Schmidt liest Proust
Samstag, 21. Oktober 2006

Berlin - IV Sodom und Gomorra - Seite 90-110

Wir haben das Angebot, bei der "Chaussee der Enthusiasten" für sechs Wochen eine Praktikantin zu beschäftigen, und nun überlegen wir, welche Aufgaben sie uns außer dem Kochen von Kaffee für die Zuschauer abnehmen könnte, sofern ihr neben dem stündlichen Löschen der Spam-Einträge aus unserem Internet-Gästebuch noch Zeit bleibt. Sie könnte z.B., wenn einer von uns eine Schreibkrise hat, ihn, wie der Karatelehrer in "Pink Panther", heimlich überallhin verfolgen und dafür sorgen, daß bei ihm alles im Leben schiefgeht, damit er am nächsten Donnerstag in der Show etwas zu berichten hat. Wenn noch Zeit bleibt, könnte sie ihn auch in sich verliebt machen und grausam behandeln, das ist ja ein bewährtes Mittel, einem Mann die Zunge zu lösen.

Etwas wissenschaftlicher wäre vielleicht die Aufgabe, das Phänomen der Bleistiftfluktuation in meiner Wohnung zu untersuchen. Es ist nämlich zwar so, daß sich inzwischen bei mir ein relatives Bleistiftgleichgewicht hergestellt hat, daß also an allen strategischen Punkten immer ein Bleistift liegt, das heißt aber nicht, daß sich innerhalb dieses Gleichgewichts nichts bewegen würde, ich bin im Gegenteil immer wieder erstaunt, wo plötzlich welcher Bleistift auftaucht. Das kann mir aber nur auffallen, weil die Bleistifte fast alle eine andere Farbe haben. Es ist wie bei einem chemischen Gleichgewicht, wo ständig zwei Reaktionen hin und zurück ablaufen, und man, wenn man das Massenwirkungsgesetz kennt, allerhand ausrechnen kann, was man im Leben nie braucht. Der Lehrer hatte dafür ein Bild, mit dem er Jahr für Jahr den Schülern das Prinzip dieses Gesetzes erklärte, und das ich erst ca. zehn Jahre nach dem Abitur plötzlich verstanden habe. Eine Turnhalle (wieso Turnhalle?) in die man durch eine Luke guckt (warum sollte man das tun?), und in der sich an der Wand entlang eine ununterbrochene Reihe Kugeln befindet (so etwas gibt es doch gar nicht...) Wären die Kugeln weiß, würde man nicht sehen, daß die Reihe sich ständig im Kreis bewegt (man sieht es doch trotzdem, wenn man genau hinguckt...) Da aber ein paar rote Kugeln unter den weißen sind, sieht man, wenn man durch die Luke zufällig ein Kugelkettensegment mit roter Kugel erspäht, wie die rote Kugel sich fortbewegt, und damit auch die weißen. (Aber was hatte das mit Chemie zu tun? Wieso war das eine Erklärung dafür, daß man in den Formeln der chemischen Reaktionen plötzlich zwei Pfeile statt einem hinmalen mußte?)

Jedenfalls befand sich heute völlig überraschend der weiße InterCityHotel-Bleistift aus Magdeburg in meinem Proust, obwohl ich mir doch gerade zwei Grip-2001-Bleistifte von Faber Castell geleistet hatte, von denen der eine aber inzwischen als Lesezeichen im Kalender steckt und der zweite in meinem Hintern im Bücherregal, als Aufhängung für den Hampelmann. Weitere wichtige Bleistifte in meinem Leben: der Bleistift, der jahrelang den Lautstärke- und Anschaltknopf unseres Familienfernsehers fixierte, der einen Wackelkontakt hatte, so daß wir immer den Stecker ziehen mußten, statt den Knopf zu benutzen, trotzdem mußte man ihn immer wieder minutenlang ganz sachte anstupsen, wenn es knisterte. Weitere Provisorien in unserem Leben: die an einem Bambusstock über die teure und stümperhaft von einem Feierabendhandwerker ausgeführte Badkachelung gehängte dicke Plasteplane, die verhindern sollte, daß Wasser durch die Kacheln drang. Der mit einem um den Kassettenrekorder gewickelten Einweckgummi auf die nicht mehr einrastende Play-Taste gepreßte Radiergummi. Das 20-Pfennig-Stück, das man auf den Plattenspielerkopf legen mußte, damit er nicht bei jedem Schritt, den man im Zimmer machte, hochhüpfte. Die unser Haus umgebenden aus großen, quadratischen Platten zusammengesetzten Wohngebäude. Der diese Wohngebäude verwaltende, für Menschen unsichtbare, und, wenn die Berechnungen aus dem 19.Jahrhundert stimmten, nach Erfüllung seiner Aufgabe, uns alle glücklich zu machen, sich selbst abschaffende Staat.

Seite 90-110 Die Herzogin von Guermantes auf der Soiree ihrer Cousine, der Prinzessin von Guermantes, über deren Palais: "Das hier ist wundervoll zu Besichtigen, aber ich würde vor Traurigkeit sterben, wenn ich in Zimmern schlafen müßte, in denen sich so viele historische Begebenheiten zugetragen haben. Das kommt mir so vor, als sei man im Schloß von Blois, in Fontainebleau oder selbst im Louvre nach Schluß der Führung dageblieben und vergessen worden und könne sich als einziges Mittel gegen die Traurigkeit nur sagen, daß man in dem Zimmer weilt, in dem Monaldeschi ermordet worden ist. Aber ich muß bekennen, mir wäre ein Kamillentee lieber." Das war eigentlich schon der interessanteste Absatz für heute. Und man weiß nicht mal, was man auf so eine geistreiche Bemerkung erwidern soll, in der Wirklichkeit würde man in die allgemeine Begeisterung einstimmen, danach etwas verlegen gucken und schließlich fragen, ob noch jemand was zu trinken aus der Küche möchte.

Der Herzog über seine Frau: "'Oriane trägt oft, ich möchte sagen, affektierte Fühllosigkeit zur Schau. im Grunde gehen bei ihr alle Dinge sehr tief.' Entzückt über die Analyse ihres Charakters hörte ihn Madame de Guermantes mit bescheidener Miene an, sagte aber kein Wort, da sie Bedenken trug, in ihr Lob einzustimmen, vor allem aber, es zu unterbrechen. Monsieur de Guermantes hätte eine Stunde über diesen Gegenstand sprechen können, sie hätte sich so wenig gerührt, als ob sie Musik anhörte." Wunderbar! ... Möchte noch jemand was zu trinken?

Weil Swann sich in letzter Zeit offen für Dreyfus eingesetzt hat, ist er in den latent oder offen antisemitischen Kreisen der französischen Aristokratie nicht mehr opportun. Er gilt ohnehin als einziger Jude, der es in der Gesellschaft so weit gebracht hat. Die Herzogin, die sich doch eigentlich seine Freundin nennt, entzieht ihm ohne weiteres die Unterstützung, aber nicht offiziell, sondern in scheinheiliger Art: "Ich schwärme für Charles, und es würde mir großen Kummer machen, ihm etwas abzuschlagen, daher halte ich auch für besser, ich gehe ihm von vornherein aus dem Wege, damit er mich gar nicht erst darum bitten kann."

Unklares Inventar: - Monaldeschi.

Verlorene Praxis: - Ein eigenes Fest für diejenigen veranstalten, die man zu seinem eigentlichen Fest nicht einladen will, "damit sie sich untereinander vergnügten, was der Notwendigkeit enthob, sie etwa mit den richtigen Leuten zusammenzubringen."

  • Die Frauen mit der komischen Übertreibung eines Bonvivants der Revue lieben.
  • Plaudernd in einer vom eigenen Charme angezogenen Gruppe stehen.

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