Schmidt liest Proust
Dienstag, 3. Oktober 2006

Berlin - III Die Welt der Guermantes - Seite 416-437

Man muß auch mal das Positive betonen, dachte ich, und bekam, weil der Versuch, eine ausreichend lange Liste von Dingen, über die ich im Moment glücklich sein sollte, zusammenzustellen, sich als anstrengend erwies, schlechte Laune:

  • Das neue rote Küchenmesser.
  • Youtube.
  • Daß keiner über mir wohnt.
  • Daß ich nur noch 73 Kg wiege.
  • Der Uhu-Sekundenkleber, mit ich den Kinderteller wieder reparieren konnte.
  • Daß ich nicht mehr fernsehe (seit Januar).
  • Flash-Speichersticks.
  • Daß ich mein Abi schon in der Tasche habe.
  • Daß ich die eine Zecke in diesem Sommer noch gesehen habe, bevor sie zubeißen konnte.
  • Daß ich nicht Verkäuferin geworden bin.
  • Daß ich keinen Helicobacter habe.
  • Kartoffeln.
  • Acesal.
  • Elektrische Zahnbürsten.
  • Daß ich kein römischer Sklave bin.
  • Comics von Drawn&Quarterly

Ich weiß, daß klingt jetzt nicht viel, aber mir fehlt einfach die Zeit für sowas.

Seite 416-437 Ein Sonntag im Herbst, nach der Aufregung um die Großmutter läßt der kühle Morgennebel Marcel wieder aufleben: "Der Nebel hatte sofort beim Erwachen aus mir, anstelle des zentrifugalen Wesens, das man an schönen Tagen ist, einen auf sich bezogenen, nach einem warmen Winkel am Feuer und einem Bett, das eine Frau mit mir teilte, lechzenden Menschen gemacht, einen fröstelnden Adam auf der Suche nach einer in dieser so veränderten Welt fest verankerten Eva." Heute geht man an solchen Tagen ins Kino, aber ihm genügt es, auf dem Bett zu liegen und, während die neue Dampfheizung ab und zu eine Art von Schluckauf von sich gibt, in seinem Gedächtnis Erinnerungsbilder zu betrachten. Zudem hat er schon eine Verabredung mit dem bretonischen Fräulein von Stermaria aus Balbec sicher, auf Saint-Loups Vermittlung. Saint-Loup hat ihm geschrieben, er könne sie ruhig in ein Separée führen, denn sie sei "entzückend im Umgang."

Saint-Loup hat sich übrigens endlich von Rahel getrennt und schickt ihr nur noch Geld. Ihre Bitten darum erzeugen "eine Windstille im Leiden des Eifersüchtigen", denn sie bedeuten ja, daß sie noch keinen neuen Gönner hat. "Wenn man seine Geliebte verläßt, möchte man, daß sie, bis man sie vergessen hat, nicht in den Besitz von drei oder vier Gönnern übergehe, die man sich vorstellen kann, auf die man also eifersüchtig ist; alle, die man sich nicht vorstellt, zählen nämlich nicht." Man zahlt also freudig "bis man sich selbst ein wenig erholt hat und ohne Schwächeanwandlung den Namen des Nachfolgers zur Kenntnis nehmen kann."

Wenn man alleine auf jemanden wartet, zieht sich die Zeit in die Länge: "Müde, ergeben, auf Stunden noch mit seiner ewigwährenden Aufgabe beschäftigt, wob der graue Tag an seinem Perlmuttergespinst, und ich stellte mir traurig vor, wie ich mit ihm allein zusammenbleiben würde, der mich so wenig kannte, wie eine Näherin, die nahe am Fenster sitzend, um bei der Arbeit besser zu sehen, von der sonst im Zimmer befindlichen Person keine Notiz nimmt." Aber er hat es gar nicht nötig, sich zu erheben, um in Kontakt mit "einer festverankerten Eva" zu kommen, denn überraschenderweise tritt unangemeldet, und ohne zu schellen, Albertine ein, die für ihn bisher nur zu Balbec gehört hat. "Wenn wir eine Person wiedersehen, zu der unsere – auch noch so belanglosen – Beziehungen sich geändert haben [findet jedesmal] eine Gegenüberstellung zweier Epochen statt." Es reicht auch schon, daß die Person aus ihrer Rolle tritt, wenn man einer Lehrerin in der S-Bahn begegnet, dem Psychiater beim Gemüsehändler, oder man die Kellnerin nach Dienstschluß in ihrer Privatkleidung sieht.

Er liebt sie allerdings nicht mehr. Zum Glück weiß sie nicht, was das für den Eindruck bedeutet, den sie auf ihn macht: "Im übrigen erschien sie mir sogar rein physisch betrachtet, wenn meine Phantasie sie nicht vor dem Horizont des Meeres auf- und niedersteigen sah, wie eine recht ärmliche Rose, vor der ich gern die Augen verschlossen hätte, um nicht diesen oder jenen Makel an den Blütenblättern zu erkennen, sondern vielmehr zu glauben, ich atme die Seeluft am Strande ein." Es ist ja nun nicht das erste mal, daß er an den Frauen, die sich ihm nähern, zu mäkeln hat. Mit dieser ärmlichen Rose wird er aber noch einiges erleben, wie wir ja schon wissen. Und er selbst bedauert im Voraus, sich so auf sie eingeschossen zu haben: "Sicher ist es vernünftiger, sein Leben an Frauen als an Briefmarken, alte Schnupftabakdosen oder sogar Bilder und Statuen zu wenden. Nur sollte uns das Beispiel dieser anderen Sammlungen zum Wechsel veranlassen, zu dem Prinzip, nicht nur eine einzige Frau zu haben, sondern viele Frauen." Lieber Frauen sammeln als Schnupftabakdosen? Man sollte zumindest einmal darüber nachgedacht haben. "Jedenfalls kann ich hier nur bedauern, daß ich nicht einsichtsvoll genug gewesen bin, mir einfach eine Frauensammlung zuzulegen, so wie man alte Lorgnetten zusammenträgt, von denen eine Vitrine nie zuviel enthält: immer wartet ein leerer Platz auf eine neue, noch erlesenere." Ob der Vergleich mit den Lorgnetten es besser trifft?

Daß er Albertine nicht mehr liebt und als recht ärmliche Rose empfindet, und außerdem schon mit dem Fräulein von Stermaria verabredet ist, hindert ihn nicht daran, sie dringend küssen zu wollen (natürlich nur, weil gerade keine andere da ist). Aber "nichts verhindert so erfolgreich wie intensives Wünschen, daß die Sachen, die man sagt, auch nur im entferntesten denen gleichen, die man denkt." Worauf gründet sich überhaupt seine "optimistische Hypothese", sie könnte, sich, anders als noch in Balbec, von ihm küssen lassen? Ganz einfach, er hat an ihr "Umwälzungen" festgestellt, was er aus ihrem Wortschatz schließt. Sie benutzt jetzt Wörter, wie "exquisit", "Auslese", und "Zeitspanne". Reicht das, um zu schließen, daß einen eine Frau küssen will? "Freilich hatte Albertine schon, als ich sie in Balbec traf, über jenen ansehnlichen Vorrat von Wendungen verfügt, der beweist, daß man aus einer wohlsituierten Familie stammt, einen Vorrat, den die Mutter von Jahr zu Jahr bei ihrer Tochter mehrt, so wie sie ihr, je erwachsener sie wird, bei wichtigen Gelegenheiten nach und nach ihren Schmuck überläßt." Hat man keine wohlsituierte Familie gehabt, und vielleicht nicht mal eine gute Ausbildung, bleibt einem als Frau immer noch ein Weg, doch noch in Besitz von Wörtern zu gelangen: "Zweifellos kommt es vor, daß wenig kultivierte Frauen, die einen hochgebildeten Mann heiraten, solche Wendungen von ihm als Morgengabe erhalten."

Als Albertine "meines Erachtens" sagt, zieht er sie zu sich aufs Bett. Und selbst ein Wort, wie "Musmeh", bei dem er sonst die gleiche Art von Zahnweh verspürt "wie wenn man ein zu großes Stück Eis in den Mund genommen hat", kann ihm bei ihr nichts anhaben. (Aber was bedeutet "Musmeh"?) Nein, er geht aufs ganze und kleidet seine schmutzigen Begierden geschickt in ein harmloses Angebot: "- Stellen Sie sich vor, ich bin überhaupt nicht kitzlig, Sie können mich eine Stunde lang kitzeln, ich spüre nichts davon!

  • Aber nein!
  • Wenn ich es Ihnen doch sage. [..]
  • Soll ich es einmal versuchen?
  • Wenn Sie wollen? Aber es wäre dann bequemer, wenn Sie sich auch auf meinem Bett ausstreckten.
  • Ist es so recht?
  • Nein, Sie müssen sich richtig hinlegen.
  • Ob ich nicht zu schwer bin?" Wir werden uns diese Strategie merken und bei Gelegenheit einer Prüfung unterziehen.

Der Nachteil am Reichsein ist, daß man nie allein ist, weil die Dienerschaft einen ständig belästigt. Ausgerechnet in diesem Moment tritt nämlich Françoise mit der Lampe ein und macht eine zweideutige Bemerkung. Vielleicht hat sie auch am Schlüsselloch geguckt und den richtigen Moment abgepaßt. Sie hat ja die hohe Kunst entwickelt, aus den wenigen Gesprächsfetzen und Einzelheiten, die sie vom Leben ihrer Herrschaft mitbekommt, auf den Rest zu schließen. Und sie hat, wie Künstler, die die Tyrannei eines Monarchen, einer Poetik oder einer Staatsreligion knebelt, die Kunst entwickelt, auch, wo sie eigentlich nichts sagen darf, alles zu sagen: "Sie verstand alles, was sie nicht unmittelbar sagen konnte, in einen Satz hineinzubringen, den wir nicht als ein Vergehen anprangern konnten, ohne uns selbst zu bezichtigen, in weniger sogar als einen Satz, in ein Schweigen, in eine bestimmte Art, einen Gegenstand hinzulegen." Als sie fort ist, sagt Marcel zu Albertine: "Wissen Sie, ich habe vor allem Angst, wenn wir es so weitertreiben, daß ich Sie schließlich unbedingt küssen muß." Wie aufmerksam von ihm, sie zu warnen. Sie hat aber anscheinend gar nichts dagegen. Trotzdem tut er es nicht, denn für ihn ist "die Überzeugung, daß ein Kuß auf Albertines Wangen im Bereich des Möglichen lag, ein noch größeres Vergnügen, als sie wirklich zu küssen." Da hat sie wohl aufs falsche Pferd gesetzt.

Unklares Inventar: - Eine Musmeh.

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