Schmidt liest Proust
Freitag, 6. Oktober 2006

Berlin - III Die Welt der Guermantes - Seite 478-500

Seit mein Fernseher in der Kammer steht, müßte ich eigentlich unendlich viel Zeit haben, und trotzdem komme ich nicht mal dazu, meine to-do-Listen durchzulesen. Fernsehgucken war bestimmt immer mein eigentliches Talent, ich kann jeder Sendung etwas abgewinnen, das können nur ganz wenige, weil man offen für alles sein muß, wie ein Pfarrer, der sich jedem Mitglied seiner Gemeinde ganz persönlich zuwendet. Außerdem schaffe ich es, an einem Abend den Überblick über das Programm von dreißig Sendern zu behalten, ohne daß mir ein einziger interessanter Moment entgeht, das verlangt Instinkt und Erfahrung. Menschen, die über mein Interesse am Fernsehen die Nase gerümpft haben, konnte ich nie verstehen, die waren doch einfach nicht neugierig. Trotzdem war es mir immer peinlich, fernzusehen, und ich habe bei Anrufen den Ton leise gestellt, eine der vielen Inkonsequenzen in meinem Leben.

Es gab schöne Abende, wenn man sich bereits aufgegeben hatte und endgültig zuhause geblieben war. Manchmal kam dann nachts ein altes amerikanisches Biopic über den Erfinder der Pons-Wörterbücher mit Gary Cooper in der Hauptrolle, oder eine Zusammenstellung alter Dalli-Dalli-Folgen, Gelegenheit, endlos über die Veränderung der Welt zu staunen. Es war überhaupt immer das beste, wenn altes Fernsehen wiederholt wurde. Das ist genau, wie mit der Zeitung, sie sagen zwar: "Nichts ist so langweilig, wie die Zeitung von gestern", aber in Wirklichkeit ist es genau umgekehrt: "Nichts ist so langweilig, wie die Zeitung von heute". Dagegen ist die Zeitung von gestern ist eine berauschende Lektüre und Fernsehen von gestern eine verstörende Erfahrung.

Jetzt ist es abends ganz still in der Wohnung, weil ich mich gegen laute Nachbarn entschieden habe, da ich mich immer dagegen gesperrt hatte, mir vorzustellen, ich gehörte zu ihrer Familie und ihre Geräusche würden mir die beruhigende Botschaft zutragen, daß alle zuhause sind. Aber auch die Stimmen aus dem Apparat erklingen nicht mehr, die einem immer das Gefühl gegeben haben, zur Welt zu gehören und einem großen Gespräch beizuwohnen. Wie gerne habe ich am Freitag abend diese Kochsendung geguckt, bei der am Ende das Publikum alles aufessen durfte, ach, ich hatte freitags nie etwas zu essen im Haus, der Einkaufsrhythmus ließ es nicht zu. Umso lieber sah ich die Kochsendung und freute mich, daß andere nicht hungrig bleiben mußten. Jetzt habe ich meine Fernsehsucht überwunden, und wenn ich auch noch auf Kaffee verzichte, bin ich in jeder Beziehung clean. Aber es ist traurig, daß die ganzen Sendungen nun von mir unbemerkt bleiben werden, wie Scheintote, die metertief unter der Erde an ihre Sargdeckel hämmern. Das Fernsehen hat seinen besten Zuschauer verloren. Und ich glaube, es hat sich nie ganz davon erholt.

Seite 478-500 Die Absencen multiplizieren sich, auf der Treppe noch von Saint-Loups Gegenwart ausgelöste Erinnerungen an den Besuch in der Kaserne, und auf der Straße im Nebel schon Combray-Gedanken. Ihn erfaßt bei solchen Wiederbegegnungen ein "Begeisterungsrausch", der "wenn ich allein geblieben wäre, fruchtbar werden und mir den Umweg vieler unnützer Jahre hätte ersparen können, die ich so noch durchmessen mußte, bis die unsichtbare Berufung, deren Geschichte dies Werk hier ist endlich deutlich wurde." Er ist also schon nah daran gewesen, seine notorische Schreibblockade zu überwinden und zu sehen, welches Werk er aus sich schöpfen könnte, ist aber noch einmal abgelenkt worden, weil Saint-Loup neben ihm im Wagen Platz genommen hat: "Die Ideen, die mich heimgesucht hatten, verflüchtigten sich jetzt rasch. Sie sind wie Göttinnen, die zuweilen geruhen, einem einsamen Sterblichen an der Biegung des Weges sichtbar zu erscheinen, sogar in seinem Zimmer, in das sie, während er schläft, im Türrahmen stehend, ihm ihre Verkündigung tragen. Doch sobald man zu zweit ist, verschwinden sie; Menschen, die stets in Gesellschaft leben, bekommen sie nie zu Gesicht." Scheußliche Wahrheit, wie ein erbarmungsloser Urteilsspruch für jeden, der vorhatte, sich durch Schreiben auf die Menschen zuzubewegen. Aber Isolation muß ja auch nicht die einzige denkbare Methode sein. Vielleicht gibt es auch geselligere Arbeits- und Denkformen.

Man erreicht das Café-Restaurant. Während Saint-Loup noch mit dem Kutscher verhandelt, macht Marcel sich lächerlich, weil er nicht aus der Drehtür findet. Eigentlich eine Slapsticknummer, aber er gibt ihr einen besonderen Ton, indem er diese sich in einer Trommel bewegende Tür mit einem Revolver vergleicht (und sich selbst also mit einer Kugel, die ins Innere des Raums abgeschossen wird.) Was für ein Bild! Wir werden es uns anverwandeln. Der Wirt verkennt ihn natürlich und verweist ihn etwas rauh des für die Aristokratie reservierten Raums, um ihn auf einer Bank im großen Saal zu plazieren, vor eine Tür, die ständig auf und zugeht und Kälte einläßt.

Die jungen Aristokraten, die sich hier ihrem Hochmut hingeben, sind übrigens alle verschuldet und, da einträgliche Partien rar sind "...richteten insgeheim mehrere ihre Geschütze auf die gleiche eventuelle Braut."

Wovon man als Frau träumt, in jeder mißlichen Lage einen Retter zu finden, das leistet Saint-Loup für Marcel, denn kaum hat er das Café betreten, sorgt er schon dafür, daß sein Freund einen angemessenen Platz bekommt, und daß die todbringende, Zugluft einlassende Tür ein für allemal abgesperrt wird. Schließlich holt er von einem befreundeten Aristokraten einen Mantel herbei, bringt ihn, unter den Augen der staunenden Gäste spektakulär auf der Lehne der Bank balancierend, herbei, bremst "...seinen Schwung mit der Exaktheit ab, mit der ein Reitergeneral vor der Tribüne eines Herrschers sein Pferd zum Stehen bringt, und reichte mir höflich ergeben den Vigognemantel, den er gleich darauf, als er neben mir saß, ohne daß ich dabei eine Bewegung zu machen brauchte, als leichten warmen Umhang um meine Schultern breitete." Bei soviel Ritterlichkeit schmilzt man doch dahin.

Saint-Loup besitzt eben "...Sicherheit des Geschmacks auf der Ebene nicht des Schönen, sondern der Umgangsformen, welche einen Mann von wirklich elegantem Auftreten angesichts einer neuen Situation auf der Stelle – gleich einem Musiker, den man bittet, ein ihm unbekanntes Stück zu spielen – die richtige Empfindung und Gebärde, die sie erfordert, treffen und die Mechanik und Technik anwenden läßt, die hierfür am besten geeignet sind, dann aber auch diesem Geschmack selbst gestattet, sich ohne Beengung durch irgendeine sonstige Überlegung zu betätigen, durch die so viele junge Bürgersöhne sich gehemmt gefühlt hätten sowohl aus Furcht, in den Augen der anderen dadurch lächerlich zu erscheinen, daß sie gegen die Regeln des Anstands verstießen, als aus Besorgnis, in den Augen ihres Freundes übereifrig zu wirken –diese aber wurde bei Robert durch eine Nichtachtung ersetzt, die er nicht eigentlich in seinem Körper trug, da sie die Umgangsformen seiner Vorfahren zu einer Art von vertraulicher Herablassung geschmeidigt hatte, von der diese gemeint hatten, sie müsse unter allen Umständen denjenigen, an die sie sich wendete, schmeicheln und sie entzücken..." Das ist dieser eigenartige Reiz, den es hat, wenn ihres Rangs wirklich sichere Herrschaften auf die Umgangsformen pfeifen. Ich erinnere mich, bei einer Journalistenreise nach Hongkong, die im Anschreiben uns nahegelegte Bitte, in "business attire" zu erscheinen, aus Trotz (ich bin Autor und kann tragen, was ich will...), und weil ich keinen Anzug besaß, ignoriert zu haben, um mich dann vier Tage lang underdressed zu fühlen, bis ich am Tag der Abreise im Fahrstuhl dem Chef dieses eine halbe Milliarde Dollar teuren Hotels begegnete, und er mich, angesichts meiner grünen Kutte, fragte, ob es kalt in Berlin sei. Ich war eben nicht souverän darin, gegen die Regeln des Anstands zu verstoßen, sondern wie "viele junge Bürgersöhne" gehemmt.

Wenn Marcel nun diese überlegene Lässigkeit in seinem Freund verehrt, fragt er sich aber, ob das legitim ist, da es sich ja um eine Eigenschaft handelt, die über diesen persönlich hinausreicht, so daß eine solche Freude eher "dem Kunstgenuß verwandt" ist.

Unklares Inventar: - Havelock.

  • Vigognemantel.

Katalog kommunikativer Knackpunkte: - "War seine triumphierende Miene die, die wir annehmen, um unsere Verlegenheit beim Eingestehen einer Sache zu bemänteln, von der wir ganz genau wissen, daß wir sie nicht hätten tun dürfen?"

Verlorene Praxis: - Mit wütender Miene den Kopf in den Nacken werfen.

Selbständig überlebensfähige Sentenz: "...es ist sogar behauptet worden, das höchste Lob Gottes liege in der Verneinung des Atheisten, der die Schöpfung so vollkommen findet, daß er auf den Schöpfer verzichten zu können meint."

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