplatz stehen und aß seine Wurst zuende, dann warf er die Pappe in einen Mülleimer. Als er weg war diskutierten wir ernsthaft, ob wir die Pappe wieder herausfischen und aufbewahren sollten, so sehr verehrten wir das Theater und diesen Schauspieler.

III Seite 588-608 Man könnte vielleicht noch einmal darauf hinweisen, daß Proust die Gespräche dieses nun schon über 100 Seiten andauernden Salonbesuchs bei Madame de Guermantes wiedergibt, ohne Marcel jemals selbst in der wörtlichen Rede zu zitieren. Wenn dieser, selten genug, auch einmal etwas sagt, dann heißt es: "Ich gab zu verstehen, daß..." Warum er das so macht, ist mir noch nicht ganz klar.

Nur die Plumpheit des Herzogs und die Sottisen seiner Frau machen das Gerede halbwegs erträglich. Z.B. hier, als Oriane ihren Mann unterbricht: "Gereizt durch diese Unterbrechung nahm der Herzog seine Frau ein paar Sekunden unter das Feuer eines drohenden Schweigens."

Die neueste abgelegte Geliebte des Herzogs ist die anwesende Madame d'Arpajon. Oriane hat natürlich kein Mitleid mit ihr. Als es heißt, die d'Arpajon schwärme für Dichtkunst, berichtigt Oriane: "Nein, sie versteht absolut nichts davon [..] Sie wird literarisch, seitdem sie sich verlassen fühlt [..] zu mir kommt sie jedesmal und jammert, wenn Basin sie nicht besucht, das heißt fast alle Tage. Dabei kann ich doch nichts dafür, wenn sie ihm langweilig wird; ich kann ihn nicht zwingen, zu ihr zu gehen, obwohl mir lieber wäre, er hielte treuer zu ihr, denn dann müßte ich sie weniger häufig sehen." Man kann nur die Gelassenheit bewundern, mit der man in diesen Kreisen dem Thema Fremdgehen begegnet ist. Das wäre vielleicht die These wert, daß das Bürgertum keineswegs zur Lockerung der Sitten beigetragen hat, sondern Partner im Gegenteil, viel verkrampfter als der Adel, als Besitztum definiert.

Marcel gefällt die zupackend bösartige Wortwahl Orianes, für ihn liegt darin "...der ganze provinzielle Ursprung eines Teils der Familie Guermantes, der, länger bodenständig, auch kühner, ungezähmter und herausfordernder geblieben war..." Ein Adel, der "lieber mit seinen Bauern als mit Bürgern auf gleichem Fuße verkehrt." Ihre Rede strömt für ihn knapp und klar "als wenn man ein altes Volkslied hört." Ihr Geist gefällt ihm, weil er "die verführerische Kraft geschmeidiger Körper hatte behalten können, die durch keine nagende Gedankenarbeit, keine seelische Beunruhigung oder Nervenreizung verändert worden sind."

Sein Eintreten in die Gesellschaft verschafft ihm eine Art zweiter Existenz, nämlich den Marcel, als den ihn die Gesellschaft sieht. Das zeigt sich am deutlichsten bei Mißverständnissen und falschen Einschätzungen. Es gibt diese Fälle von leichten, fein nuancierten "unwillkürlichen oder gewollten Irrtümern, die unseren Namen auf der Kartothekkarte begleiten, welche die Gesellschaft für uns angelegt hat." Man wird dann solche Verwechslungen nicht mehr los und hat in Zukunft zwei Existenzen, die eigentliche und die gesellschaftliche: "Daß ich mit den Chaussegros eng befreundet wäre, war zwar wörtlich genommen ein Unsinn, gesellschaftlich gesehen aber entsprach es meiner Stellung..." Das ist gar nicht so ärgerlich, wie es scheint: "Und schließlich wird für Nichtkomödianten die Langeweile, immer in der gleichen Person zu leben, einen Augenblick ebenso durchbrochen, als wenn sie die Bühne beträten, sobald eine andere Person sich von ihnen eine falsche Vorstellung macht und meint, sie seien mit einer Dame befreundet, die sie gar nicht kennen, der sie aber im Laufe einer bezaubernden Reise begegnet sein sollen, auf die sie sich niemals begeben haben."

Was Orianes Salon zu solch einem erlesenen Ort macht, wird zumindest aus den Gesprächen seiner Besucher nicht deutlich. Man lästert und handelt die neuesten Themen aus Kunst und Literatur ab. Man spricht über Hugo (welche seiner Phasen ist noch akzeptabel?) und über Elstir, den der Herzog, obwohl er seine Bilder besitzt, im Grunde gar nicht schätzt. Swann hatte ihnen zu dieser Anschaffung geraten: "Swann hatte tatsächlich die Stirn, uns zum Kauf des Spargelbunds zu raten. Wir haben das Bild daraufhin sogar ein paar Tage im Hause gehabt. Es war nichts weiter als das darauf, ein Bund Spargel, genau wie der, den wir gerade schlucken, die Spargel von Herrn Elstir aber habe ich nicht geschluckt. Er verlangte dreihundert Francs dafür. Dreihundert Francs für ein Bund Spargel! Einen Louisd'or höchstens sind sie wert, und auch das nur, solange es noch die ersten sind."

Katalog kommunikativer Knackpunkte: - "...während ein illusionsloses Lächeln die schmerzlich geschwungene Linie ihres Mundes kräuselte..."

  • Ein General rührt, als der Name Zola fällt, keinen Muskel seines Gesichts: "Die Anti-Dreyfus-Gesinnung des Generals ging zu tief, als daß er noch versucht hätte, ihr durch sein Mienenspiel Ausdruck zu geben."
  • "...sie bewegte dabei leicht ihren Federfächer in dem Bewußtsein, von dem sie in diesem Augenblick beseelt war, ihren Pflichten im Salon bewundernswert nachzukommen..."

Verlorene Praxis: - Sich von seinem Geliebten einen Vers auf den Fächer schreiben lassen.

Selbständig überlebensfähige Sentenz: - "Dieser Ausspruch Blochs hatte an sich kein besonderes Interesse, aber ich erinnerte mich daran als einen Beweis, daß man im Leben unter der Einwirkung einer außergewöhnlichen Erregung tatsächlich manchmal sagt, was man denkt."

  • "...denn schließlich gibt es alles in allem mehr untröstliche Liebhaber als Ehemänner."
  • "Nicht jeder möchte auf dieselbe Weise beweint sein, jeder hat auch darin seinen speziellen Geschmack."

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